„Sie wären überrascht“, sagte Winn. „Den Leuten gefällt es hier. Es ist viel besser, als nach Hause zu gehen und ermordet zu werden.“
Ein schwarzer Geländewagen wartete vor der Hütte auf sie. Sie fuhren durch das Lager und passierten einen weiteren Zaun, der mit Stacheldraht versehen war. Eine Handvoll Männer saßen auf Bänken auf der anderen Seite. Vier oder fünf von ihnen waren Weiße. Ein paar von ihnen waren schwarz. Sie trugen alle hellgelbe Overalls. Sie starrten durch den Zaun auf das vorbeifahrende Auto.
„Diese Typen sehen nicht wie Mexikaner aus“, sagte Ed Newsam.
Pete Winns Gesicht begann sich zu verändern. Zuvor war es freundlich, vielleicht sogar etwas nervös gewesen, Luke und sein Team zu treffen. Jetzt schien es fast abweisend.
„Nein, das tun sie nicht“, sagte er. „Wir haben hier auch ein paar waschechte Amerikaner.“
„Verstecken sie sich vor den Kartellen?“, fragte Swann,
Winn starrte geradeaus. „Meine Herren, ich bin sicher, es gibt Aspekte Ihrer Arbeit, die Sie nicht diskutieren dürfen. Das gilt auch für mich.“
Nach einigen Minuten waren sie am Hubschrauberlandeplatz und den Verwaltungsgebäuden vorbei auf die andere Seite des Lagers gefahren. Der Wagen hielt an. Es war niemand in der Nähe – keine Häftlinge, keine Arbeiter, überhaupt niemand. Eine kleine Hütte stand allein auf einem einsamen Stück Gelände.
Die Männer stiegen aus. Der Boden war unfruchtbare, harte Erde. Jegliches Gefühl von Geschäftigkeit, oder überhaupt irgendeiner Art von Leben war hier nicht mehr zu spüren.
Pete Winn gab Luke einen Schlüsselring. Es befand sich nur ein Schlüssel dran. Winns Gesicht verhärtete sich. Seine Augen waren stählern und kalt. Sein Verhalten hatte sich drastisch gerändert, von dem unsicheren Mann, der sie auf dem Hubschrauberlandeplatz begrüßt hatte, zu dem, was er jetzt war.
„Die Existenz dieser Hütte ist streng geheim. Offiziell existiert sie nicht, ebenso wenig wie dieser Gefangene. Ihr Besuch hier hat nie stattgefunden. Die chinesische Regierung hat keine Nachforschungen über den Verbleib eines Mannes namens Li Quiangguo angestellt, weder offiziell noch durch die Hintertür. Meines Wissens haben die Chinesen so getan, als hätten sie nichts zu verbergen oder zu befürchten und haben sogar Hilfe angeboten, um die Quelle des Hacks in das Betriebssystem des Staudamms zu finden.“
Er gestikulierte mit dem Kopf zur Kabine.
„Die Wände der Kabine sind schalldicht. Der Schlüssel öffnet einen Geräteschrank im Hinterzimmer. Wenn Sie meinen, Sie brauchen Hilfsmittel, um Ihre Befragung zu erleichtern, werden Sie dort vielleicht fündig.“
Luke nickte, sagte aber nichts. Ihm gefiel die Annahme nicht, die diese Leute alle zu machen schienen, dass er hierher gerufen worden war, um den Gefangenen zu foltern.
Hatte er schon mal Menschen gefoltert? Je nach Definition des Wortes, ja. Aber niemand hatte ihn je dafür einberufen mit der expliziten Aufgabenstellung, jemanden zu foltern. Es gab Leute, die sich viel besser damit auskannten als Luke. Wenn er früher Leute gefoltert hatte, hatte es sich stets aus der Situation heraus ergeben und er hatte improvisieren müssen, um an kritische Informationen zu gelangen, die Luke sofort hatte erfahren müssen.
Pete Winn fuhr fort, wieder etwas entspannter.
„Wenn Sie etwas brauchen, Mittagessen, Bier, Abendessen, oder wenn Sie zurück zum Landeplatz wollen, nehmen Sie einfach das Telefon in der Kabine und wählen Sie die Null. Wir schicken Ihnen, was Sie brauchen. Wenn Sie möchten, können wir Sie auch heute Nacht hier unterbringen und Ihnen zur Verfügung stellen, was Sie an Pflegeartikeln brauchen. Seife, Shampoo, Rasierer – wir haben alles da. Wir können Ihnen auch Kleidung zum Wechseln besorgen, wenn Sie sie brauchen.“
„Danke“, sagte Luke.
„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe“, sagte Winn. „Viel Glück.“
Als er gegangen war, hielt Luke an, um mit seinen Männern vor der Hütte zu reden. Vor dem Lagerzaun türmten sich grüne Berge um sie herum auf. Das Lager schien sich in einem Talkessel zu befinden.
„Swann, wie viele Jahre warst du in China?“
„Sechs.“
„In welchem Teil?“
„Überall. Ich habe hauptsächlich in Peking gelebt, aber ich habe auch Zeit in Shanghai und Chongqing verbracht, auch ein wenig im Süden, in Guangzhou und Hongkong.“
„Okay, ich möchte, dass du den Kerl genau beobachtest und herausfindest, was du nur kannst. Egal was. Woher er kommen könnte. Wie alt er sein könnte. Sein Bildungsstand. Wie gut er sich mit Computern auskennt. Ob er überhaupt aus China stammt. Susan Hopkins' Leute haben mir gesagt, dass der Kerl fließend Englisch spricht. Wie stehen die Chancen, dass er hier in den Staaten, in Kanada oder Hongkong geboren wurde? Oder irgendwo anders. Chinesen gibt es überall.“
Swann schüttelte den Kopf. „Wenn der Kerl ein Agent ist, werde ich ihm diese Dinge nicht ansehen können. Er wird zu gut darin sein, seine Herkunft zu verbergen.“
„Sag mir einfach, was du denkst“, sagte Luke. „Das ist keine Matheaufgabe. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ich will nur deine Meinung hören.“
Swann nickte. „Verstanden.“
Luke schaute ihn etwas genauer an. „Wie zimperlich bist du?“
Er hatte sich noch nie Sorgen um Swanns Persönlichkeit gemacht, aber jetzt kam es ihn in den Sinn, dass er so etwas wie ein schwaches Glied sein könnte.
„Zimperlich? Wie meinst du das?“
„Ed und ich müssen da drin vielleicht etwas die Muskeln spielen lassen, wenn du verstehst.“
„Nun, sag mir einfach Bescheid und ich mache einen kleinen Spaziergang.“
„Wink den Scharfschützen zu, wenn du schon dabei bist“, sagte Ed Newsam.
Etwa hundert Meter entfernt stand ein dreistöckiger Wachturm. Luke und Swann warfen einen Blick darauf. Ein Mann mit einem Gewehr stand im obersten Stockwerk und zielte scheinbar auf sie. Aus dieser Entfernung sah es so aus, als hätte er das Gewehr direkt auf sie gerichtet und als hätte er sie mit seinem Zielfernrohr im Blick.
„Kann er uns von dort aus treffen?“, fragte Swann.
„Vermutlich im Schlaf“, erwiderte Luke.
„Er übt doch nur“, sagte Ed. „Ihm ist bestimmt todlangweilig.“
Sie betraten die Hütte.
Der Mann trug einen knallgelben Overall. Er saß auf einem Metallklappstuhl mitten in einem leeren Raum. Er war groß, hatte breite Schultern, dicke Armen und Beine und einen ausgeprägten Bauch.
Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Er war nach vorne gebeugt, als würde er schlafen. Mit der Kapuze über dem Kopf war es unmöglich, das zu erkennen.
Luke zog die Kapuze vom Kopf des Mannes ab. Der Mann zuckte scheinbar überrascht zusammen und setzte sich auf. Sein tiefschwarzes Haar war zerzaust – es stand an einigen Stellen in Büscheln auf, an anderen war es flachgedrückt. Unter der Kapuze trug er eine Schlafmaske – die Art, die man sich auf langen Flügen zum Schlafen aufzieht.
Er gähnte, als würde er von einem Mittagsschlaf erwachen.
„Li Quiangguo“, sagte Luke. „Ni hui shuo yingyu ma?“
Auf Mandarin bedeutete das so viel wie Sprechen Sie Englisch?
Der Mann lächelte breit. „Nennen Sie mich Johnny“, sagte er. „Bitte. Den Namen benutze ich hier im Westen. Und lassen Sie uns Englisch sprechen. Das macht es für alle einfacher, besonders für mich.“
Sein Englisch klang auf jeden Fall amerikanisch, jedoch vollkommen akzentfrei und mit kaum Anzeichen eines regionalen Dialektes. Luke glaubte, einen leichten Dialekt aus dem mittleren Westen feststellen zu können. Aber das war nur schwer zu beurteilen. Er hätte genauso gut von einem Raumschiff heruntergebeamt worden sein können.
„Warum macht es das einfacher für Sie?“, fragte Luke.
„Es schont meine Ohren. Dann muss ich nicht zuhören, wie Sie die schöne chinesische Sprache verunstalten.“
Jetzt lächelte Luke. „Sagen Sie mir, Li. Warum haben Sie sich nicht umgebracht, als Sie die Chance dazu hatten?“
Li sah übertrieben überrascht aus, fast angeekelt. „Warum sollte ich das tun? Ich liebe Amerika. Und man hat mich bis jetzt ziemlich gut behandelt.“
Es war interessant so etwas von einem Mann zu hören, der über Nacht an einen Metallstuhl gefesselt worden war, mit einer schwarzen Kapuze und Flugzeugblenden auf dem Kopf und sich in einem Gefangenenlager befand, das nicht existierte, ohne die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Technisch gesehen war er nicht einmal verhaftet worden. Einen Anwalt hatte er auch nicht sehen dürfen. Man würde nicht gerade viele Leute finden, die ihm zustimmen würden, wenn er sagte, er wäre gut behandelt worden. Er war bis jetzt zwar nicht gefoltert wurden, doch die meisten würden ihre Messlatte wohl etwas höher ansetzen.
Li schien Lukes Gedanken lesen zu können. „Ich habe heute Morgen die Vögel draußen zwitschern hören. Daher wusste ich, dass es ein neuer Tag war.“
Luke griff zog dem Mann mit einer Hand seine Schlafmaske ab. „Vogelzwitschern am frühen Morgen. Wie schön. Es freut mich zu hören, dass Sie Ihren Aufenthalt bisher genossen haben. Leider werden sich die Dinge bald ändern.“
„Ah.“ Die Augen des Mannes blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Er blickte umher und sah Swann und Ed Newsam an. Seine Augen richteten sich auf Ed.
Ed war an die Wand gelehnt. Er schien entspannt und gleichzeitig bedrohlich. Sein Körper bewegte sich kaum. Es war so viel potentielle Energie in ihm gespeichert, dass er wie ein Sturm aussah, der jeden Moment losbrechen konnte. Seine Augen wichen denen des Chinesen nicht aus.
„Ich verstehe“, sagte Li.
Luke nickte.
Lis Gesicht verhärte sich. „Ich bin nur ein Tourist. Das ist alles nur eine schreckliche Verwechslung.“
„Wenn Sie ein Tourist sind“, sagte Ed, „dann möchten Sie uns vielleicht die Namen und Kontaktinformationen Ihrer Familie geben, damit wir sie wissen lassen können, wo Sie sind. Sie wissen schon, und ihnen sagen, dass es Ihnen gut geht.“
Li schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne die chinesische Botschaft kontaktieren.“
„Unsere Vorgesetzten haben das bereits für Sie getan“, sagte Luke. Das stimmte nicht, soweit er wusste. Er bluffte, aber er hatte das Gefühl, dass der Bluff sich auszahlen würde.
„Es war keine offizielle Anfrage, wie Sie sich vielleicht aufgrund der Situation vorstellen können“, sagte er. „Vielleicht beunruhigt es Sie zu hören, dass die chinesische Regierung nichts von Ihrer Existenz zu wissen scheint. Es gibt keine Schulaufzeichnungen, keine Arbeitsaufzeichnungen, keine Heimatstadt oder Familienverhältnisse. Wir haben ihnen einen Scan von Ihrem Pass geschickt und sie haben uns gesagt, dass es sich um eine raffinierte Fälschung handelt.“
Li starrte geradeaus. Er reagierte nicht.
Luke pausierte einen Moment. Es gab keinen Grund, überflüssig Konversation zu führen. Er wusste, wie schnell Agenten weich wurden, wenn ihre Vorgesetzten sie im Stich ließen. Weich werden war vielleicht nicht das richtige Wort. Manchmal wechselten sie sogar ohne jeden Widerstand die Seiten.
„Li, haben Sie mich gehört? Sie werden Sie nicht beschützen. Sie werden nicht davonkommen. Sie haben die Pillen nicht genommen, als Sie die Chance dazu hatten und jetzt sind Sie hier. Es gibt keinen Ausweg. Laut Ihrer Regierung existieren Sie nicht und haben auch nie existiert. Die Einrichtung, in der Sie sich jetzt befinden, existiert ebenfalls nicht. Wir könnten Sie in einem Fass auf dem Meeresgrund versenken oder Sie in die Wüste schicken, wo Ihnen Geier die Augen aushacken… niemand würde es je erfahren.“
Der Mann hatte immer noch kein Wort gesagt. Er starrte einfach nur geradeaus.
„Li, was wissen Sie über den Black-Rock-Damm und wie die Schleusen geöffnet wurden?“
„Ich weiß gar nichts.“
Luke wartete ein paar Sekunden ab, dann sprach er weiter. „Nun, lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich weiß. Laut dem aktuellen Stand sind mehr als tausend Menschen gestorben. Wissen Sie, wie sehr mich das mitnimmt? Ich will mich für jeden einzelnen Tod rächen. Ich möchte einen Sündenbock finden und ihn dafür bezahlen lassen. Sie sind der ideale Sündenbock, wissen Sie das, Li? Ein Mann, um den sich niemand kümmert, an den sich niemand erinnert und den niemand vermissen wird. Ich sage Ihnen noch etwas. Ich weiß, dass Sie trainiert wurden, einem Verhör zu widerstehen. Das macht mich nur noch glücklicher. Das bedeutet, dass ich mir Zeit lassen kann. Wir können hier tagelang oder sogar wochenlang bleiben. Wir haben Leute, die den Vorfall genau untersuchen. Sie werden schon herausfinden, was passiert ist. Wir brauchen Ihre Informationen nicht. Ehrlich gesagt will ich sie auch gar nicht. Ich will Ihnen nur wehtun. Je mehr Sie nur hier sitzen und ins Leere starren, desto höher wird mein Verlangen danach.“
Nun kniete Luke sich nieder, um in Lis Gesicht zu blicken. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, so nah, dass sein Atem Lis Wangen berührte. „Wir werden uns hier drin ziemlich gut kennen lernen, okay, Li? Irgendwann werde ich alles über dich wissen.“
Luke warf einen Blick auf Swann. Er stand in einer Ecke nahe des stahlverstärkten Fensters. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie hier reingekommen waren. Er blickte hinaus auf das Betongelände und die grünen Hügel, die es umgaben. Swann war ein Analytiker, jemand, der sich mit Daten auskannte. Luke konnte sich gut vorstellen, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man an diese Daten gelangte. Todesdrohungen wie die, die er gerade ausgesprochen hatte, waren erst der Anfang.
„Li, der Mann spricht mit Ihnen“, sagte Ed.
Li gelang es zu Lächeln. Es war ein kränkliches Lächeln. „Bitte“, sagte er. „Nennen Sie mich Johnny.“
Eine Stunde verging. Luke und Ed hatten abwechselnd mit Li geredet, aber ohne wirkliche Ergebnisse. Wenn überhaupt, dann wurde Li immer selbstbewusster. Offenbar war er überzeugt, dass ein paar Schläge von Ed das Schlimmste waren, was er zu befürchten hatte.
Luke blickte erneut zu Swann.
„Ok, Swann“, sagte er. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für dich, einen kleinen Spaziergang zu machen.“
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