Читать книгу «Agent Null » онлайн полностью📖 — Джека Марса — MyBook.

KAPITEL VIER

Durch die Straßen von Paris zu laufen, fühlte sich wie ein Traum an – nur nicht so, wie man es erwarten oder sich wünschen würde. Reid erreichte die Kreuzung der Rue de Berri und der Avenue des Champs-Élysées, die trotz des kühlen Wetters wie immer mit Touristen wimmelte. Der Arc de Triomphe war ein paar Häuserblocks entfernt im Nordwesten zu sehen. Er war das Herzstück des Charles de Gaulle Platzes, aber Reid nahm seine Großartigkeit nicht wahr. Eine neue Vision blitzte in seinen Gedanken auf.

Ich war hier schon einmal. Ich habe an genau dieser Stelle gestanden und auf das Straßenschild geschaut. In Jeans und einer schwarzen Motorradjacke, die Farben der Welt von einer polarisierten Sonnenbrille abgeschwächt …

Er ging nach rechts. Er war sich nicht sicher, was er in dieser Richtung finden würde, aber er hatte den unheimlichen Verdacht, dass er es erkennen würde, wenn er es sah. Es war eine unglaublich bizarre Empfindung, nicht zu wissen, wohin er ging, bis er dort ankam.

Es fühlte sich so an, als ob jeder neue Anblick den Hauch einer vagen Erinnerung hervorrief, jede unabhängig von der nächsten, aber doch immer irgendwie übereinstimmend. Er wusste, dass das Café an der Ecke die besten Pasteten servierte, die er je probiert hatte. Bei dem süßen Duft der Konditorei auf der anderen Straßenseite lief ihm das Wasser im Mund zusammen, weil er an herzhafte Schweineohren dachte. Er hatte noch nie zuvor Schweineohren gegessen. Oder doch?

Selbst Geräusche erschütterten ihn. Passanten unterhielten sich miteinander, während sie den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich richteten sich einige Blicke auf sein verbundenes, verletztes Gesicht.

„Ich würde wirklich nicht den anderen Typen sehen wollen“, murmelte ein junger Franzose zu seiner Freundin. Beide kicherten.

In Ordnung, keine Panik, dachte Reid.

Anscheinend kannst du Arabisch und Französisch. Die einzige andere Sprache die Professor Lawson sprach, war Deutsch und ein paar Sätze auf Spanisch.

Es gab noch etwas anderes, etwas das schwerer zu definieren war. Hinter seinen rasselnden Nerven und dem Instinkt zu rennen, nach Hause zu gehen, sich irgendwo zu verstecken, hinter all dem gab es einen kalten, stählernen Rückhalt. Es war, als hätte er die schwere Hand eines älteren Bruders auf seiner Schulter, eine Stimme in seinem Hinterkopf, die zu ihm sagte: Entspanne dich. Du weißt das alles.

Während die Stimme in seinem Hinterkopf ihn leise führte, standen seine Mädchen und ihre Sicherheit im Vordergrund. Wo waren sie? Woran haben sie gerade gedacht? Was würde es für sie bedeuten, würden sie beide Eltern verlieren?

Er hatte nicht einen Moment aufgehört, an sie zu denken. Selbst als er in dem dreckigen Kellergefängnis geschlagen wurde, während diese Visionen in seine Gedanken eindrangen, hatte er immer an die Mädchen gedacht – und ganz besonders an die letzte Frage. Was würde mit ihnen geschehen, wäre er dort in diesem Keller gestorben? Oder sollte er sterben, während er diese tollkühne Sache tat, die er nun vorhatte?

Er musste sich versichern. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen. Aber zuerst brauchte er eine Jacke und das nicht nur, um sein blutbeflecktes Hemd zu verstecken. Das Februarwetter brachte es zu fast zehn Grad Celsius, war aber definitiv noch zu kalt, um nur in einem Hemd herumzulaufen. Der Boulevard bildete einen Windkanal und die Brise war steif. Er ging ins nächste Kleidergeschäft und wählte den ersten Mantel, der ihm ins Auge fiel – eine dunkelbraune Bomberjacke, Leder mit Fleece gefüttert. Seltsam, dachte er. Nie zuvor hätte er sich eine solche Jacke ausgesucht, er stand mehr auf Tweed und karierte Mode, aber er fühlte sich dazu hingezogen.

Die Bomberjacke kostete zweihundertvierzig Euro. Egal; er hatte eine Tasche voller Geld. Er suchte sich auch noch ein neues Shirt aus, ein schiefergraues T-Shirt und dann eine neue Jeans, neue Socken und robuste braune Stiefel. Er brachte alle Artikel zur Kasse und bezahlte in bar.

Auf einem der Geldscheine befand sich ein Fingerabdruck aus Blut. Der dünnlippige Verkäufer tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Ein blitzartiger Gedanke –

Ein Typ betritt blutüberströmt eine Tankstelle. Er bezahlt sein Benzin und will gerade gehen. Der verwirrte Verkäufer ruft: „Hey, Mann, geht es dir gut?“ Der Typ lächelt. „Oh ja, mir geht es gut. Es ist nicht mein Blut.“

Ich habe diesen Witz noch nie zuvor gehört.

„Darf ich bitte Ihre Umkleidekabine benutzen?“, fragte Reid auf Französisch.

Der Verkäufer deutete auf die Kabinen im hinteren Teil des Geschäfts. Während der gesamten Transaktion hatte er kein einziges Wort gesagt.

Bevor er sich umzog, betrachtete sich Reid zum ersten Mal in einem sauberen Spiegel. Gott, er sah wirklich schrecklich aus. Sein rechtes Auge war stark angeschwollen und es zeigten sich Blutflecken auf den Verbänden. Er musste eine Apotheke finden, um ein paar gute Erste-Hilfe-Sachen zu kaufen. Er ließ seine schmutzige und leicht blutverschmierte Jeans über seinen verletzten Oberschenkel hinuntergleiten und zuckte dabei zusammen. Etwas fiel auf den Boden und erschreckte ihn. Die Beretta. Er hatte fast vergessen, dass er sie hatte.

Die Pistole war schwerer, als er gedacht hätte. Neunhundertfünfundvierzig Gramm, ungeladen, er wusste das. Sie zu halten war, wie eine verflossene Geliebte zu umarmen, vertraut und fremd gleichzeitig. Er legte die Waffe hin und zog sich weiter um, stopfte seine alten Sachen in die Einkaufstüte und steckte dann die Pistole in den Hosenbund seiner neuen Jeans, an seinem Rücken.

Auf dem Boulevard hielt Reid den Kopf gesenkt und lief zügig den Bürgersteig entlang. Er brauchte nicht noch mehr Visionen, die ihn jetzt ablenkten. Er warf die Tüte mit der alten Kleidung in einen Mülleimer an der Ecke, ohne dafür auch nur anzuhalten.

„Oh! Excusez-moi“, entschuldigte er sich, als er mit seiner Schulter eine vorbeilaufende Frau in einem Businessanzug anrempelte. Sie funkelte ihn an. „Es tut mir leid.“ Sie schnaubte und ging weiter. Er steckte seine Hände in die Jackentaschen – gemeinsam mit dem Handy, welches er gerade aus ihrer Handtasche geklaut hatte.

Es war einfach gewesen. Zu einfach.

Zwei Häuserblocks entfernt stellte er sich unter die Markise eines Kaufhauses und zog das Telefon heraus. Er atmete erleichtert auf – er hatte die Geschäftsfrau aus einem bestimmten Grund ausgesucht und sein Instinkt hatte sich bestätigt. Sie hatte Skype auf ihrem Handy installiert, mit einem Konto, das zu einer amerikanischen Nummer gehörte. Er öffnete den Internetbrowser des Handys, suchte die Nummer von Pap’s Feinkostladen in der Bronx und wählte sie.

Eine junge männliche Stimme antwortete sofort. „Pap’s, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ronnie?“ Einer seiner Schüler aus dem Vorjahr arbeitete Teilzeit in Reids Lieblings-Feinkostladen. „Hier ist Professor Lawson.“

„Hallo, Professor!“, sagte der junge Mann fröhlich. „Wie geht es Ihnen? Möchten Sie eine Bestellung zum Abholen aufgeben?“

„Nein. Ja … so ungefähr. Hören Sie zu, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Ronnie.“ Pap’s Feinkostladen war nur sechs Häuserblocks von seinem Haus entfernt. An schönen Tagen ging er oft zu Fuß dorthin, um belegte Brötchen zu kaufen. „Haben Sie Skype auf Ihrem Handy?“

„Ja?“, sagte Ronnie mit einem verwirrten Klang in seiner Stimme.

„Sehr gut. Hier ist, worum ich Sie bitten möchte. Schreiben Sie diese Nummer auf …“ Er wies den Schüler an, schnell zu seinem Haus zu laufen, um zu sehen wer, wenn überhaupt irgendwer, dort war und ihn dann auf dieser amerikanischen Nummer zurückzurufen.

„Professor, stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“

„Nein, Ronnie, mir geht es gut“, log er. „Ich habe mein Handy verloren und eine nette Frau lässt mich ihres benutzen, damit ich meine Kinder wissen lassen kann, dass es mir gut geht. Aber ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Wenn Sie also bitte …“

„Sagen Sie nichts mehr, Professor. Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück.“ Ronnie legte auf.

Während er wartete, ging Reid nervös unter der kurzen Länge der Markise auf und ab und sah alle paar Sekunden auf das Telefon, für den Fall, dass er den Anruf verpasste. Es fühlte sich so an, als würde eine ganze Stunde verstreichen, bevor es klingelte, obwohl es nur sechs Minuten gewesen waren.

„Hallo?“, er beantwortete den Skype Anruf beim ersten Klingeln. „Ronnie?“

„Reid, bist du das?“, fragte eine verzweifelte, weibliche Stimme.

„Linda!“, sagte Reid atemlos. „Ich bin so froh, dass du da bist. Höre zu, ich muss wissen –“

„Reid, was ist passiert? Wo bist du?“, wollte sie wissen.

„Die Mädchen, sind sie bei –“

„Was ist passiert?“, unterbrach ihn Linda erneut. „Die Mädchen sind heute Morgen aufgewacht und sind fast durchgedreht, weil du weg warst, also haben sie mich angerufen und ich bin gleich vorbeigekommen ...“

„Linda, bitte“, versuchte er erneut zu fragen, „wo sind sie?“

Sie sprach über ihn hinweg, deutlich verstört. Linda war eine Menge Dinge, aber gut in einer Krisensituation zu reagieren, war keins davon. „Maya sagte, dass du manchmal morgens spazieren gehst, aber sowohl die Vorder- als auch die Hintertür standen offen und sie wollte die Polizei rufen, weil sie sagte, dass du nie dein Telefon zu Hause lässt und jetzt kommt dieser Junge aus dem Feinkostladen und reicht mir ein Telefon –?“

„Linda!“, zischte Reid scharf. Zwei ältere Männer, die an ihm vorbeigingen, sahen zu ihm auf. „Wo sind die Mädchen?“

„Sie sind hier“, keuchte sie. „Sie sind beide hier, im Haus mit mir.“

„Sie sind in Sicherheit?“

„Ja, selbstverständlich. Reid, was ist los?“

„Habt ihr die Polizei gerufen?“

„Noch nicht, nein … im Fernsehen wird immer gesagt, man soll vierundzwanzig Stunden warten, bevor man jemanden als vermisst meldet … steckst du in irgendeiner Art von Schwierigkeiten? Von wo aus rufst du mich an? Wessen Skype Konto ist das?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Hör mir einfach zu. Bitte die Mädchen eine Tasche zu packen und bringe sie in ein Hotel. Nichts irgendwo in der Nähe; außerhalb der Stadt. Vielleicht nach Jersey ...“

„Reid, was?“

„Meine Brieftasche liegt auf meinem Schreibtisch im Büro. Benutze die Kreditkarten nicht direkt. Hole dir einen Vorschuss mit den Karten darin und nimm das Geld, um für den Aufenthalt zu bezahlen. Vorläufig unbefristet.“

„Reid! Ich werde überhaupt nichts tun, bis du mir endlich sagst, was los ist … Moment!“ Lindas Stimme klang gedämpft und weiter entfernt. „Ja, er ist es. Es geht ihm gut. Denke ich. Warte, Maya!“

„Dad? Dad, bist du das?“, erklang eine neue Stimme in der Leitung. „Was ist passiert? Wo bist du?“

„Maya! Ich, äh, musste in letzter Minute etwas erledigen. Ich wollte dich nicht wecken …“

„Willst du mich verarschen?“, ihre Stimme klang schrill, aufgeregt und besorgt zugleich. „Ich bin nicht dumm, Dad. Sag mir die Wahrheit.“

Er seufzte. „Du hast recht. Es tut mir leid. Ich kann dir nicht sagen, wo ich bin, Maya. Und ich sollte nicht zu lange am Telefon sein. Tu einfach, was deine Tante dir sagt, in Ordnung? Ihr werdet das Haus für eine Weile verlassen. Geht nicht zur Schule. Lauft nicht irgendwo rum. Sprich nicht über mich am Telefon oder am Computer. Verstanden?“

„Nein, das habe ich nicht verstanden! Steckst du in Schwierigkeiten? Sollen wir die Polizei rufen?“

„Nein, bitte tu das nicht“, sagte er. „Noch nicht. Gib mir einfach etwas Zeit, um etwas zu klären.“

Sie war für einen langen Moment still.

Dann sagte sie: „Versprich mir, dass es dir gut geht.“

Er zuckte zusammen.

„Dad?“

„Ja“, sagte er ein bisschen zu forsch. „Mir geht es gut. Bitte tu einfach, was ich sage und geh mit deiner Tante Linda mit. Ich liebe euch beide. Richte Sara aus, was ich gesagt habe und gib ihr eine Umarmung von mir. Ich melde mich, sobald ich kann –“

„Warte, warte!“, sagte Maya. „Wie willst du mit uns Kontakt aufnehmen, wenn du nicht weißt, wo wir sind?“

Er dachte einen Moment lang nach. Er konnte Ronnie nicht bitten, noch tiefer verwickelt zu werden. Er konnte die Mädchen nicht direkt anrufen. Und er konnte nicht riskieren zu wissen, wo sie sich befanden, denn das könnte man gegen ihn verwenden ...

„Ich werde ein falsches Skype Konto einrichten“, sagte Maya, „unter einem anderen Namen. Du wirst wissen, welchen. Ich werde es nur von Hotelcomputern aus prüfen. Wenn du uns kontaktieren musst, schicke uns eine Nachricht.“

Reid verstand sofort. Er fühlte eine Welle des Stolzes über sich kommen; sie war so schlau und in einer Drucksituation so viel cooler, als er jemals gehofft hatte.

„Dad?“

„Ja“, sagte er. „Das ist gut. Pass auf deine Schwester auf. Ich muss los …“

„Ich hab dich auch lieb“, sagte Maya.

Er beendete den Anruf. Dann schniefte er. Wieder kam der dringende Instinkt in ihm hoch, zu ihnen nach Hause zu rennen, sie in Sicherheit zu bringen, alles zu packen, was sie konnten und irgendwohin wegzugehen.

Aber er konnte es nicht tun. Was auch immer es war, wer auch immer hinter ihm her war, hatte ihn bereits einmal gefunden. Er hatte sehr viel Glück gehabt, dass sie nicht hinter seinen Mädchen her waren. Vielleicht wussten sie nichts von den Kindern. Das nächste Mal, wenn es ein nächstes Mal gäbe, hätte er vielleicht nicht soviel Glück.

Reid öffnete das Handy, zog die SIM-Karte heraus und zerbrach sie in zwei Teile. Er ließ die Stücke in einen Gully fallen. Als er weiter die Straße entlanglief, warf er die Batterie in einen Mülleimer und die beiden Telefonhälften in einen anderen.

Er wusste, dass er in die ungefähre Richtung der Rue de Stalingrad lief, obwohl er keine Ahnung hatte, was er tun würde, wenn er dort ankam. Sein Gehirn schrie ihn an, die Richtung zu wechseln, irgendwo anders hinzugehen. Aber eine Selbstsicherheit in seinem Unterbewusstsein zwang ihn weiterzugehen.

Seine Entführer hatten ihn gefragt, was er von ihren „Plänen“ wusste. Die Orte, nach denen sie ihn gefragt hatten, Zagreb, Madrid, und Teheran, mussten miteinander verbunden sein und sie hatten ganz klar etwas mit den Männern zu tun, die ihn entführt hatten. Was auch immer diese Visionen waren – er weigerte sich noch immer, sie als etwas anderes anzuerkennen –, sie enthielten Wissen über etwas, das entweder geschehen war oder noch geschehen würde. Wissen, das er nicht kannte. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr spürte er das quälende Gefühl von Dringlichkeit.

Nein, es war mehr als das. Es fühlte sich wie eine Verpflichtung an.

Seine Entführer schienen gewillt gewesen zu sein, ihn für sein Wissen langsam zu töten. Und er hatte das Gefühl, dass, wenn er nicht herausfand, was das war und was er angeblich wissen sollte, noch mehr Menschen sterben würden.

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