Читать книгу «Agent Null » онлайн полностью📖 — Джека Марса — MyBook.

Der Vernehmer schnitt in die Haut seines Zehs und er schrie laut auf. Mit seinem Daumen entgegengesetzt des normalen Winkels konnte er seine Hand aus den Fesseln befreien. Als die eine Schlaufe offen war, gab auch die andere nach.

Seine Hände waren frei. Aber er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen machen sollte.

Der Vernehmer sah auf und runzelte verwirrt die Stirn. „Was …?“

Noch bevor er ein weiteres Wort sprechen konnte, schoss Reids rechte Hand vor und griff nach dem nahegelegensten Werkzeug – einem Präzisionsmesser mit schwarzem Griff. Als der Vernehmer versuchte aufzustehen, zog Reid seine Hand zurück. Die Klinge fuhr über die Halsschlagader des Mannes.

Beide Hände flogen an seine Kehle. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, als der Vernehmer mit weit aufgerissenen Augen zu Boden sank.

Der massige Brutalo brüllte vor Wut und sprang nach vorne. Er griff mit seinen fleischigen Händen nach Reids Hals und drückte zu. Reid versuchte nachzudenken, aber die Angst packte ihn.

Im nächsten Moment hob er das Präzisionsmesser wieder hoch und stach dem Brutalo in die Innenseite seines Handgelenks. Während er es hineindrückte, drehte er seine Schulter und schnitt den Unterarm des Mannes der Länge nach auf. Der Brutalo schrie und fiel zu Boden, während er seine schwere Verletzung umklammerte.

Der große, dünne Mann starrte ungläubig. Wie bereits zuvor auf der Straße, vor Reids Haus, schien er zu zögern, sich ihm anzunähern. Stattdessen tastete er nach dem Plastiktablett und einer Waffe. Er griff nach einer gebogenen Klinge und versuchte in Reids Brust zu stechen.

Reid warf sein gesamtes Körpergewicht nach hinten, kippte dabei mit dem Stuhl um und entging nur knapp dem Messer. Im selben Moment zwang er seine Beine, soweit er konnte, nach außen. Als der Stuhl auf dem Betonboden aufschlug, lösten sich die Stuhlbeine vom Rahmen. Reid stand auf und wäre fast gestolpert, weil seine Beine so schwach waren.

Der großgewachsene Mann schrie auf Arabisch um Hilfe und fuchtelte wahllos mit dem Messer in der Luft herum, um Reid in Schach zu halten. Reid hielt Abstand und beobachtete, wie die silberne Klinge hypnotisch hin- und herschwang. Der Mann schwankte nach rechts und Reid stürzte sich auf ihn, wobei er den Arm – und das Messer – zwischen ihren Körpern einklemmte. Sein Schwung schob sie vorwärts und als der Iraner stürzte, drehte sich Reid und schlitzte dabei gekonnt die Oberschenkelarterie auf der Rückseite seines Beines auf. Er kam auf die Beine und schleuderte das Messer in die entgegengesetzte Richtung, wobei er die Halsschlagader des Mannes durchbohrte.

Er wusste nicht genau, wieso er das wusste, aber ihm war klar, dass der Mann noch siebenundvierzig Sekunden zu leben hatte.

Fußtritte waren auf einer Treppe in der Nähe zu hören. Mit zitternden Fingern stürzte Reid zur offenen Tür und drückte sich daneben flach an die Wand. Das Erste, was durch die Türöffnung kam, war eine Waffe – er erkannte sie sofort als eine Beretta 92 FS – dann folgte ein Arm und schließlich ein Torso. Reid wirbelte herum, packte die Waffe mit seiner Armbeuge und schob das Präzisionsmesser seitlich zwischen zwei Rippen. Die Klinge durchbohrte das Herz des Mannes. Ein Schrei entwich seinen Lippen, als er zu Boden glitt.

Dann gab es nur noch Stille.

Reid taumelte rückwärts. Seine Atmung war flach.

„Oh Gott“, stieß er hervor. „Oh Gott.“

Er hatte gerade innerhalb von wenigen Sekunden vier Männer getötet – nein ermordet. Was noch schlimmer war, war, dass es reflexartig passiert war, so wie Fahrradfahren. Oder plötzlich Arabisch zu sprechen. Oder das Schicksal des Scheichs zu kennen.

Er war ein Professor. Er hatte Erinnerungen. Er hatte Kinder. Eine Karriere. Aber sein Körper wusste ganz offensichtlich, wie man kämpfte, auch wenn er selbst es nicht wusste. Er wusste, wie er sich aus Fesseln befreien konnte. Er wusste, wo ein tödlicher Schlag landen musste.

„Was passiert mit mir?“, keuchte er.

Er bedeckte kurz seine Augen, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam. Blut klebte an seinen Händen – buchstäblich. Blut war auf seinem Hemd. Als das Adrenalin nachließ, wurden seine Gliedmaßen von Schmerzen durchdrungen, weil er sich so lange nicht bewegt hatte. Sein Knöchel pochte noch immer von dem Sprung von der Terrasse zu Hause. Er war in sein Bein gestochen worden. Er hatte eine offene Wunde hinter seinem Ohr.

Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie sein Gesicht aussehen würde.

Verschwinde, schrie sein Gehirn ihn an. Es könnten noch mehr kommen.

„In Ordnung“, sagte Reid laut, als würde er jemandem im Raum zustimmen. Er beruhigte seinen Atem so gut er konnte und scannte seine Umgebung ab. Sein verschwommener Blick fiel auf bestimmte Details – die Beretta. Auf eine rechteckige Beule in der Tasche des Vernehmers. Auf eine seltsame Markierung am Hals des Brutalos.

Er kniete sich neben den massigen Mann und starrte auf die Narbe. Sie war in der Nähe der Kieferlinie, teilweise von seinem Bart verdeckt und nicht größer als ein Zehn-Cent-Stück. Es schien eine Art Markierung zu sein, die in die Haut eingebrannt war und einem Symbol ähnelte, fast wie ein Buchstabe in einem anderen Alphabet. Aber er erkannte es nicht. Reid betrachtete es einige Sekunden lang, um es in seiner Erinnerung abzuspeichern.

Schnell durchwühlte er die Hosentasche des toten Vernehmers und fand ein uraltes, riesengroßes Handy. Wahrscheinlich ein Wegwerfhandy, sagte ihm sein Gehirn. In der Gesäßtasche des großgewachsenen Mannes fand er ein Stück zerrissenes, weißes Papier, eine Ecke davon war mit Blut bespritzt. In einer gekritzelten, fast unleserlichen Handschrift stand eine lange Reihe von Ziffern darauf, die mit 963 begann – der Ländercode für einen internationalen Anruf nach Syrien.

Keiner der Männer trug einen Ausweis bei sich, aber der Beinahe-Schütze hatte ein dickes Portmonee mit Euronoten, wie es aussah ein paar Tausend. Reid steckte es ein und griff sich zum Schluss noch die Beretta. Das Gewicht der Pistole fühlte sich merkwürdig normal in seinen Händen an. Neun-Millimeter Kaliber. Fünfzehn-Schuss-Magazin. Ein-hundert-fünf-und-zwanzig Millimeter Lauflänge.

Seine Hände öffneten geschickt den Magazinauslöseknopf, so als ob jemand anders sie kontrollieren würde. Dreizehn Schuss. Er schob das Magazin zurück und sicherte es.

Dann machte er sich endlich aus dem Staub.

Auf der anderen Seite der dicken Stahltür lag eine schäbige Halle, an deren Ende sich eine Treppe befand. Oben konnte man Tageslicht sehen. Reid ging vorsichtig die Treppe hinauf, die Pistole nach oben gerichtet, aber er hörte nichts. Die Luft wurde kühler, als er hinaufkam.

Er fand sich in einer kleinen schmutzigen Küche wieder, in der die Farbe von den Wänden abblätterte und schmutziges Geschirr im Spülbecken türmte. Die Fenster waren lichtdurchlässig; sie waren mit Fett beschmiert worden. Der Heizkörper in der Ecke war kalt.

Reid suchte den Rest des kleinen Hauses ab; niemand außer den vier toten Männern im Keller war dort. Das einzige Badezimmer war in noch schlechterer Verfassung als die Küche, aber Reid konnte ein scheinbar altes Erste-Hilfe-Set finden. Er wagte es nicht, sich selbst im Spiegel anzuschauen, als er so viel Blut wie möglich von seinem Gesicht und Hals abwusch. Alles von Kopf bis Fuß schmerzte, stach oder brannte. Die winzige Tube mit antiseptischer Salbe war bereits vor drei Jahren abgelaufen, aber er benutzte sie trotzdem. Er zuckte zusammen, als er den Verband auf seine offenen Schnitte drückte.

Dann setzte er sich auf den Toilettendeckel und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich wieder zu fassen. Du könntest abhauen, sagte er zu sich selbst. Du hast Geld. Zum Flughafen gehen. Nein, du hast ja keinen Reisepass. Geh zu deiner Botschaft. Oder finde ein Konsulat. Aber …

Aber er hatte gerade vier Männer getötet und sein eigenes Blut war überall im Keller verteilt. Und es gab noch ein anderes, klareres Problem.

„Ich weiß nicht, wer ich bin“, murmelte er laut.

Diese Gedankenblitze, diese Visionen, die sich in seinem Kopf zeigten, schienen seine eigene Perspektive zu sein. Seine Sichtweise. Aber er hatte niemals, würde niemals so etwas tun. Erinnerungsunterdrückung, hatte der Vernehmer gesagt. War das überhaupt möglich? Erneut dachte er an seine Mädchen. Waren sie in Sicherheit? Hatten sie Angst? Waren sie … seine?

Diese Vorstellung erschreckte ihn bis aufs Mark. Was, wenn das, was er für real hielt, in Wirklichkeit irgendwie überhaupt nicht real war?

Nein, sagte er unerbittlich zu sich selbst. Es waren seine Töchter. Er war bei ihrer Geburt dabei gewesen. Er hatte sie aufgezogen. Keine dieser bizarren, aufdringlichen Visionen widersprach dem. Und er musste einen Weg finden, Kontakt mit ihnen herzustellen, um herauszufinden, ob alles in Ordnung war. Dies war seine oberste Priorität. Er konnte auf gar keinen Fall das Wegwerfhandy benutzen, um mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen; er wusste nicht, ob die Anrufe zurückverfolgt wurden und wer eventuell zuhörte.

Plötzlich erinnerte er sich an den Zettel mit der Telefonnummer darauf. Er stand auf und zog ihn aus seiner Tasche. Das blutbespritzte Papier starrte ihn an. Er wusste nicht, worum es hier ging oder warum die Männer gedacht hatten, er sei jemand anderes als der, der er sagte, aber er fühlte einen Hauch von Dringlichkeit unter der Oberfläche seines Unterbewusstseins, etwas, das ihm sagte, dass er jetzt ungewollt in etwas involviert war, dass viel, viel größer war als er selbst.

Mit zitternden Händen wählte er die Nummer auf dem Wegwerfhandy.

Eine raue Männerstimme antwortete nach dem zweiten Klingelton. „Ist es erledigt?“, fragte er auf Arabisch.

„Ja“, antwortete Reid. Er versuchte, seine Stimme so gut wie möglich zu verstellen und seinen Akzent zu verstecken.

„Haben Sie die Informationen?“

„Hmm.“

Für einen langen Moment war die Stimme still. Reids Herz klopfte laut in seiner Brust. Hatten sie bemerkt, dass er nicht der Vernehmer war?

„Rue de Stalingrad 187“, sagte der Mann schließlich. „Acht Uhr.“ Dann legte er auf.

Reid beendete den Anruf und atmete tief durch. Rue de Stalingrad?, dachte er. In Frankreich?

Er war sich nicht sicher, was er jetzt tun würde. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er eine Mauer durchbrochen und eine ganz andere Welt auf der anderen Seite entdeckt. Er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Selbst wenn er es versuchte, wie lange würde es dauern, bis sie ihn und die Mädchen wiederfänden? Er hatte nur eine Spur. Er musste ihr folgen.

Er verließ das kleine Haus und fand sich in einer engen Gasse wieder, die auf eine Rue Marceau führte. Sofort wusste er, wo er war – in einem Vorort von Paris, nur wenige Blöcke von der Seine entfernt. Fast musste er lachen. Er hatte gedacht, er würde auf die vom Krieg zerstörten Straßen einer nahöstlichen Stadt hinaustreten. Stattdessen befand er sich auf einem Boulevard, gesäumt von Geschäften und Reihenhäusern und unwissenden Passanten, die trotz der kalten Februarbrise ihren gemütlichen Nachmittag genossen.

Er steckte die Pistole in den Hosenbund seiner Jeans und trat hinaus auf die Straße, mischte sich unter die Menschenmenge und versuchte, wegen seines blutbefleckten Hemdes, der Bandagen und der offensichtlichen Prellungen nicht aufzufallen. Er schlang seine Arme eng um sich – er würde neue Kleidung brauchen, eine Jacke, etwas Wärmeres als nur sein Hemd. Er musste außerdem sicherstellen, dass seine Mädchen in Sicherheit waren.

Danach würde er sich ein paar Antworten holen.

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