„Monsieur.“ Reid wurde von einer matronenhaften Frau mit einem Schal aus seinen Gedanken gerissen, die sanft seinen Arm berührte. „Sie bluten“, sagte sie auf Englisch und zeigte auf ihre eigene Augenbraue.
„Oh. Merci.“ Er berührte mit zwei Fingern seine rechte Augenbraue. Ein kleiner Schnitt hatte den Verband durchnässt und ein Tropfen Blut lief über sein Gesicht. „Ich muss eine Apotheke finden“, murmelte er laut.
Dann atmete er tief durch, als ihm ein Gedanke kam: es gab eine Apotheke zwei Häuserblocks entfernt. Er war nie drin gewesen – jedenfalls nicht zu seinem eigenen vertrauensunwürdigen Wissen –, aber er wusste es einfach, genauso wie er den Weg zu Pap’s Feinkostladen kannte.
Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Die anderen Visionen waren alle instinktiv gewesen und wurden durch äußere Reize hervorgerufen; Anblicke, Geräusche oder sogar Düfte. Dieses Mal gab es keine dazugehörige Vision. Es war ein schlichtes Wissen, genauso wie er wusste, wo er an jeder Straßenkreuzung langlaufen musste. So, wie er gewusst hatte, wie man die Beretta lädt.
Er traf eine Entscheidung, bevor die Ampel grün wurde. Er würde zu diesem Treffen gehen und so viele Informationen sammeln, wie er konnte. Dann würde er sich entscheiden, was er damit tun würde – vielleicht musste er es den Behörden melden und sie würden ihn bezüglich der vier Männer im Keller freisprechen. Die Polizei die Festnahmen machen lassen, während er nach Hause zu seinen Kindern zurückkehrte.
In der Drogerie kaufte er eine kleine Tube Sekundenkleber, eine Schachtel Pflasterzugverbände, Wattestäbchen und Make-up, das fast seinem Hautton entsprach. Er ging mit seinen Einkäufen zur Toilette und schloss die Tür hinter sich ab.
Er löste die Verbände, die er schnellstmöglich in der Wohnung in seinem Gesicht befestigt hatte und wusch das verkrustete Blut von seinen Wunden. Er benutzte die Pflasterzugverbände für die kleineren Schnitte. Für die tieferen Wunden, die normalerweise genäht werden müssten, presste er die Ränder der Haut zusammen und drückte etwas Sekundenkleber darauf, während er die Zähne fest zusammenbiss. Dann hielt er für ungefähr dreißig Sekunden den Atem an. Der Kleber brannte sehr, aber er trocknete schnell. Zum Schluss verteilte er Make-up auf den Konturen seines Gesichts, besonders auf den Verletzungen, die seine ehemaligen sadistischen Entführer verursacht hatten. Es gab keine Möglichkeit sein geschwollenes Auge und den angeschlagenen Kiefer völlig zu verstecken, aber wenigstens würden ihn so weniger Menschen auf der Straße anstarren.
Der gesamte Prozess dauerte etwa eine halbe Stunde und in dieser Zeit klopften zweimal andere Leuten an die Toilettentür (das zweite Mal schrie eine Frau auf Französisch, dass sich ihr Kind fast in die Hose machte). Beide Male rief Reid nur zurück: „Occupé!“
Als er endlich fertig war, betrachtete er sich selbst im Spiegel. Es war alles andere als perfekt, aber zumindest sah er nicht mehr so aus, als wäre er in einer unterirdischen Folterkammer geschlagen worden. Er fragte sich, ob er dunkleres Make-up hätte kaufen sollen, einen Ton, der ihn ausländischer aussehen ließ. Wusste der Anrufer, wen er treffen sollte? Würde er erkennen, wer er war – oder, ob er der war, für den sie ihn hielten? Die drei Männer, die zu seinem Haus gekommen waren, schienen sich nicht so sicher gewesen zu sein; sie hatten ihn mit einem Foto abgleichen müssen.
„Was mache ich denn?“, fragte er sich selbst. Du bereitest dich auf ein Treffen mit einem gefährlichen Verbrecher vor, der höchstwahrscheinlich ein bekannter Terrorist ist, sagte die Stimme in seinem Kopf – nicht die neue aufdringliche Stimme, sondern seine eigene, Reid Lawsons Stimme. Es war sein eigener gesunder Menschenverstand, der ihn verspottete.
Dann meldete sich die souveräne, selbstbewusste Persönlichkeit, die unter der Oberfläche verborgen lag, zu Wort. Alles wird gut, sagte sie zu ihm. Nichts, was du nicht schon einmal getan hättest. Seine Hand griff instinktiv nach dem Griff der Beretta, die an seiner Rückseite unter seiner neuen Jacke verborgen war. Du weißt all das.
Bevor er die Drogerie verließ, kaufte er noch ein paar andere Sachen: eine billige Uhr, eine Flasche Wasser und zwei Schokoriegel. Draußen auf dem Bürgersteig verschlang er beide Schokoriegel. Er war sich nicht sicher, wie viel Blut er verloren hatte und er wollte seinen Blutzuckerspiegel stabil halten. Er lehrte die ganze Wasserflasche und fragte dann einen Passanten nach der Uhrzeit. Er stellte die Uhr und legte sie an sein Handgelenk.
Es war halb sieben. Er hatte ausreichend Zeit, frühzeitig zum Treffpunkt zu gehen und sich vorzubereiten.
*
Es war schon fast dunkel, als er die Adresse erreichte, die ihm am Telefon gegeben worden war. Der Sonnenuntergang in Paris warf lange Schatten über den Boulevard. Rue de Stalingrad 187 war eine Bar im zehnten Pariser Stadtbezirk, die sich Féline nannte. Die Bar war heruntergekommen, mit übermalten Fenstern und eingerissener Fassade. Sie befand sich in einer Straße, in der es sonst nur Kunstateliers, indische Restaurants und unkonventionelle Cafés gab.
Reid hielt kurz inne, eine Hand bereits an der Tür. Wenn er eintrat, gäbe es kein Zurück mehr. Er konnte immer noch gehen. Nein, entschied er sich, das konnte er nicht. Wohin würde er gehen? Nach Hause, damit sie ihn wiederfinden würden? Und mit diesen seltsamen Visionen in seinem Kopf leben?
Er ging hinein.
Die Wände der Bar waren schwarz und rot gestrichen und mit Plakaten aus den fünfziger Jahren übersät, die grimmige Frauen, Zigarettenhalter und Silhouetten zeigten. Es war zu früh oder vielleicht zu spät, als dass dieser Ort voll war. Die wenigen Gäste, die sich hier herumtrieben, Sprachen mit gedämpften Stimmen und beugten sich schützend über ihre Getränke. Melancholischer Blues erklang leise aus einer Stereoanlage hinter der Bar.
Reid scannte die Bar von links nach rechts und wieder zurück. Niemand schaute in seine Richtung und niemand sah wie die Typen aus, die ihn gefangen genommen hatten. Er setzte sich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar mit Blick auf die Tür. Er bestellte einen Kaffee, obwohl der im Grunde nur dampfend vor ihm stand.
Ein buckeliger alter Mann rutschte von seinem Hocker und humpelte in Richtung Toiletten. Reid bemerkte, wie sein Blick auf die Bewegungen des Mannes fiel und den Mann analysierte. Ende sechzig. Hüftdysplasie. Gelbliche Finger, mühsames Atmen – ein Zigarrenraucher. Ohne seinen Kopf zu bewegen, schwenkten seine Augen auf die andere Seite der Bar, wo zwei rau aussehende Männer in Overalls eine gedämpfte, aber leidenschaftliche Unterhaltung über Sport führten. Fabrikarbeiter. Der auf der linken Seite schlief nicht genug, wahrscheinlich der Vater junger Kinder. Der Mann auf der rechten Seite war vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt gewesen oder hatte zumindest irgendetwas geboxt; seine Fingerknöchel waren verletzt. Ohne darüber nachzudenken, analysierte er die Manschetten ihrer Hosen, ihrer Ärmel und die Art, wie sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützten. Jemand, der eine Waffe hätte, würde sie beschützen, versuchen sie zu verbergen, sogar unbewusst.
Reid schüttelte seinen Kopf. Er wurde langsam paranoid und diese hartnäckigen fremdartigen Gedanken halfen ihm nicht gerade. Aber dann erinnerte er sich an das seltsame Vorkommnis mit der Apotheke, an seine Erinnerung, wo sie sich befand, nur weil er gedacht hatte, er müsse eine finden. Der Akademiker in ihm meldete sich zu Wort. Vielleicht gab es hier etwas für ihn zu lernen. Vielleicht solltest du, anstatt zu versuchen es zu bekämpfen, dich diesen Gedanken öffnen.
Die Kellnerin war eine junge, müde aussehende Frau mit einer verknoteten brünetten Mähne. „Stylo?“, fragte er, als sie an ihm vorbeiging. „Ou crayon?“ Kugelschreiber oder Bleistift? Sie griff in das Gewirr ihrer Haare und zog einen Kugelschreiber heraus. „Merci.“
Er strich eine Cocktailservierte glatt und setzte den Kugelschreiber auf. Dies war keine neue Fähigkeit, die er nie gelernt hatte, sondern eine Professor-Lawson-Taktik, die er in der Vergangenheit viele Male benutzt hatte, um sich an Dinge zu erinnern und sein Gedächtnis zu stärken.
Er dachte an die Unterhaltungen, wenn man sie so nennen konnte, mit den drei arabischen Entführern zurück. Er versuchte, nicht an ihre toten Augen zu denken oder an das Blut auf dem Fußboden oder an das Tablett mit den scharfen Werkzeugen, die dazu gedacht gewesen waren, jegliche Wahrheit, die er in sich hatte, aus ihm herauszuschneiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gesprochenen Details und schrieb den ersten Namen auf, der ihm in den Sinn kam.
Dann murmelte er ihn laut. „Scheich Mustafar.“
Ein marokkanisches Geheimgefängnis. Ein Mann, der sein ganzes Leben mit Reichtum und Macht gelebt hatte, der die weniger Begünstigten mit Füßen getreten hatte, sie unter seinen Schuhen zerquetscht hatte – hatte jetzt eine Scheißangst, weil er wusste, dass du ihn bis zum Hals im Sand eingegraben könntest und niemand je seine Knochen finden würde.
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!“, beharrt er.
Tut-tut. „Ich habe andere Informationen. Die besagen, Sie wissen verdammt viel mehr, aber Sie haben wahrscheinlich Angst vor den falschen Leuten. Ich sage Ihnen was, Scheich … mein Freund im Nebenzimmer? Er wird ungeduldig. Sehen Sie, er hat diesen Hammer – es ist nur so ein kleines Ding, ein Steinhammer, wie ihn die Geologen benutzen? Aber er funktioniert wunderbar für kleine Knochen, Knöchel ...“
„Ich schwöre es!“ Der Scheich ringt nervös mit den Händen. Du erkennst es als verräterisches Zeichen. „Es gab andere Unterhaltungen über die Pläne, aber sie waren auf Deutsch, Russisch ... Ich habe sie nicht verstanden!“
„Wissen Sie, Scheich … eine Kugel klingt in jeder Sprache gleich.“
Reid wurde zurück in die Realität der Bar gerissen. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Die Erinnerung war so intensiv gewesen, so lebendig und klar wie jede andere, die er tatsächlich erlebt hatte. Und es war seine eigene Stimme in seinem Kopf gewesen, die beiläufig drohte und Dinge sagte, die er im Traum nicht zu einem anderen Menschen sagen würde.
Pläne. Der Scheich hatte definitiv etwas über Pläne gesagt. Was auch immer die schreckliche Sache war, die an seinem Unterbewusstsein nagte, er hatte das eindeutige Gefühl, dass sie noch nicht passiert war.
Er nahm einen Schluck seines jetzt lauwarmen Kaffees, um seine Nerven zu beruhigen. „In Ordnung“, sagte er zu sich selbst. „In Ordnung.“ Während seiner Befragung im Keller hatten sie nach anderen Agenten im Feld gefragt und drei Namen waren ihm durch den Kopf gegangen. Er schrieb einen auf und las ihn dann laut vor. „Morris.“
Sofort erschien ein Gesicht vor seinem geistigen Auge, ein Mann Anfang dreißig, gutaussehend und er wusste es. Ein großspuriges Halbgrinsen mit nur einer Hälfte seines Mundes. Dunkle Haare, die so gestylt waren, dass er jung aussah.
Ein privater Flugplatz in Zagreb. Morris sprintet neben dir. Ihr beide habt eure Waffen gezogen, Lauf nach unten gerichtet. Ihr könnt nicht zulassen, dass die beiden Iraner das Flugzeug erreichen. Morris zielt zwischen zwei Schritten und gibt zwei Schüsse ab. Einer trifft einen Unterschenkel und der erste Mann fällt. Du zielst auf den anderen und bringst ihn brutal zu Boden …
Noch ein Name. „Reidigger.“
Ein jungenhaftes Lächeln, ordentlich gekämmtes Haar. Ein kleiner Bauch. Das Gewicht würde ihm besser stehen, wäre er ein paar Zentimeter größer. Der Grund vieler Witze, aber er nahm es gutmütig.
Das Ritz in Madrid. Reidigger bewacht den Flur, während du die Tür eintrittst und den Attentäter außer Gefecht setzt. Der Mann greift nach der Waffe auf seinem Schreibtisch, aber du bist schneller. Du brichst sein Handgelenk … Später erzählt Reidigger, dass er das Geräusch draußen auf dem Flur hören konnte. Ihm wurde schlecht davon. Alle lachen.
Der Kaffee war nun kalt, aber Reid merkte es kaum. Seine Finger zitterten. Es gab keinen Zweifel; was auch immer mit ihm geschah, dies waren Erinnerungen – seine Erinnerungen. Oder die von jemand anderem. Die Entführer hatten ihm etwas aus dem Hals geschnitten und es als einen Erinnerungsunterdrücker bezeichnet. Das konnte nicht wahr sein; er war das nicht. Das war jemand anderes. Er hatte die Erinnerungen einer anderen Person, die sich mit seinen eigenen mischten.
Reid setzte den Stift wieder auf die Serviette und schrieb den letzten Namen. Er sagte ihn laut: „Johansson.“ Eine Gestalt kam ihm in den Kopf. Lange blonde Haare mit gepflegtem Glanz. Hohe, formschöne Wangenknochen. Volle Lippen. Graue Augen, die Farbe von Schiefer. Eine Vision blitzte auf …
Mailand. Nacht. Ein Hotel. Wein. Maria sitzt mit ihren Beinen im Schneidersitz auf dem Bett. Die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse sind offen. Ihre Haare sind zerzaust. Du hast nie zuvor bemerkt, wie lang ihre Wimpern waren. Zwei Stunden zuvor hast du ihr dabei zugeschaut, wie sie zwei Männer in einer Schießerei getötet hat und jetzt gibt es Sangiovese und Pecorino Toscano. Eure Knie berühren sich fast. Ihr Blick trifft deinen. Keiner von euch sagt etwas. Du kannst es in ihren Augen sehen, aber sie weiß, dass du nicht kannst. Sie fragt nach Kate …
Reid zuckte zusammen, als er plötzlich Kopfschmerzen bekam, die sich wie eine Sturmwolke in seinem Schädel ausbreiteten. Im selben Augenblick verschwand die Vision und verblasste. Er kniff die Augen zusammen und massierte für eine Minute seine Schläfen, bis die Kopfschmerzen nachließen.
Was zur Hölle war das gewesen?
Aus irgendeinem Grund schien die Erinnerung an diese Frau, Johansson, die kurze Migräne verursacht zu haben. Noch beunruhigender war jedoch das bizarre Gefühl, dass er während der Kopfschmerzen gespürt hatte. Es fühlte sich wie … Verlangen an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich wie Leidenschaft an, die von Aufregung und ein bisschen Gefahr noch verstärkt wurde.
Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer diese Frau war, aber versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte nicht noch mehr Kopfschmerzen verursachen. Stattdessen setzte er den Stift wieder auf die Serviette auf, um den letzten Namen zu schreiben – Null. So hatte ihn der iranische Vernehmer genannt. Aber noch bevor er ihn aufschreiben oder wiederholen konnte, hatte er eine seltsame Empfindung. Die Haare seines Nackens standen ihm zu Berge.
Der wurde beobachtet.
Als er wieder aufblickte, sah er einen Mann im dunklen Eingang des Félines stehen. Er hatte Reid im Visier wie ein Falke, der eine Maus beobachtete. Reids Blut wurde kalt. Er wurde tatsächlich beobachtet.
Dies war der Mann, den er hier treffen sollte, dessen war er sich sicher. Hatte er ihn erkannt? Die arabischen Männer hatten nicht so geschienen. Hatte dieser Mann jemand anderen erwartet?
Er legte den Stift ab. Langsam und heimlich zerknüllte er die Serviette und ließ sie in seinen halbleeren kalten Kaffee fallen.
Der Mann nickte einmal. Reid nickte zurück.
Dann griff der Fremde nach hinten, nach etwas, das in seiner Hose steckte.
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