Читать книгу «Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Захара Прилепина — MyBook.
image

Kapitel 2

Sascha trennte sich von Wenja und Ljoschka an der Metro. Sie hatten entschieden, dass sie einzeln weniger Verdacht erregen würden.

Er fuhr aus Moskau in seine Provinzstadt – fünf hundert Werst von der Hauptstadt entfernt – mit der Elektritschka*, oder, wie es seine Freunde nannten, mit dem »Hundefuhrwerk[54]«. Er saß einsam in der Ecke des Waggons, bisweilen schauderte es ihn beim Gedanken an das kürzlich Geschehene, dann wieder erfasste ihn erneut der Rhythmus der Ereignisse, wenn alles klirrt und zerbricht. Sascha hörte sich in diesen Rhythmus hinein, es fühlte sich gut an.

Die Stadt hatte sich als schwach erwiesen, wie Spielzeug, sie zu zerbrechen war genauso sinnlos wie Spielzeug zu zerbrechen: Drinnen war nichts – es war nur leeres Plastik. Und das kindliche Gefühl des Triumphes, dieses überwältigende Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, kam daher, dass alles viel einfacher war, als es schien …

Immer wieder kamen Kontrolleure vorbei, Sascha ging auf die Plattform, beäugte durch das trübe Glas ihre blaue Kleidung, die strengen Gesichter. Beim nächsten Halt lief er über den Bahnsteig am Waggon mit den Kontrolleuren vorbei und setzte sich wieder in die Ecke.

Manchmal saugte er an der zerschlagenen Lippe, sie brannte mittlerweile schon nicht mehr so schmerzhaft – sie heilte wie bei einer Katze.

Der Zug schien lautlos zu fahren, Sascha hörte nichts.

Hinter dem Fenster zogen Verwahrlosung und Trostlosigkeit vorbei. Er spiegelte sich im Glas – kurze Haare mit einem widerspenstigen Schopf, unrasiertes Kinn, dunkle Haut, die Stirn in frühen Falten … Ein gewöhnliches Gesicht.

Sascha kam in seiner Stadt an, die Türen des Zuges klappten hinter ihm zu, als wäre er ein Überbleibsel, das einfach abgeschnitten wurde.

Den blödsinnigen Gedanken, im Treppenhaus würde schon ein Hinterhalt auf ihn warten, verscheuchte er (»… da sie im ganzen Lande Fallen errichtet haben«), und lief ins Haus.

Das Schloss machte das übliche Geräusch, ein weiches Klicken. Die Tür ging auf.

Die Mutter arbeitete in der Nachtschicht, die Wohnung war leer.

Sascha rief einen Bekannten an und bat ihn, ihn ins Dorf zu bringen. Der Mann antwortete missmutig: »Ich fahre heute«.

Er hinterließ der Mutter einen Zettel: »Mama, alles in Ordnung«.

Zum Dorf kam er unter dem üblichen Gerumpel. Die »Kopeke« schepperte, auf der Windschutzscheibe hing statt des Zulassungsscheins ein kleiner Kalender des aktuellen Jahres; die Jahreszahlen in fetter Schrift sollten die Verkehrshüter[55] täuschen. Auf dem Weg ins Dorf sahen sie nur einen Posten, der Milizionär schaute angewidert Richtung »Kopeke« und drehte sich weg.

Der Mann schwieg den ganzen Weg über, horchte manchmal auf den Motor, der die unterschiedlichsten Klappergeräusche von sich gab. Die Abfolge dieser Geräusche erschien Sascha willkürlich. Der Mann aber, so schien es zumindest, konnte alle Bestandteile dieser Kakophonie unterscheiden.

Als sie am Posten vorbeikamen, verkrampfte der Fahrer ein wenig, seine Augen wurden schwerer, er hielt das Steuer fester und konzentrierte sich allein auf die Straße, da er befürchtete, er könnte den Milizionär mit seinem Blick streifen – als wäre es der Leibhaftige höchstpersönlich. Einen Augenblick später war der Fahrer wieder ruhig. Und Sascha vermutlich auch.

Bald nach dem Posten ging die Asphaltstraße in einen Feldweg über. Dieser Feldweg lief, vorbei an Gärten und durch zwei ruhige Dörfer, in denen es nicht einmal Hunde gab, auf einen Fichtenwald zu. Im Wald war es finster. Die über einer ehemaligen Schmalspurbahn verlaufende Straße war eine Folter, es tat regelrecht weh, wenn das Fahrzeug gegen ihre harten Rillen prallte.

Die »Kopeke« irrlichterte mit einem Schweinwerfer in die Gegend, der zweite gab gerade ausreichend Licht für sich selbst. Im Lichtkegel bogen sich Äste mit zitterndem Laub. Angst vor Dunkelheit und Bäumen von irgendwo aus der Kindheit überkam ihn, Sascha zündete sich eine Zigarette an – es verging wieder.

Er erinnerte sich daran, wie er dem Vater einmal beim Mähen geholfen hatte, Sascha war damals etwa zehn. Eigentlich mähte der Vater, wenn er aber eine Rauchpause machte, unternahm Sascha seine Mähversuche, sonst rechte er das vom Vater gemähte Gras in Reihen. Die Dämmerung brach herein, sie hätten mit dem Lastwagen abgeholt werden sollen, doch niemand kam. Der Vater zündete ein Feuer an. Sascha sammelte Äste, er hatte Angst, sich vom Feuer zu entfernen. Der Vater aber verschwand von der Wiese in den Wald, Sascha hörte voller Angst das Knacken der brechenden Äste; plötzlich erschien der Vater wieder, seine Beute war reich. Das Feuer flammte auf, das Geäst knackte.

Jetzt kommt diese Wiese … Hier ist sie.

Der Lastwagen war schließlich doch noch gekommen. Der Vater sagte zum Fahrer: »Ich werde hier übernachten.« Als sie wegfuhren, blickte Sascha aus dem Fenster des Lastwagens. Der Vater stand vom Feuer abgewandt. Sein Gesicht konnte Sascha nicht sehen.

»Was? Was wäre gewesen, wenn du’s gesehen hättest? … Was hättest du gesehen?«

Die Stimme war ironisch, ja erregt. Sascha mochte diese Stimme nicht und antwortete ihr nicht. Einen Moment lang zog er die Augen zusammen und versuchte sich abzulenken.

Die verdreckte Windschutzscheibe. Der Kalender. Die abgeschlagene Sonnenblende. Das Innere des Handschuhfachs mit der abgebrochenen Klappe. Sascha legte die herausfallenden Streichhölzer zweimal zurück, dann warf er die Schachtel nebenden Schalthebel. Die Bartstoppeln des Fahrers.

Im Dorf verrottete langsam das Haus des Fahrers.

Saschas Großvater und Großmutter lebten auf dem Dorf, die Eltern des Vaters. Er hatte sie ein Jahr lang nicht gesehen. Weder im Herbst noch im Winter konnte man ins Dorf fahren, auch im Frühjahr war es fast unmöglich – es sei denn, der Mai war trocken und warm. Es sei denn – mit einem Traktor. Selten wagte sich jemand mit einem anderen Transportmittel dorthin.

Er wollte nicht mehr rauchen, die Zigaretten verkürzten nicht wie sonst den Weg, sondern waren wie dieser fad und geschmacklos; als das Auto über eine Rille des schmalen Weges holperte, fiel Asche auf die Hose, und der Fahrer sah mit scheelem Blick, wie Sascha leuchtende Fünkchen von sich wischte.

»Trottel«, beschimpfte Sascha sich selbst und bedauerte die durchgebrannte Hose, die nicht zu Ende gerauchte Zigarette warf er aus dem Fenster.

Sascha rutschte den Sitz hinunter, fast liegend streckte er die Beine und versuchte wenigstens für kurze Zeit, den von der Fahrt ermüdeten Körper zu entspannen. Eine weitere Unebenheit schleuderte Sascha zum Fahrer hin. Sascha wollte sich entschuldigen, überlegte es sich aber anders, und starrte aufrecht sitzend geradeaus.

… Im Kopf sammelten sich ziemlich wirre und für Sascha gleichgültige Dinge. Im nächsten Moment bemerkte er verwundert dieses Gekrabbel seiner – wie er meinte – Gedanken; eine flaue Wirrnis unkontrollierbarer Bemerkungen, eine Verbindung von etwas Undeutlichem mit schon Vergessenem.

Einsamkeit, so schien es Sascha, ist gerade deswegen unerreichbar, weil man in Wahrheit nicht mit sich selbst allein bleiben kann – unberührt von den Reflexen, die in dir jene hinterlassen haben, die an dir nur vorbeikamen, ohne besondere Beleidigung, Fehler und Verletzungen. Was sollte das für eine Einsamkeit sein, wenn der Mensch ein Gedächtnis hat – es ist immer da, streng und ruhig.

»Was ist das für eine Einsamkeit«, überlegte Sascha, »wenn alles, alles in dir und von dir Erlebte einem Eisverkäufer gleicht, der alles verkauft hat, mit seinem Bauchladen dennoch weiterzieht, ihn dann neben sich abstellt, wenn er sich schlafen legt, kalt …« Er grinste verschmitzt über sich selbst. »Irrsinn. Was für ein Irrsinn«, sagte eine Stimme. Sascha antwortete wieder nicht, aber dieses Mal stimmte er zu.

Das Dorf war dunkel, in vielen Häusern brannte kein Licht.

Für Sascha gab es keinen Grund, irgendwie lebendiger zu werden, nur weil er an den Ort zurückkehrte, an dem er aufgewachsen war.

Er hatte schon seit langem den Eindruck, es sei schwierig, bei der Rückkehr ins Dorf Freude zu empfinden, so trost- und farblos war, was sich dem Blick darbot.

Einige Dorfbewohner, die der »Kopeke« am Straßenrand langsam entgegenkamen, blieben stehen und schauten ins Auto. Wer ist das, zu wem kommen sie? Sascha versuchte, die Herumstehenden nicht anzuschauen, um nur ja niemanden zu erkennen. Alles war fremd.

Der Fahrer fuhr zu seinem Haus.

»Findest du hin?«[56] Das klang kaum wie eine Frage, eher wie eine ausdruckslos einfache Feststellung.

»Ich finde den Weg«, sagte Sascha, der sich Mühe gab, es nicht wie eine etwa beleidigte Antwort klingen zu lassen (was ihm schlecht gelang), er kroch aus dem Auto.

Das Geld für die Fahrt hatte Sascha schon in der Stadt gezahlt. Er streckte sich und ging auf der im Dunkel versunkenen Straße Richtung Elternhaus.

Der Weg war verwüstet und voller Dreck[57]. Aus manchen Häusern wurden Abfälle, Essensreste und Spülwasser direkt in die Gräben beim Haus gekippt, die Hühner pickten auf, was sie aufpicken konnten, der Rest verrottete friedlich vor sich hin. Sascha mied die Gräben, er erkannte sie am Geruch und der widerwärtigen Weichheit der feuchten, ringsum verfaulten Erde.

Den Weg zum Haus, das in der benachbarten Straße lag, beschloss er durch den Gemüsegarten abzukürzen. Um all dem Bedrückenden aus dem Weg zu gehen, war es außerdem besser, sich dem Haus unbemerkt, über den Hinterhof zu nähern, und sich so allmählich an Verfall und Verwahrlosung zu gewöhnen.

Er bog in den Trampelpfad ein, die Beine rutschten im Dreck auseinander. Sascha fuchtelte mit den Armen und fluchte leise …

Vergeblich wehrte sich Sascha gegen den Schmutz. Auf dem Weg durch den Gemüsegarten rutschte er trotzdem aus, besudelte sich, die letzten Meter bis zur Gartentür schwankte er, es war unvermeidbar, in den schwarzen Matsch zu treten.

»Und du hast auch nicht vergessen, wie der Riegel aufgeht?«, versuchte Sascha sich aufzumuntern, zusammenzureißen. Mühsam zwängte er die Hand in einen Schlitz der Gartentür (als Kind ging das leichter – mit den feinen Pfötchen) und schob den Riegel zur Seite.

»Nicht vergessen«, wisperte Sascha, und spielte sich selbst gekünstelte Freude vor: Ein letztes Mal gab er seiner Stimmung – wie einer Schaukel – einen Schubs, aber da war keine Freude, nichts.

»Nicht vergessen«, wiederholte er nochmals laut. Dieser Satz gehörte schon nirgendwo mehr hin, bezog sich auf nichts, er musste einfach etwas sagen, schloss die Gartentür und bewegte sich über den Hof zwischen den beiden, vom kranken Großvater nicht mehr genutzten Scheunen und der Getreidedarre. Weiter weg befand sich der Stall, in dem die Großmutter schon ein Jahr lang keine Ziege mehr hielt, seit drei Jahren gab es keine Schweine mehr, schon vor zehn Jahren hatte man die Kuh Domanka von dort auf den letzten Weg geführt. Aus dem Stall kamen keine Gerüche von Leben oder Mist, keine zottige Seele trampelte mehr mit den Hufen, niemand schnaufte, keuchte laut oder erschrak vor Saschas Schritten. Es roch nur nach Feuchtigkeit und Schmutz.

Sascha blickte sehnsüchtig auf das Haus: die kleinen Fenster waren dunkel. Weich und vorsichtig auftretend ging er den verfallenden Zaun entlang, neben der ziegelroten Hauswand, die auf der linken Seite dunkel aufragte, und blieb dann, warum auch immer, an der Hausecke stehen – hinter der Ecke befand sich die Haustür. Am Eingang stand eine Bank, Sascha erinnerte sich daran und wusste, dass die Großmutter immer auf der Bank saß, die weichen und müden Hände in den Schoß gelegt[58].

Auf der Straße neben dem Haus stand ein Kind mit einer Gerte. Während es etwas murmelte, peitschte es mit ihr in die Lache und zischte, hüpfte von den Spritzern weg.

Sascha machte noch einen halben Schritt.

Ja, die Großmutter saß auf der Bank – gleichmütig und regungslos, es schien, als würde sie gar nichts sehen. Und aus dem Verhalten des Kindes, seinem Spiel, seiner Stimme war zu schließen, dass es auch nichts sah, sich an die auf der Bank sitzende Großmutter gar nicht erinnerte. Die Großmutter und das Kind befanden sich gleichsam in unterschiedlichen Sphären.

Die Straße war leer, dunkel und voller Dreck, wie alle anderen Straßen des Dorfes. Hinter dem mit wildem Unkraut überwucherten Garten war die nachbarliche Ordnung zu erkennen, dort leuchteten einige Fenster gelb. Die Sonne ging gerade unter, war schon fast verschwunden.

Das Kind fuchtelte mit der Gerte herum und trampelte auf der Stelle.

Die Großmutter blickte, ohne zu blinzeln, über das Kind, über den Garten, über die Bäume hinweg.

Das Dorf ging seinem Ende entgegen und starb aus – das war in allem zu spüren. Umgewühlt verzog es sich, verschwand – wie ein dunkles Stück Eis trieb es still erstarrt davon. Die verlassenen, aus der Erde wachsenden Scheunen entlang der Straße waren mit ihren feuchten nebeneinander verfaulenden Pfosten ganz schwarz geworden. Auf den Scheunendächern wuchs Gras und sogar dünne Bäumchen bogen sich im Wind, die sich da angesiedelt hatten, aber keinen Grund fanden, in den sie ihre Wurzeln treiben konnten – unter ihren schwachen Wurzelchen befanden sich kalte, leerstehende Gebäude; dorthin, zu den zertrümmerten Milchtöpfen und löchrigen Fässern, schlängelten sich Nattern, die schon niemanden mehr störten. Gebüsch trieb aus und wucherte über den Weg.

Inmitten dieses langsamen, beinahe vollendeten Zerfalls nahm sich das Kind merkwürdig aus, beschämend, deplatziert.

»Saschenka …«, seufzte die Großmutter, als Sascha, die Zähne zusammenbeißend, um sich nicht umzudrehen und durch den Gemüsegarten zu fliehen, einen Schritt machte, die Tasche zu Boden stellte und der Großmutter die Hände entgegenstreckte.

»Wie bist du denn hergekommen, ha?«, fragte sie. »Mit dem Auto, oder? Alleine?«

Sascha antwortete, er sei allein und mit dem Auto gekommen, und sah dabei in das dunkle runde Gesicht der Großmutter und in ihre tränenden Augen.

»Ich dachte schon, wieso kommt Sankya denn nicht«, sagte sie, und Sascha spürte einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme. »Briefe schreibt er keine. Opa stirbt und Sascha wird es nicht einmal erfahren …«

»Stirbt« sprach die Großmutter wie »stüabt« aus und das Wort klang deshalb auch viel hilfloser und endgültiger. In ihm war keine Härte – sondern nur Vergänglichkeit.

Das Kind hob den Blick unabsichtlich zu Sascha, der die Großmutter umarmte und küsste, ihre weichen Schultern an sich drückte. Für das Kind war das vermutlich ebenso sonderbar, als hätte Sascha einen Baum oder die Ecke eines Schuppens umarmt.

Sascha hob seine Tasche auf und stand unentschlossen da. Die Großmutter öffnete die Haustür.

»Dem Opa geht’s ganz schlecht, wer weiß ob er den September noch erlebt … Er steht nicht auf, mag nichts essen, nur Wasser trinkt er«, sagte die Großmutter leise, und verließ den Ort des Geschehens.

Sascha wollte nicht in die Hütte gehen, in der Großvater lag, und folgte der Großmutter in die Küche. Nach guter dörflicher Gewohnheit begann sie sofort zu kochen, ohne Fragen, die würden erst später kommen.

In der Küche brannte eine schwache Lampe. Alles war voller Fliegen und als die Großmutter eintrat, flogen einige Fliegen lautlos auf. Nach ein paar Runden landeten sie wieder ruhig, waren satt und faul.

Die Großmutter sprach leise über ihre Söhne. Sie hatte drei Söhne gehabt, Saschas Vater und zwei seiner Onkel, von denen einer Saschas Taufpate war. Alle waren gestorben.

Als erster war der jüngste, Serjoscha, gestorben – er starb mit dem Motorrad, betrunken. Vor zwei Jahren im Sommer kam Saschas Taufpate Nikolaj bei einem Streit im Suff um. Er war der mittlere Sohn. Man begrub ihn neben dem jüngeren Bruder.

Und vor eineinhalb Jahren starb Saschas Vater Wasilij in der Stadt, aus der Sascha gekommen war. Er war der Gebildetste in der Familie, unterrichtete an der Universität, war jedoch auch ein Trinker, am Ende trank er hart und schonungslos[59].

Sascha brachte den Sarg mit dem Vater im Winter … der Weg war ein Alptraum … es war ihm unerträglich, sich an diese Fahrt zu erinnern.

»Ich hab den Hof gekehrt und bin zu Opa gegangen«, erzählte die Großmutter. »Ich fragte: ›Opa, ist es wahr, Wasja ist gestorben? Ich glaube, ich hab das geträumt.‹ ›Ist nicht wahr!‹ sagte er … Wie konnte er nur sterben, Sankya …«

Sascha saß am Tisch, der mit einem alten Tischtuch bedeckt war, und drehte eine Zigarette in den Fingern.

Die Großmutter sagte leise: »Ich setz mich ans Fenster und sitze und sitze. Ich denke, würde mir jemand sagen: Geh tausend Tage barfuß in egal welchem Winter, um deine Buben zu sehen – ich würde sofort gehen. Würde nichts sagen, sie nicht mal berühren, einfach nur sehen, wie sie atmen.«

Die Großmutter sprach ruhig, hinter ihren Worten stand das blanke Entsetzen, jene fast unvorstellbare Einsamkeit, an die Sascha vor Kurzem gedacht hatte, die Einsamkeit, die sich mit ihrer anderen Seite öffnet, die große Einsamkeit, die selbst ihres Echos beraubt ist. Sie antwortete auf nichts, auf keine Stimme.

»Waskja hat so viele Bücher gelesen, steht denn in keinem geschrieben, dass man Wodka so nicht trinken darf?«, fragte die Großmutter Sascha ohne eine Antwort zu erwarten. »Er hat doch unzählige Bücher gelesen, und heißt es dort nicht, dass man vom Wodka stirbt?«

Sascha schwieg.

»Und jetzt liegen sie alle dort draußen. Sie stehen nicht mehr auf, trinken keinen Wodka mehr, fahren nirgendwo hin, sagen niemandem mehr ein Wort. Zu Tode getrunken haben sie sich. Der Opa und ich dachten, wir werden neben dem jüngsten Buben liegen, aber Kolkja und Waskja haben sich in unsere Gräber gelegt. Für uns ist da jetzt nicht einmal mehr Platz.«

Die Großmutter kochte gleichzeitig mit zwei Pfannen – in einer wärmte sie Kartoffeln und Fleisch auf, in der zweiten zischten und zerbarsten Saschas geliebte Karawajtschiki*, dünne, fast durchsichtige Pfannkuchen mit einem süßen, knusprigen, dunklen Muster am Rand. Die Großmutter kochte ohne Hast, geschickt und behände, dachte nicht daran, dass sie kochte, und hätte wahrscheinlich die Augen dabei schließen können, sich im Geiste von dem, was sie tat, ganz und gar entfernen: »Heuer im Winter haben wir die letzten Enten geschlachtet«, erzählte die Großmutter, während sie Kartoffeln und Fleisch in der Pfanne umdrehte, »ich hab keine Kraft mehr, zum Bach zu gehen. Runter geht’s, aber zurück nur mühsam, die Enten warten auf michund rufen mich.«

Die Großmutter wechselte übergangslos von einem zum anderen, es ging aber immer um eines: Alle sind gestorben und es gibt nichts mehr.

»Opa ist völlig taub, er hört nichts mehr … Das letzte Mal ist er im Juni aufgestanden. Er ging aufs Klo und fiel im Hof nieder. ›Warum bist du aufgestanden?‹ fragte ich ihn. ›Ich hab dir doch einen Kübel hingestellt!‹« Er war mit letzter Kraft aufgestanden.

Die Großmutter drehte das Feuer unter der Pfanne mit den Kartoffeln und dem Fleisch zurück, nahm den letzten Karawajtschik aus der anderen Pfanne und ging in die Hütte.

Sascha stand auf, torkelte durch die Küche und ging auf die Straße, um zu rauchen. Beim Hinausgehen hörte er, wie die Großmutter laut zu Opa sagte: »Sankya ist gekommen! Sankya!«

1
...
...
10