»Lassen sie den Hund von der Leine oder nicht?«, überlegte Sascha befremdet, als ginge es dabei nicht um ihn. Er entschied, sich nicht mehr umzudrehen.
Die Jungs liefen aus dem Hof zur Straßenbahnhaltestelle, an der nur ein paar Menschen standen – allzu gern hätten sie sich in der Menge verloren.
Von der Haltestelle fuhr eine Straßenbahn ab. Sie liefen ihr hinterher und holten sie nach dreißig Metern ein.
Wenja rannte als Erster und winkte freudig mit den Händen, er rief etwas Unverständliches und machte dabei wütende Zeichen Richtung Straßenbahnfahrerin, deren zufriedenes Gesicht im Rückspiegel aufblitzte.
Die Straßenbahn hielt an, die mittleren Türen des Waggons öffneten sich, die Jungs stürzten in die Tram, Ljoscha Rogow eilte sofort zur Kabine der Straßenbahnfahrerin. Sascha bemerkte, wie er zur Fahrerin etwas sagte, einen Geldschein hinschob, sich entschuldigte und die Tür schloss. Die Tram setzte sich in Bewegung.
Aus dem Hof kamen die Milizionäre gelaufen, an ihren Bewegungen sah man, dass sie sofort errieten, wohin die Flüchtenden verschwunden waren.
Wenja zeigte den wütend Gestikulierenden beide Mittelfinger – plötzlich hielt die Tram ruckartig an.
Die vordere Tür öffnete sich und es stiegen fünf oder sechs Männer der Sondereinheit ein.
Wenja drückte den Notfallknopf, die Tür öffnete sich langsam und mit unzufriedenem Knarren; die brutalen Monster waren schon da und begannen, Wenjas Kopf gegen die Haltestange zu schlagen.
Sascha hielt sofort die Hände über den Kopf. Mit kräftigen Fußtritten stießen sie Sascha auf die Straße.
Auf der Straße schlugen sie ihn – kraftvoll im Genick gepackt – mit dem Kopf gegen die Tram. In den Augen flogen leichte rote Funken. Es war zu ertragen …
Sie stellten die Jungs als »Wäschespinne« auf – zwangen sie, die Hände hinter den Kopf zu legen, die Stirn gegen das Metallgehäuse der Tram zu drücken, und die Beine maximal weit auseinander zu stellen. Damit es besonders weit war, schlugen sie ihnen auch einige Male gegen die Beine.
Die Sondereinheitler wollten natürlich mehr. Sie hatten die Fliehenden äußerst elegant eingefangen, jetzt kochte rohe Wut in jedem von ihnen[40] – eigentlich sollte jeder Gefangene sofort in Stücke gerissen werden. Nur die neugierigen Gesichter einiger Passagiere, die sich ans Fenster der Tram drückten, hinderten die Häscher daran, die Arme reihenweise auszurenken. Sie traten nervös von einem Bein aufs andere, drückten an den Gummiknüppeln herum, verzogen die Gesichter.
Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, sah Sascha, dass Wenja und Rogow unweit von ihm standen – breitbeinig wie er selbst.
Der Motor sprang an, und der Bus, der die Gleise versperrte, setzte zurück.
»Na, was jetzt, alle einladen?«, war eine Stimme zu hören. »Eine Revolution, verdammte Scheiße, wir bringen euch schon bei, was das heißt.«
»Was, Hundesohn? Eine Revolution willst du?«, wurde irgendwo in Saschas Nähe gebrüllt, doch es galt nicht ihm, sondern – offenbar – Wenja. »In einer halben Stunde wirst du das rote Blut der Revolution pissen!«
Ein Schlag donnerte nieder, noch einer. Jemand konnte sich nicht gedulden, drehte durch.
Sascha drehte den Kopf Richtung Wenja und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick; es war, als stünde jemand hinter ihnen[41] und wartete nur auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.
»Hat man dir nicht gesagt, die Hände hinter den Kopf und nicht bewegen?«
Da kam noch ein weiterer Hund, samt ihm Milizionäre, deren Näherkommen schon aufgrund der immer lauter werdenden, unablässigen Mutterflüche zu erraten war.
Dem Kläffen und Herumgezerre nach zu schließen, konnten sie den Hund kaum zurückhalten. Völlig in sich zusammengesunken wartet Sascha jeden Moment darauf, dass ihm ein Stück vom Schenkel herausgebissen würde.
»Also, was diese Ratten da … aufführen!«, schimpfte einer der Milizionäre, schnaubend und nach Luft ringend. »Die ganze Straße haben sie verschissen … die Geschäfte … Autos … Die sind doch Ungeziefer … Man sollte diese Tiere gleich hier, auf der Stelle, erschießen! … Du, Dreckschwein, was machst du?«, wandte er sich an Wenja, der sich mit dem Kopf gegen die Tram stemmte. »Ha? Dich, du Rotznase, frage ich! Was du machst?«
»Ich stütze die Tram«, antwortete Wenja mit klarer und deshalb unglaublich frecher Stimme. Sascha grinste die rote Seitenwand der Tram an, die die verschwitzte Stirn angenehm kühlte.
»Ach, du …«, hörte Sascha die Stimme des Milizionärs, und da er verstand, dass Wenja jetzt geschlagen würde, schaute er abermals zur Seite. Ein Gummiknüppel, lang wie ein Schlauch, donnerte krachend auf den Rücken des Gefährten.
»Was?«, schrie der Milizionär, der noch immer schwer atmete. »Noch einmal? Was? Nein, antworte du! Nochmal?«
»Geil dich nur auf«[42], antworte Wenja laut, und das klang nicht wie »ja, noch einmal«, sondern wie »Na los, na los, die Zeit kommt schon noch, und dann werden wir schon sehen …«
Hier trat einer von den Teufeln im Kampfanzug hinzu: »Wie sprichst du denn mit dem Onkelchen Milizionär?«
Er trat – als würde er mit einer Sense ausholen – mit seinen riesigen Quadratlatschen in Militärstiefeln Wenja gegen das Knie, der schlagartig und vor Überraschung glucksend umfiel. Und sofort traten sie ihm mit dem Stiefel ins Gesicht.
»He, hört endlich auf!«, schrie Sascha, von sich selbst überrascht.
Offensichtlich hätte er auch etwas abgekriegt, aber die Straßenbahnfahrerin lenkte ab.
»Herrschaften! Bringt die jungen Leute von der Tram weg. Im Waggon sind Kinder. Wir müssen weiterfahren.«
»Semjonitsch, alle nun einladen oder nicht?«, fragte einer.
»Nein. Der Patrouillendienst bringt sie zur Sammelstelle. Wir ziehen noch durch die Höfe.«
Die Sondereinheit lud ein[43], und der Bus, der sich ruckartig von der Stelle bewegte, fuhr weg.
Sie packten Wenja am Kragen. Sascha und Ljoscha forderten sie auf, einen Schritt zurück zu machen. »Noch einen Schritt zurück«. Die Tram knarrte und setzte sich in Bewegung.
Sascha, der unter leichtem Schwindel zu blinzeln begann, schaute zum Himmel.
Wenja und Ljoschka wurden hinterm Rücken Handschellen angelegt …
»Hände zurück!«, wurde Sascha befohlen.
Etwas Kaltes drückte die Hände zusammen.
Sie gingen die Straße hinunter, angetrieben von den Flüchen der Milizionäre. Manchmal heulte ein Schäferhund bösartig auf.
Wenja hob immer wieder den Kopf und versuchte mit feuchtem Pfeifen durch die zerquetschte Nase die Luft einatmend das daraus fließende Blut zu stoppen.
Sascha betrachtete interessiert, was sie und ihre Freunde angerichtet hatten[44].
Sie hatten die Straße ordentlich aufgemischt – es sah aus wie eine umgeworfene Einkaufstüte.
Einige abgerissene und zertrampelte Trikoloren lagen auf dem Boden.
Die Straße war mit Glas übersät, Blumen lagen da, auch eine Menge Dreck, der aus den Mülltonnen herausgefetzt worden war – es sah so aus, als wäre auf der Straße ein Regen aus Glassplittern niedergegangen, aus Mist und Blütenblättern.
Irgendwo lagen Stühle herum, auch die Kette von der Absperrung fand sich.
Alle Straßenlaternen waren zerschlagen.
»Sie haben Jana erwischt«, erriet Sascha plötzlich, als er die pelzgefasste abgerissene Kapuze, von der Fäden herabhingen, am Boden liegen sah.
»Das ist Janas Kapuze. Sie haben sie an der Kapuze gefasst.«
Von Zeit zu Zeit kamen ihnen Leute entgegen, von denen manche mit Interesse, manche voller Schadenfreude die Festgenommenen anschauten.
»Gefangengenommen …«, dachte Sascha ironisch. »Ich bin in Gefangenschaft geraten … Und sie können mich einsperren[45]«, dachte er seinen Gedanken ganz ernst zu Ende.
Das brennende Auto war aus der Entfernung zu sehen. Rundherum hetzten Feuerwehrleute. Aus den Schläuchen kam Wasser, vom Auto stieg schwerer Rauch auf.
»Also, was für eine Scheiße habt ihr da angerichtet!«, konnte sich einer der Milizionäre nicht beruhigen, er war der dickste und sprach kurzatmig. »Für welche Scheiße soll das gut sein? So etwas anrichten, um alles hin zu machen?«
Niemand machte Anstalten, ihm zu antworten.
Ljoscha schaute ruhig geradeaus, und seinem Gesicht war anzumerken, dass er es nicht für notwendig hielt, mit dem Fragenden zu sprechen.
Sascha hätte antworten können, aber die zerschlagene Lippe brannte – und er leckte ununterbrochen Blut.
Wenja schien hingegen nicht einmal die gebrochene Nase aufzuregen, und glucksend fragte er: »Was wurde angerichtet?«
»Das alles, habt ihr das angerichtet?«
»Wer soll das denn angerichtet haben?«, fragte Wenja nach, als würde es ihn ernsthaft beschäftigen.
In diesem Moment schwenkte eine Kamera direkt auf Wenja, und der Milizionär drängte die Journalisten fluchend zur Seite.
»Hör mal, bind mich los, damit ich wenigstens das Blut abwischen kann«, nützte Wenja die Situation aus. »Sonst brummen sie euch Gewalt gegen einen Minderjährigen auf[46]. Meine Nase ist gebrochen. Ich werde Beschwerde gegen euch einreichen[47].«
»Ich scheiß auf deine Beschwerde. Verstanden?«, brauste der Milizionär auf. »Schreib nur, das ist mir egal. Ich werde dir auf der Station noch den Arsch aufreißen.«
Wenja spuckte rot aus und verstummte.
Die Jungs des »Sojus Sosidajuschtschich« wurden aus dem Torweg abgeführt – manchmal drei, vier Leute, manchmal gleich zehn auf einmal.
Fast alle Verhafteten waren geprügelt worden, hatten rote, blutige Ergüsse, schwer verkrustete Augen, aufgeschwollene Nasen und zerschlagene Lippen.
Ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ganz blass war, mit zitternden Backenknochen, einknickenden Beinen und einem dicken, schmutzig-blutigen Klumpen im Genick bot einen schrecklichen Anblick. Er wurde am Arm gestützt.
Bei vielen war die Kleidung zerrissen. Man konnte die jugendlichen, dünnen Körper sehen.
Sascha kannte sie alle – wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen[48].
Irgendwer versuchte herumzualbern, aber die Milizionäre brüllten durchdringend, und befahlen, das Maul zu halten[49].
Kurz darauf wurde noch ein ganzer Haufen »in Gefangenschaft« genommen, sechzig, siebzig Personen. Der Großteil war ohne Handschellen.
»Los, unseren nehmen wir auch die Armbänder ab«, sagte der Milizionär mit Atemnot zu seinen Kollegen.
»Wozu?«, fragte einer der Untergebenen.
»Das müssen wir.«
Der Untergebene zuckte verständnislos mit den Schultern, und der Vorgesetze musste es erklären: »Verprügelt haben sie die ›Kosmonauten‹, aber wir müssen sie am Posten abliefern. Der da, bei dem ist vielleicht die Nase gebrochen, das müssen wir dann rechtfertigen. Diese Scheiße braucht keiner. Verstanden? Wir bringen sie zur Sammelstelle – und Tschüss.«
Sie holten Saschka, Ljoschka und Wenja aus der Menge, die sich gebildet hatte, um ihnen die Handschellen abzunehmen. Sie führten sie lange herum, fanden die Schlüssel nicht, und fluchten leise.
Sascha leckte seine Lippe ab. Wenja gelang es nicht, das Blut zu stoppen, es trocknete auf seinem Bart zu einer schwarzen Kruste. Ljoschka beobachtete alles aufmerksam und behinderte sie ganz offensichtlich beim Abnehmen der Handschellen, indem er hin und her ging und die Hände zurückzog.
»Arschloch, steh ruhig!«, schrien sie ihn an. Ljoschka erstarrte.
»Vorwärts, Laufschritt Marsch!«, befahlen sie ihnen.
Die Jungs trudelten im Laufschrit[50]t zu den ihrigen, die – in einer Entfernung von dreißig, vierzig Metern – vorweggingen. Die Festgenommenen wurden von Leuten in Armeemänteln und mit Kappen dicht umstellt.
»Wir müssen abhauen«[51], sagte Ljoschka leise, als sie sich von den Männern vom Patrouillendienst, die die Handschellen in ihre Gürteltaschen packten, entfernt hatten.
»Probieren wir’s«, antwortete Wenja.
»Los«, sagte Sanja, und sie tauchten – als könnte es gar nicht anders sein – leicht und frei – in die nächste Gasse ab, auf halber Strecke zu den Gefangenen, die schon in einer Kolonne zusammengetrieben waren.
Als sie an Geschwindigkeit gewonnen[52] hatten, hatte Sascha ein Gefühl, als würde er auf einer Schaukel immer höher und höher gezogen und schließlich losgelassen.
In der Nähe blitzte eine Rasenfläche auf (fast wäre er hingefallen, er stützte sich mit den Händen wie ein Affe ab, riss sich die Handfläche am Schotter auf, was für ein Schotter, woher?), ein Fenster, noch eins; ein Kinderwagen, eine Frau, die ihn schiebt (die vor Wenjas vertrocknet-blutiger Visage zurückschreckte) und um die Ecke bog, ein aus dem Hof fahrendes Patrouillenauto der Miliz (»… nicht bemerkt? Hätten ihnen direkt … in die Hände laufen können …«), eine Bank (warum auch immer quer über die Straße), ein Zaun (»Komm nicht drüber … zu hoch«).
Sekündlich schien ihm, die Bewegung der Schaukel müsse jetzt, gleich jetzt ihren Höhepunkt erreichen, und ihn jemand am Genick packen und zurückreißen, unaufhaltsam.
… Sascha sprang von der Mauer und fiel, überschlug sich.
»Wirklich, es ist sehr hoch, wie bin ich da hinauf …«
Daneben fiel – warum auch immer auf allen vieren – Wenja herunter, mit seinem schwarzen, struppigen und blutigen Bart.
Nur Rogow stand auf den Beinen, setzte sich und richtete sich sofort wieder auf.
Rogow fasste Wenja am Kragen, der stampfte mit den Beinen – stand auf und lief weiter.
Hustend und schnaubend – lange, zähe, süß-saure Speichelfäden hinter sich herziehend – stürmten sie durch die Höfe, bis sie keine Kraft mehr hatten und sich völlig erschöpft im Eingang einer »Chruschtschowka«* verstecken konnten.
Sie knieten auf allen vieren, mit trüben Augen, geschlossenen Mündern, versuchten vergeblich zu atmen. Aus dem Mund troff Speichel. Jemand betrat den Eingang, aber es war ihnen nicht peinlich …
»Sohn, du …warst in Moskau?« Mutters Stimme klang durch das Telefon verzweifelt und traurig.
Sascha hätte am liebsten sein Gesicht zerkratzt, als er diese Stimme hörte.
»War ich«, antwortet er dumpf, und zog dabei die zerschlagene Lippe hoch, weshalb das Wort »war« wie »ar« klang.
»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben«[53], sagte seine Mutter, und in ihrer Stimme klang noch die Hoffnung durch, dass Sascha sie umstimmen könnte, sagen würde, all das sei nicht wahr und er habe nichts Schlimmes gemacht.
»So … ein Unsinn …«, antwortete er.
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