»Sankya? Was kommt er denn nicht herein? Ich höre, dass du dort mit jemandem schwätzt.«
Es war völlig dunkel. Das Dorf war lautlos.
Das Kind war weggegangen. Neben der Pfütze lag seine Gerte.
Die Zigarette brannte. Die Asche fiel nicht hinunter.
Ein Betrunkener stapfte vorbei, ein verkümmertes Männlein, das Sascha nicht beachtete.
»Was kommst du denn nicht zu mir, Sankya?«, fragte der Opa, als Sascha die Hütte betrat und sich an Opas Bett setzte.
In seiner Stimme schwang kaum hörbar die Ironie des Alten mit – fürchtest dich wohl vor mir, deinem sterbenden Opa. Und in der Ironie war zugleich Mitleid zu hören – na ja macht nichts, Jungchen, ich halte dich nicht lange auf.
Opa war dünn geworden, die spitzen Schultern, die schwachen Augen klebten zusammen. Der Großvater bereitete sich aufs Sterben vor. Wenn er sprach, knackste es kaum hörbar im Hals und die Wörter kamen praktisch unverständlich heraus.
»Sterben ist nicht schrecklich, Sankya … Das Leben ist sehr lang. Es reicht schon. Da liege ich jetzt und kann nicht sterben. Ach Sankya, Sankya …«
Sascha blickte den Opa schweigend an.
»Lass ihn doch erst mal essen nach der Reise!«, sagte die Großmutter, die hereingekommen war. »Du wirst noch genug reden können! Du stirbst schon nicht, während er isst!«
»Lass ich ihn etwa nicht essen?«, antwortete der Opa. »Geh essen, Sankya …«
Sascha ging folgsam in die Küche. Der Opa murmelte etwas, sprach mit geschlossenen Augen mit jemandem.
Die Großmutter fragte Sascha nach der Mutter, ob die Mutter nicht wieder heiraten werde, ob er selbst nicht trinke und wo er jetzt arbeite. Die Mutter wird nicht heiraten, Sascha trinkt nicht, zumindest nicht so, wie die Großmutter meinte, über die Arbeit erzählte er Lügen. Er arbeitete, war aber zu faul zu erklären, was er tat. Für die Alten ist Arbeit die Erde pflügen oder Fabrik, oder das Krankenhaus, oder die Schule … Sie haben recht. Aber heute ist diese Arbeit in den meisten Fällen zum Schicksal von nicht sehr erfolgreichen, vom Leben benachteiligten Menschen geworden.
Die Großmutter trug auf – wie man das im Dorf so nannte – und Sanja trank den Selbstgebrannten gerne zu Fleisch und Kartoffeln, um sich ein bisschen zu erleichtern.
Er trank einmal, zweimal, dreimal.
Im Nebenzimmer lag der Großvater im Sterben. Sascha aß mit großem Appetit. Er war hungrig. Die Karawajtschiki schmeckten so gut wie in der Kindheit. Die Großmutter erzählte davon, was im Dorf passierte.
Im letzten Haus in der Straße lebte ein Mann mit Spitznamen Chomut. Sascha kannte ihn gut. Chomut hatte ihn, Sascha, gerettet. Und der Vater hatte Chomut auch gekannt, sie waren befreundet; ihre Freundschaft war unspektakulär und still gewesen.
Chomut war gesund, helläugig, stark wie ein Pferd. Letzten Sommer hatte er sich erhängt. Die Söhne waren aus der Stadt zu ihm gekommen, um im Gemüsegarten zu helfen. Bei der Arbeit im Gemüsegarten zerstritt sich Chomut mit den Söhnen. Er hatte sich mit ihnen noch nie gut verstanden.
Er schimpfte und sagte: »Ich werde es euch jetzt mal zeigen!« Er ging ins Haus. Die Söhne zuckten nur mit den Schultern und arbeiteten weiter. Als sie dann heimkamen, fanden sie den Vater im Schuppen, er hatte sich an einer Querstange erhängt, die Beine angezogen.
Chomut gab’s jetzt also nicht mehr.
Zwei Häuser neben Saschas Geburtshaus lebte ein Mann mit Spitznamen Kommissar gemeinsam mit seiner Mutter. Kommissar wurde er deshalb genannt, weil er in den letzten fünf Jahren nichts getan hatte, als die Dorf bewohner zu beobachten, vom frühen Morgen an stand er an den Zaun gelehnt da. Er ließ sich scheiden, lebte von der Pension seiner Mutter. Sascha spürte in ihm immer etwas Ungesundes. Womit beschäftigt sich so ein vierzigjähriger Bock ohne Frau den ganzen Tag? Die Tochter wächst allein in der Stadt auf, ist noch ganz klein … Bei einem derartigen Leben kann man sich ja nur auf hängen. Aber er hängte sich nicht auf. Zuerst war sein stilles Mütterchen gestorben, und bald starb auch er selbst, irgendwas mit dem Herzen.
Zwei Söhne einer unmittelbaren Nachbarin starben schon damals, als Saschas jüngster Onkel verunglückte[60]. Auch die Nachbarsjungen verunglückten, auch mit den Motorrädern. Das kam so: In den letzten Jahren der ehemaligen Regierung hatte die Bauernschaft – endlich – Fleisch angesetzt und ein wenig Geld angesammelt. Das Erste, was einer aus dem Dorf macht, der sein ganzen Leben im Schweiße seines Angesichts geschuftet hatte: Er verhätschelt sein Kind, wie alt es auch sein mag. In jenen Jahren wollten die Jungs aus dem Dorf vom Fahrrad aufs Motorrad umsteigen. Im Dorf gab es keine Verkehrspolizisten, ja, auch den Revierinspektor sah man monatelang nicht, also fuhren alle betrunken. Und sofort fingen die Unfälle an: Sie verunglückten schrecklich, wurden in Stücke zerfetzt, vor dem Tod segelten sie – schlagartig aus dem Sattel gehoben, fünfzig, ja oft siebzig Meter weit, zertrümmerten ihre blöden Köpfe an Bäumen und Zäunen, brachen sich alle Knochen, ihre Körper verwandelte sich in weichen rosafarbenen Matsch, und manchmal traf es auch junge Mädchen, die auf dem Rücksitz gesessen hatten. Und wenn die Mädels auch nicht starben, so brachen sie sich die Wirbelsäule und lagen dann bewegungsunfähig da, wiederholten in Gedanken jede Minute jenes unglücklichen Abends.
Sascha, der als Kind immer in den Dorfladen gelaufen war, um Brot zu holen, traf dort drei, manchmal fünf und mehr Frauen in schwarzen Kleidern; ihre Söhne waren alle verunglückt. Die Frauen standen da und sprachen leise davon, wie ihre Kinder gelebt hatten und wie sie gestorben waren. Und einige der Wörter, die er im Vorbeigehen aus den schwarzen Mündern der Frauen hörte, schwirrten noch lange in Saschas Kopf herum, ohne den richtigen Platz zu finden.
Manche verließen das Dorf in den letzten Jahren, erzählte die Großmutter; jemand war an einer frühen Krankheit still gestorben, und im Großen und Ganzen war ein einziger Mann übrig geblieben, der – niemand erinnerte sich daran, warum eigentlich – Solowej, die Nachtigall, genannt wurde. Er betrank sich jeden Abend – man wusste nicht wo —, kam nach Hause, schrie seine sprachlose Frau blöde an, die längst schon alles verdammt hatte und in ihrer Ausweglosigkeit verstummt war. Kinder hatten sie keine. Abends hörte man im fast leeren Dorf Solowejs Gebrüll.
War er betrunken, erkannte er kaum jemanden, ging durchs Dorf, ohne etwas zu bemerken, und nur der wehmütige Blick seiner Frau brachte ihn aus der alkoholischen Ferne in die trübe Realität zurück und erweckte bei ihm das geradezu physische Verlangen, zu brüllen und zu schimpfen, ohne übrigens zu wissen, was er dabei von sich gab.
Das war er, Solowej, der da am Haus vorbeiging, als Sascha am Zaun rauchte.
Die Großmutter räumte den Tisch ab und ging, um für Sascha im Zimmer, von Opas Liege durch eine Zwischenwand getrennt, das Bett zu machen.
Während sie das Bett herrichtete, erinnerte sie sich daran, dass in diesem Bett Wasja, ihr eigenes Fleisch und Blut, als kleines Kind geschlafen hatte; nach dem Krieg wurde er neben der Bauernarbeit ohne alles Getue[61] zu einem dünnen, hochaufgeschossenen, aber früh kahl gewordenen Jungen aufgepäppelt, der dann das Elternhaus verließ – zurück kam er als kräftiger junger Mann, in dem allein sie mühelos noch immer dasselbe Kind erkennen konnte. Nun war Wasja also das Blut im Leib gestockt und er hatte aufgehört, zu sein.
Als Wasja das erste Mal Probleme mit dem Herzen hatte, träumte sie von ihm. Im Schlaf lag Wasja auf dem Bett und sagte: »Mama, hier tut es weh, ich kann nicht atmen«, und zeigte auf das Herz.
Sie fuhr sofort zu Wasja und kam unerwartet in die Stadt, in der sie schon zehn Jahre nicht gewesen war und dort musste sieerfahren, dass der Traum Wirklichkeit war.
Sascha brachte sie ins Krankenhaus, in das der Vater eilig eingeliefert worden war.
Der Vater lag ruhig, mit dunklem Gesicht, in sich hineinhorchend[62]. Im Innern schlug das kranke Herz. Die Großmutter saß daneben und blickte ins Gesicht des Sohnes. Der Vater wurde operiert, man schnitt ihm die Brust auf – während die Ärzte zauberten, befand sich sein Herz eine halbe Stunde außerhalb des Körpers. Er überlebte. Er durfte nichts trinken. Als aber bald danach Brüderchen Kolja starb, begann Wasja doch zu trinken. Er betrank sich einmal, dann noch einmal, dann kam er ins Krankenhaus und starb schnell, binnen zweier Tage.
Sascha wusste, dass die Großmutter das Bett machte und zum wievielten Male darüber nachdachte, warum nur, warum sie nicht von ihm geträumt hatte, als Wasja zum zweiten Mal schlecht wurde, warum rief er sie nicht, und nie konnte sie eine Antwort darauf finden.
Er erschien nicht im Traum und rief nicht nach ihr. Im Winter wurde bei den Nachbarn angerufen – das einzige Telefon im Dorf – und es hieß, Wasja sei gestorben, richten Sie das aus, wir bringen ihn fürs Begräbnis. Und drei Wochen nach dem Begräbnis kam Saschas Brief, den Sascha eineinhalb Wochen vor dem Tod des Vaters geschrieben hatte. Aufgrund der schlechten Arbeit des Postdienstes überschritt der Brief alle Zustellfristen, fast war es, als wäre er zu Fuß gegangen. In diesem Brief hatte Sascha geschrieben, dass der Vater sich gut fühle.
»Wie konnte das alles so plötzlich passieren?«, fragte die Großmutter Sascha, der noch einmal aufgestanden war, um zu rauchen und sich danach hinzulegen. »Du hast im Brief geschrieben, dass es dem Vater gut geht. Ich lese das, und er ist schon im Grab. Und nichts ist ihm besser geworden. Er hat sich ein Leben lang abgequält.«
Die Großmutter blickte Sascha ruhig an, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Die Leute sagen manchmal, dass die Enkel mehr geliebt werden als die Kinder. Das ist nicht wahr …«, dachte Sascha.
Die Großmutter liebte ihre Söhne. Sascha war für die Großmutter eine undeutliche Erinnerung an jene Zeit, als die Familie vollständig und die Söhne noch am Leben waren. Sie hatte aber keine Kraft, in Sascha die Züge seines Vaters zu sehen, in ihm ihr eigenes – dem Sohn und dem Enkel weitergegebenes – Blut zu spüren. Sascha war ein eigenständiger Mensch, beinahe schon fremd …
Ganz selten aber schaute die Großmutter Sascha in der Hoffnung an, der verstorbene Sohn möge im Antlitz des Enkels erscheinen, ein Zeichen geben, riss sich davon aber sogleich los: »Nein, er ist es, nicht er …«
Sascha verstand das und akzeptierte gelassen die stille, kaum merkliche, hauchdünne Entfremdung der Großmutter. Bewusst war ihm das nicht aufgrund einer klaren Einsicht und obwohl er es eher vor sich selbst verheimlichte, spürte er, dass es ihm so – in einer gewissen Distanz zur Großmutter – leichter fiel, sich hier aufzuhalten. Wenn jeder in seinem Herzen sein Unglück trägt, sollten sich diese Herzen möglicherweise besser nicht berühren. Vermutlich ist es besser, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten, wenn es ohnehin schon unmöglich ist, das Ganze zu ertragen.
Der Großvater wollte jedenfalls nicht mehr länger leiden, es zog ihn zu den Kindern[63].
Er ertrug den Tod der beiden Söhne stoisch und noch ein Jahr vor dem Tod des dritten war er bei Kräften gewesen. Kräftiger als Sascha – Sascha konnte sich erinnern, wie er sich über Opas Gesundheit gewundert hatte, als sie einmal auf dem Hof arbeiteten und Opa mit einem riesigen Hammer herumwerkte, den Sascha kaum hochheben konnte.
Aber dann verließ ihn auch der letzte Sohn, und Opa überlegte sich, ob er weiterleben solle.
In Opas Kopf gab es keine Abbilder der Vergangenheit. Es gab keine Erinnerungen an jene Zeit, als er, ein junger Stoßarbeiter, auf dem Mähdrescher arbeitete, und daran, als er, ein junger Offizier, mit der Waffe Befehle erteilte. Weder an die fast dreijährige Gefangenschaft erinnerte er sich, noch an das Leben nach dem Krieg. Es gab nicht die Klarheit einer guten Erinnerung. Es gab Nachklänge, Unausgesprochenes, Fetzen an Erinnerungen, kein einziger Gedanke hatte sein Ende gefunden, alles wackelte wie in einem dunklen Waggon, mit flackerndem, fast kraftlosem Licht – irgendwo Stimmen unsichtbarer Mitreisender, das Geschirr scheppert, es gibt keinen Zugbegleiter, und hinter dem Fenster blitzt etwas Verschwommenes auf.
Opa horchte, konnte aber nichts erkennen.
Großmutter ging vorbei, das bemerkte Opa. Und wieder konnte er nichts denken, nichts über sie, nichts über sich, nichts über irgendjemand. Es war nichts zu entscheiden, und nichts entschied sich von selbst. Alles war verflossen und verwischte sich. Das Farblose rollte heran. Selten tropft das, was sich auf dem Boden findet.
Der Großvater schaltete das Radio immer auf volle Lautstärke – damals. Um sechs Uhr früh ertönte im Haus die Hymne. Die Großmutter war zu dieser Zeit schon aufgestanden.
Sascha streckte die dürren, dreckigen Beine, er ärgerte sich über den Großvater. Aber er schlief sofort wieder ein, sobald die Melodie auf hörte. Er stand in guter Geistesverfassung auf. Er aß eine Milchsuppe. Manchmal fand er in der Suppe eine Fliege, aber Sascha ekelte sich nicht; er aß alles auf, nachdem er die Fliege herausgefischt und neben den Teller gelegt hatte. Die Fliege lag in einer kleinen weißen Pfütze, mit zusammengeklebten Flügeln. Die Suppe war außergewöhnlich schmackhaft, süß, heiß. Nach der Suppe gab es Karawajtschiki und Tee. Alles war so fein.
Um sechs Uhr morgens fing das Radio zu bellen an, als wäre die Platte mit der Hymne schon zu Ende oder hätte gar nicht erst beginnen können, weil sie hängengeblieben war. Das Radio atmete schwer mit seiner schwarzen, staubigen Lunge und begann zu schnarren. Der Lärm hörte nicht auf.
Sascha öffnet die Augen.
Über dem Kopf hingen Ikonen.
Das kleine Fensterchen neben dem Bett saugte alles Licht an.
Oma war nicht im Haus.
Sascha horchte, wollte den Atem des Großvaters hören, doch er hörte nichts. Er wollte nicht aufstehen. Aber liegen – zu zweit mit dem Großvater hinter der Trennwand – wollte er noch weniger.
Die Füße berührten angewidert den Boden. Die Schultern zuckten zurück. Die Backenknochen zogen sich zusammen, als er das Gähnen zurückhielt. Die Augen irrten flink durch das Zimmer, suchten etwas, um sich festzuhalten, damit das Herz sich beruhigte und der Morgen im Guten begann.
In der gegenüberliegenden Zimmerecke befand sich der »Familienschrein«[64], mit tausendfach angesehenen Fotos. Sascha schaute ihn trotzdem immer wieder gerne an – bis jetzt.
Er zog sich an, schlüpfte sofort in Hosen und T-Shirt und Pullover und ohne Gedanken wie »… schau mal, wie der Großvater dort …« an sich ranzulassen, streckte er sich und schlich sich, möglichst leise, in die Ecke, zu den ausgeblichenen, verschwommenen Fotos.
Die großen Bilder beeindruckten Sascha immer wieder: 1933, die Mädchen des Dorfes sitzen in einer Gruppe, es sind ungefähr zwanzig. Die Mädchen sind gepflegt, man kann sagen, herausgeputzt, eine süßer als die andere. Aber – es ist die Zeit der Kollektivierung, alle müssen halt arbeiten. Sascha vergaß immer, die Großmutter zu fragen, wie das eigentlich gewesen war. Das da ist Großmutter, sie war ungefähr sechzehn oder jünger (sie wusste den Tag ihrer Geburt nicht und feierte ihren Geburtstag nie) – aber schon ein wunderbares Mädchen, alles war schon da. Und das Jahr 1933 stand vor der Tür.
Und hier, das ist Opa, mit einem Freund, 1938. Die Gesichter sind klar, die Augen weit geöffnet, hartes männliches Lächeln. Die Kommandantenuhr am Arm des Großvaters, riesengroß, zur Schau gestellt. Ein Genosse von halbkaukasischem Aussehen, aber so ein würdevoller Kaukasier, hell, glänzend von unten bis oben, als würde er auf mysteriöse Weise das Blitzlicht spiegeln. Das Jahr 1938. Warum lächeln alle?
Es geht ihnen gut. Sie sind zufrieden, weil sie fotografiert werden, das Leben liegt vor ihnen.
Der Freund des Großvaters, dessen Familiennamen Sascha vergessen hatte, starb den Heldentod im Vaterländischen Krieg, er war Pilot. Seine Büste steht beim Geschäft, ewig welke Blumen zu Füßen.
Der Großvater war unabkömmlich[65] – bis 1942 schickten sie ihn nicht an die Front, er war der beste Mähdrescherfahrer im Gebiet. Der Großvater war damals schon mit der Großmutter verheiratet, Kinder hatten sie jedoch noch keine.
Aber im Herbst 1942 musste auch der Großvater an die Front. Bald danach geriet er in Gefangenschaft[66]. Und den ganzen Krieg über blieb er dann in Gefangenschaft. Er erzählte nicht gerne davon. Gerne erinnerte er sich nur daran, wie ihm in der Gefangenschaft ein Hellseher vorausgesagt hatte, er würde achtzig Jahre alt.
»Die Leute starben unauf hörlich, mehrere Menschen jeden Tag«, sagte der Großvater. »Wir schliefen nebeneinander, damit es wärmer war, alle in einer Reihe. Alle drehten sich gleichzeitig von einer Seite auf die andere, mehrere Male pro Nacht. Du drehst dich um und der Nachbar neben dir streckt alle Viere von sich, er liegt kalt da … Mir hatte man prophezeit – und ich glaubte es nicht, niemand glaubte daran, dass er noch einen Tag leben werde – und da sagt man mir ›achtzig Jahre‹ voraus. Aber ich habe es erlebt. Und dann lebte ich noch ein Weilchen länger.«
Als Saschas Vater starb, war der Großvater bereits vierundachtzig.
Der Großvater erzählte bei der Totenfeier diese Geschichte noch einmal, und fügte hinzu: »Ich hätte mit achtzig sterben sollen. Die Söhne lebten noch. Ich wäre glücklich gestorben. Aber jetzt, Sankya, verstehe ich nicht, wozu ich gelebt habe, ich habe nichts – letztlich auch niemanden in die Welt gesetzt, es ist, als hätte ich gar nicht gelebt.«
Die Großmutter sagte: »Der Großvater hat die Gefangenschaft überlebt, weil er nicht rauchte. Die Deutschen gaben den Gefangenen Tabak und Brot. Der Großvater tauschte seinen Tabak bei anderen Gefangenen gegen Brot. Er gab ihn nicht einfach so her.«
Sascha dachte manchmal: Soll man das dem Großvater vorwerfen oder nicht? Es hätte Sascha auf der Welt gar nicht gegeben, hätte der Großvater nicht ein zusätzliches Stück Brot für den Tabak erhalten. Was soll ich ihm vorwerfen? Wenn du jemand beschuldigen willst, begib dich in diese Sklaverei, überlebe dort drei Jahre, gib den Tabak einfach so ab, während ihn die anderen tauschen, kommst du dann lebend zurück, kannst du Vorwürfe erheben.
Als der Großvater aus der Gefangenschaft zurückkehrte, wog er siebenundvierzig Kilo – bei einer Körpergröße von einem Meter dreiundachtzig.
Der Großvater erzählte außerdem noch: Als sie befreit wurden (von den Alliierten, den Amerikanern), machten er und einige seiner Genossen sich zu Fuß auf den Weg[67] zu den eigenen Leuten. Sie gingen durch eine befreite deutsche Siedlung, fanden ein Fass mit weißem Honig. Sie waren fünf Mann – und alle, außer dem Großvater, stürzten sich auf den Honig, um ihn zu essen, gleich mit den Händen, direkt aus dem Fass. Der Großvater warnte seine Kümmerlinge, das Zeug nicht zu essen – sie hörten nicht auf ihn. Sie aßen sich satt und begannen sofort zu erbrechen, zu taumeln und sich zu winden. So starben sie alle, nicht weit vom Fass mit dem weißen Honig.
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