Bryn hatte offenbar komplett vergessen, dass Keira heute zurückkam. Das wurde deutlich, sobald sie das Apartment betreten hatten.
Es sah verheerend aus. Kleidung und Schuhe lagen überall herum, auf der Anrichte in der Küche standen eine Reihe benutzter Weingläser. Auf dem Couchtisch, der voller Krümel war, lagen außerdem leere Chipstüten und eingetrocknete Schalen mit Dips. Keira verzog bei dem Anblick das Gesicht. Was sollte Cristiano denn nun denken?
Um das Bild vom totalen Chaos abzurunden, entdeckten sie die schnarchende Bryn auf dem Sofa, das Make-up auf dem Gesicht verschmiert. Das Glitzerkleid verhüllte ihren Körper nur sehr begrenzt. Ihr rot bemalter Mund stand offen.
Keira runzelte die Stirn und blickte auf die Uhr. Es war gar so spät. Bryn hatte wohl einen ihrer Samstags-Marathons absolviert, bei dem sie Mittags schon anfing zu trinken, dann von Bar zu Bar hüpfte und dann beizeiten auf der heimischen Couch umfiel.
Keira spürte, wie Cristiano hinter ihr zögerte. Sie schämte sich zu sehr, um ihn anzuschauen. Sie mochte ihn zwar gewarnt haben, aber das hier war deutlich schlimmer als sie selbst erwartet hatte.
Keira warf ihre Tasche beiseite und Bryn schrak hoch von dem Geräusch Sie setzte sich mit einem lauten Schnarchen auf. Sie schwankte und hielt sich mit einer Hand den Kopf. Dann blickte sie Keira aus schmalen Augen an.
„Du bist zu Hause?“, fragte sie.
„So sieht's aus“, antwortete Keira angespannt. „Du hast es vergessen, dass ich heute ankomme, richtig? Und du hast auch vergessen, dass ich einen Gast mitbringe“, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor. Bryn hatte bisher offenbar nicht einmal bemerkt, dass sie nicht alleine waren.
Bryn blickte mit verkniffenem Gesicht an Keira vorbei zu Cristiano. Sie blinzelte einige Male ungläubig, dann war sie plötzlich hellwach.
„Oh, hi!“ Sie klang wach und aufmerksam. „Ich bin Bryn. Du musst Cristiano sein.“
Seit sie das Apartment betreten hatten, drehte sich Keira zum ersten Mal um, damit sie seine Reaktion sehen konnte. Aber Cristiano schien von dem ganzen Chaos um sie herum eher amüsiert zu sein. Auch als Bryn zu Keiras Entsetzen auf wackeligen Beinen auf Cristiano zuging, schien er das eher von der humorvollen Seite zu sehen.
„Wow, du bist der Hammer“, sagte Bryn und umarmte Cristiano. „Ich dachte, Keira übertreibt, um mich eifersüchtig zu machen.“
Keira wurde von einer Wolke aus Alkohol und Parfüm eingehüllt.
„Vielen Dank, nehme ich an.“ Cristiano klang etwas unsicher, kicherte aber. „Du und deine Schwester, ihr habt sehr schöne Gene geerbt.“
Bryn blicke Keira mit hochgezogenen Augenbrauen und machte gar nicht erst den Versuch, ihre Schwärmerei zu verbergen. Keira bekam plötzlich Angst. In den Augen der meisten Leute war ihre Schwester die attraktivere von ihnen beiden. Und sie flirtete hemmungslos. Was, wenn Cristiano ihrem Charme verfiel? Wenn er eher auf ihre überschwängliche Persönlichkeit stand? Es war unmöglich zu sagen, was er wirklich dachte, denn er verhielt sich Bryn gegenüber wie jeder anderen schönen Frau, der er begegnete.
„Wollt ihr was trinken?“, fragte Bryn und musterte Cristianos schönes Gesicht. „Bier, Wein, Prosecco?“
„Hältst du das für eine so gute Idee?“ Keira betrachtete die aufgelöste Erscheinung ihrer Schwester.
Bryn rollte mit den Augen und sah Cristiano an. „War sie in Italien auch die ganze Zeit so? Keira kann eine echte Spielverderberin sein.“
„Hey!“, protestierte Keira.
„Ganz und gar nicht“, sagte Cristiano. Er nahm offenbar alles mit Humor, auch wenn es Keira alles ziemlich peinlich war. „Wir haben an so manchem Abend guten Wein getrunken, nicht wahr, meine Liebe?“ Er strahle Keira mit seinen schönen Augen an, was ihr sogleich das Gefühl vermittelte, die einzige Frau auf der Welt zu sein.
„Ja“, murmelte sie verträumt.
Bryn unterbrach sie auf ihre übliche rüde Art. „Dann musst du wohl auf sie abgefärbt haben, Cris. Normalerweise verlässt sie kaum das Haus, ohne dass man Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss.“
Keira schüttelte über ihre Schwester den Kopf.
„Schütte einfach die Drinks ein“, murmelte sie.
Bryn grinste boshaft. Sie genoss es, Keira auf die Palme zu bringen. Dann lächelte sie Cristiano lieblich an. „Was möchtest du, Cris?“
Keira verzog das Gesicht. Sie hasste es schon jetzt, dass ihre Schwester ihm sofort einen Spitznamen gegeben hatte. Das war viel zu vertraut. Sie selbst hatte ihn bisher nie anders als Cristiano genannt. Wenn ihm jemand einen Spitznamen gab, dann sollte sie das doch wohl sein!
„Wein, rot“, antwortete Cristiano. „Einen Shiraz aus Neuseeland, wenn du den hast.“
Bryn kicherte laut, wie sie es beim Flirten immer tat. „Ich werde sehen, was sich machen lässt“, schnurrte sie. Dann blickte zu Keira. „Kannst du ein wenig aufräumen?“ Sie wedelte mit der Hand in Richtung des Durcheinanders.
Keira biss die Zähne zusammen. Sie spürte den Zorn in sich aufwallen.
Während sie den ganzen Müll einsammelte, konnte sie hören, wie sich Bryn und Cristiano an der Küchenzeile unterhielten.
„Wie lange wirst du in der Stadt bleiben, Cris?“, fragte Bryn.
Keira hielt mit ihrer Arbeit inne und warf einen Blick über die Schulter. Sie und Cristiano hatten darüber noch nicht gesprochen. Ihre Beziehung war von Anfang an so stürmisch gewesen, dass sie überhaupt noch nichts geplant hatten. Sie hatten auch nicht besprochen, dass es in Bryns Apartment nur ein einziges Bett gab. Wo würden sie schlafen?
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Cristiano. „Wir leben für den Augenblick. Nehmen jede Minute so, wie sie kommt.“
Keira atmete aus. Das war eine beruhigende Antwort.
Sie beendete schnell das Aufräumen und gesellte sich zu den beiden anderen. Bryn schenkte auch ihr ein Glas Wein ein.
„Ich denke, ihr beide solltet im Bett schlafen“, meinte sie und schob das Weinglas über den Tresen. „Auf die Couch passt ihr beide wohl nicht.“
„Im Ernst?“ Keira wunderte sich über diese großzügige Geste. So war Bryn eigentlich nicht. „Was wird mit dir?“
Bryn deutete Richtung Couch. „Ich schlafe sowieso meistens vor dem Fernseher ein. Wenn ich überhaupt zu Hause bin.“
Sie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Keira stöhnte auf. Der Gedanke an Bryns zahlreiche Eroberungen bereitete ihr Unbehagen.
„Das ist sehr nett von dir“, sagte Cristiano. Offenbar hatte er den Unterton nicht mitbekommen.
„Eine eigene Wohnung zu finden, steht ganz oben auf meiner Liste“, erklärte Keira. „Ich verspreche, wir verschwinden so schnell wie möglich aus deiner Wohnung.“
Neben ihr versteifte sich Cristiano plötzlich. Er nippte an seinem Wein und hielt seinen Blick gesenkt. Warum verspannte er sich? Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dachte er etwa, sie würden sich eine gemeinsame Wohnung nehmen?
Wie peinlich konnte es denn noch werden? Keira kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen. Das hatte sie damit ganz und gar nicht sagen wollen! Es wäre dumm, anzunehmen, Cristiano würde nach so kurzer Bekanntschaft mit ihr zusammenziehen wollen. Zumal sie nie über dergleichen geredet hatten. Sie wusste nicht einmal, wie lange sie ihn um sich haben wollte. Zwischen heute und für immer gab es ein sehr weites Feld.
Auf einmal erschien es ihr doch ein wenig übereilt, dass sie spontan gemeinsam ins Flugzeug gestiegen waren. Im Flieger hatte es sich noch gut angefühlt. Aber hier war sie zu Hause und alles fühlte sich ganz anders an. Dies war die Realität. Früher oder später würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und mit ihm reden müssen, über all das, was eine Beziehung eine so große Distanz mit sich brachte. Aber sie wollte ihn eben auch nicht vergraulen.
Keira schwieg, ganz in Gedanken versunken, und nippte an ihrem Wein. Sie nahm an dem Gespräch der beiden nicht mehr Teil, beobachtete nur noch, wie Bryn kicherte und Bemerkungen über Cristianos wunderbaren Akzent machte, während sie ihn anhimmelte. Erst als sie ihre Hand ausstreckte, um über seinen Arm zu streichen, war Keira wieder hellwach. Zeit, dieses Schauspiel zu beenden. Sie gähnte laut.
Bryn zuckte überrascht zusammen, als hätte sie vollkommen vergessen, dass Keira auch noch da war.
„Bist du müde?“, fragte sie. „Du musst nicht meinetwegen aufbleiben. Immerhin bleibt dir nur ein Tag, um dich wieder zu akklimatisieren, bevor du wieder zur Arbeit musst.“
Normalerweise irritierte es Keira, wenn sie von ihrer Schwester so bemuttert wurde, aber gerade kam es ihr sehr gelegen. Und es war die beste Möglichkeit, Bryn loszuwerden.
Sie stand auf. „Tut mir leid, der Flug hat mich total erschöpft. Morgen können wir ausgiebig quatschen. Ich habe außerdem ein Geschenk für dich.“
Bryn grinste. „Großartig. Ich kann es kaum erwarten.“
Sie stand ebenfalls auf und sie umarmten sich. Dann schaute Keira Cristiano an, der noch immer saß.
„Kommst du?“, fragte sie.
Er sah überrascht aus, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Keira ihn mit ins Bett nehmen wollte.
„Äh, ja, sicher“, stammelte er.
„Du musst nicht“, beeilte sich Bryn zu erklären, „wenn du noch nicht müde bist. Wir können uns gern weiter unterhalten. Ich habe noch mehr Wein aus Neuseeland.“
Keira blickte Bryn finster an. Cristianos Blick huschte zwischen ihnen hin und her, als verstehe er nicht genau, wo er da reingeraten war. Schließlich stand er auf und schloss sich Keira an. Sie nickte zufrieden über ihren kleinen Sieg.
„Morgen“, sagte Cristiano zu Bryn. „Danke für den Wein.“
Keira fiel auf, dass er nicht ausgetrunken hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, ihn quasi mitzuschleifen, aber sie kannte ihre Schwester eben besser als er. Sie mit ihm allein zu lassen, barg ein nicht unerhebliches Risiko.
„Gute Nacht“, rief Keira Bryn zu und zerrte ihren Koffer ins Schlafzimmer.
Cristiano folgte ihr. Sobald sie beide im Schlafzimmer waren, schloss Keira die Tür hinter ihnen. Sie lehnte sich dagegen und atmete tief durch.
„Tut mir leid“, sagte sie und deutete durch die geschlossene Tür.
Cristiano wirkte amüsiert. „Verstehe ich nicht. Sie schien doch ganz nett.“
„Sie hat mit dir geflirtet.“ Keira schüttelte empört den Kopf.
Cristiano schien das nicht zu stören. „Es macht mir nichts aus.“
„Aber mir“, sagte Keira. „Sie ist meine Schwester. So etwas macht man nicht.“
Cristiano zuckte mit den Schultern. Er kam zu ihr und nahm sie in den Arm. „Du weißt doch, dass ich nur Augen für dich habe.“ Er hielt sie fest umschlungen.
„Ich mache mir auch keine Sorgen über dich“, antwortete Keira und entspannte sich ein wenig. „Sondern über all die anderen heißblütigen Frauen in der Welt.“
Ein Gedanke traf sie wie ein Keulenschlag. In Italien war Cristiano, auch wenn er sehr gut aussah, nur einer von vielen gewesen. Hier in New York war er eine exotische Kreatur, ein echter Italiener, ein Model, direkt dem Cover eines Modemagazins entsprungen. Ihre Heimatstadt barg eine Menge neuer Gefahren für ihre Beziehung, an die sie bisher gar nicht gedacht hatte.
Es gab dafür nur eine Lösung. Sie würde Cristiano von morgens bis abends beschäftigen, ihn ganztägig im Auge behalten müssen.
„Wir sollten morgen beizeiten aufstehen“, sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Dann machte sie sich für die Nacht fertig. „Mir bleibt nur ein freier Tag bevor ich wieder arbeiten muss. Das wird eine anstrengende Sightseeing-Tour.“
Cristiano grinste. „Ich kann es kaum erwarten. Aber gehen jetzt nicht sofort schlafen, oder?“ Er blickte sie vielsagend an. „Ich war den ganzen Tag in einem engen Flugzeug eingepfercht. Ich habe eine Menge angestauter Energie.“
Keira grinste ebenfalls und griff nach dem Lichtschalter. „Was immer du wünschst“, murmelte sie, schaltete das Licht aus und tauchte das Zimmer in Dunkelheit.
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