Mit schmerzenden Füßen und brennenden Lungen stieg Ceres so schnell sie nur konnte den steilen Hügel empor. Sie war darauf bedacht, keinen Tropfen Wasser aus den beiden Eimern, die sie auf beiden Seiten trug, zu verschütten. Normalerweise würde sie jetzt eine Pause machen, doch ihre Mutter hatte ihr gedroht kein Frühstück zu geben, sollte sie bei Sonnenaufgang nicht zurück sein – und kein Frühstück bedeutet, dass sie bis zum Abend nichts essen würde. Der Schmerz machte ihr nichts aus – wenigstens lenkte er sie von den um ihren Vater kreisenden Gedanken ab und von den neuen Zuständen, die seit seiner Abreise zu Hause Einzug gehalten hatten.
Die Sonne war gerade hinter den fernen Alva Bergen aufgegangen und tauchte die zerklüfteten Wolken über ihr in ein goldenes Rosa. Ein weicher Wind blies durch das hohe gelbe Gras zu beiden Seiten der Straße. Ceres sog die frische Morgenluft ein und trieb sich dazu an, noch schneller zu laufen. Ihr Brunnen war ausgetrocknet und an dem nächsten in einem Kilometer Entfernung bildete sich jetzt immer eine lange Schlange. Doch das würde ihre Mutter nicht als Entschuldigung taugen. So hielt sie tatsächlich erst auf dem Kamm des Hügels an – die Aussicht verschlug ihr den Atem.
Dort in der Ferne sah sie ihr Haus, vor dem ein bronzener Karren stand. Ihre Mutter stand dort und sprach mit einem Mann, der so übergewichtig war, dass Ceres glaubte noch nie jemanden gesehen zu haben, der auch nur halb so dick war. Er trug eine violette Leinentunika und einen roten Seidenhut. Sein langer Bart war buschig und grau. Sie blinzelte und versuchte die Situation zu verstehen. War er ein Händler?
Ihre Mutter trug ihr bestes Kleid, ein grünes bodenlanges Leinengewand, das sie vor einigen Jahren von dem Geld gekauft hatte, das eigentlich für ein neues Paar Schuhe für Ceres bestimmt gewesen war. Das ergab alles keinen Sinn.
Zögernd begann Ceres den Hügel hinabzusteigen. Sie wendete ihren Blick nicht von der Szene ab. Ceres wurde noch neugieriger als sie sah, dass der alte Mann ihrer Mutter einen schweren Ledersack gab. Das eingefallene Gesicht ihrer Mutter begann dabei zu leuchten. Hatte sich das Blatt gewendet? Würde Vater nach Hause kommen können? Dieser Gedanke machte ihr das Herz ein wenig leichter, auch wenn sie versuchte ihn nicht zu sehr an sich heranzulassen, bevor sie die Einzelheiten kannte.
Als sich Ceres dem Haus näherte, drehte sich ihre Mutter zu ihr um und lächelte sie freundlich an – Ceres spürte einen Knoten in ihrem Magen. Das letzte Mal als ihre Mutter sie so angelächelt hatte – mit strahlenden Zähnen und leuchtenden Augen – hatte Ceres eine ordentliche Tracht Prügel einstecken müssen.
„Mein liebes Kind“, sagte ihre Mutter in zuckersüßem Ton. Sie öffnete ihre Arme und grinste sie an, dass Ceres das Blut in den Adern gefror.
„Das ist das Mädchen?“ sagte der Mann mit einem lüsternen Lächeln, seine dunklen durchdringenden Augen weiteten sich bei Ceres’ Anblick.
Ceres war nun so weit herangekommen, dass sie jede einzelne Hautfalte des übergewichtigen Mannes sehen konnte. Sein Gesicht war nichts als eine breite flache Nase und als er seinen Hut abnahm, kam darunter eine schweißbedeckte Glatze zum Vorschein, die in der Sonne glänzte.
Ihre Mutter tänzelte zu Ceres hinüber, nahm ihr die Eimer ab und setzte sie auf dem versenkten Gras ab. Allein diese Geste zeigte Ceres, dass wirklich etwas nicht stimmte. Langsam machte sich Panik in ihr breit.
„Darf ich Ihnen meine einzige Tochter Ceres vorstellen, sie ist mein ganzer Stolz und meine ganze Freude“, sagte ihre Mutter und tat so als würde sie sich eine Träne wegwischen. „Ceres, das ist Lord Blaku. Bitte zeige deinem neuen Herren Respekt.“
Dieser Satz traf Ceres wie ein Messer ins Herz. Sie fuhr zusammen. Ceres blickte zu ihrer Mutter, die mit dem Rücken zu Lord Blaku stand und Ceres so böse anlächelte, wie sie es noch nie getan hatte.
„Meinem neuen Herren?“ fragte Ceres.
„Um unsere Familie vor dem finanziellen Ruin zu retten und uns die öffentliche Schande zu ersparen, hat Lord Blaku in seiner Güte deinem Vater und mir ein großzügiges Angebot unterbreitet: ein Sack Gold im Tausch gegen dich.“
„Was?“ keuchte Ceres und glaubte einer Ohnmacht nahe zu sein.
„Bitte sei nun das gute Mädchen, das ich kenne und erweise ihm Respekt“, sagte ihre Mutter und warf Ceres einen warnenden Blick zu.
„Das werde ich mit Sicherheit nicht“, sagte Ceres und trat einen Schritt zurück. Sie richtete sich verärgert auf. Warum war ihr nicht gleich klar gewesen, dass es sich bei dem Mann um einen Sklavenhändler handelte und der Inhalt des Ledersacks sie das Leben kosten würde.
„Vater würde das niemals zulassen“, fügte sie verbissen hinzu während Horror und Empörung zunahmen.
Ihre Mutter verzog das Gesicht und griff nach ihrem Arm, ihre Fingernägel gruben sich in Ceres’ Haut.
„Wenn du dich zusammenreißt, dann wird dich dieser Mann vielleicht zur Frau nehmen und das wäre in deinem Fall doch das Beste, was dir passieren könnte“, murmelte sie.
Lord Blaku fuhr mit der Zunge über seine verkrusteten Lippen, seine gierigen und geschwollenen Augen verschlangen Ceres’ Körper. Wie konnte ihre Mutter ihr das nur antun? Sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht so sehr liebte wie ihre Brüder – aber das?
„Marita“, sagte er mit nasaler Stimme. „Sie sagten Ihre Tochter sei schön, aber Sie haben ganz vergessen zu erwähnen, was für eine prächtige Kreatur sie ist. Wenn mir erlaubt ist zu sagen, dass ich noch nie ein Weib mit solch sinnlichen Lippen, solch leidenschaftlichen Augen und einem Körper so wohlgeformt und fest wie dem ihren gesehen habe.“
Ceres’ Mutter legte seufzend eine Hand auf ihr Herz und Ceres hatte das Gefühl sich gleich übergeben zu müssen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und befreite sich von dem Griff ihrer Mutter.
„Dann hätte ich ja vielleicht sogar einen höheren Preis verlangen können, wenn sie Ihnen so sehr zusagt“, sagte Ceres’ Mutter und senkte traurig ihren Blick. „Schließich ist sie noch immer unser geliebtes Mädchen.“
„Ich bin bereit für eine solche Schönheit auch gut zu bezahlen. Was halten Sie von fünf Goldstücken mehr?“ fragte er.
„Das wäre sehr großzügig von Ihnen“, antwortete ihre Mutter.
Lord Blaku trottete zu seinem Wagen hinüber um das zusätzliche Gold zu holen.
„Vater würde nie und nimmer seine Zustimmung geben“, sagte Ceres spöttisch.
Ceres’ Mutter trat drohend einen Schritt näher auf sie zu.
„Oh, allerdings war es die Idee deines Vaters“, entgegnete sie schnippisch und mit hochgezogenen Augenbrauen. Ceres wusste, dass sie log – immer wenn sie die Augenbrauen so hochzog, log sie.
„Glaubst du etwa dein Vater liebt dich mehr als mich?“ fragte ihr Mutter.
Ceres zwinkerte und wunderte sich, was das mit der ganzen Sache zu tun hatte.
„Ich könnte nie jemanden lieben, der glaubt, besser zu sein als ich“, fügte sie hinzu.
„Du hast mich nie geliebt?“ fragte Ceres und ihr Ärger wandelte sich in Hoffnungslosigkeit.
Mit dem Gold in der Hand watschelte Lord Blaku zu Ceres’ Mutter hinüber, um es ihr zu überreichen.
„Ihre Tochter ist jedes dieser Goldstücke wert“, sagte er. „Sie wird mir eine gute Frau sein und viele Söhne gebären.“
Ceres biss sich auf die Lippen und schüttelte immer wieder ihren Kopf.
„Lord Blaku wird dich morgen früh abholen, geh ins Haus und pack deine Habseligkeiten zusammen“, sagte Ceres’ Mutter.
„Nein!“ schrie Ceres.
„Das ist schon immer dein Problem gewesen Mädchen. Du denkst immer nur an dich selbst. Dieses Gold“, sagte ihre Mutter und wedelte mit dem Geldbeutel vor Ceres’ Gesicht herum, „wird deine Brüder am Leben halten. Es wird unsere Familie zusammenhalten, uns ermöglichen das Haus zu behalten und nötige Reparaturen durchzuführen. Hast du schon einmal darüber nachgedacht?“
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ceres darüber nach, ob sie selbstsüchtig war, aber dann erkannte sie, dass ihre Mutter sie zu manipulieren versuchte und dabei Ceres’ Liebe zu ihren Brüdern ausspielte.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Ceres’ Mutter und drehte sich zu Lord Blaku. „Ceres wird tun, was ich ihr sage. Alles was Sie tun müssen, ist streng zu ihr zu sein und sie wird zahm wie ein Lämmchen werden.“
Niemals. Niemals würde sie die Frau dieses Mannes oder das Eigentum von sonst jemandem. Niemals würde sie ihrer Mutter oder jemand anderem gestatten ihr Leben gegen fünfundfünfzig Goldstücke einzutauschen.
„Ich werde niemals zu diesem Sklavenhändler gehen“, sagte Ceres energisch und warf ihm einen angeekelten Blick zu.
„Undankbares Kind!“ rief Ceres’ Mutter. „Wenn du nicht tust, was ich dir sage, werde ich dich so lange prügeln bis du nicht mehr gerade gehen kannst. Geh mir jetzt aus den Augen!“
Der Gedanke von ihrer Mutter geschlagen zu werden, brachte alte und schreckliche Erinnerungen zurück; er führte sie zurück zu der fünf Jahre alten Ceres und dem furchtbaren Moment, als ihre Mutter sie so lange geschlagen hatte bis sie das Bewusstsein verloren hatte. Die physischen Wunden, die diese anderen Prügelstrafen hinterlassen hatten, waren geheilt, die Wunden in Ceres’ Herz jedoch hatten niemals aufgehört zu bluten. Jetzt, da sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht liebte und niemals geliebt hatte, zerriss ihr das Herz endgültig.
Noch bevor sie antworten konnte, trat Ceres’ Mutter an sie heran und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
Zunächst war Ceres von dem plötzlichen Angriff überrascht und sie verlor beinahe das Gleichgewicht. Doch dann geschah etwas mit ihr. Dieses Mal würde sie sich nicht wie sonst alles gefallen lassen.
So verpasste Ceres ihrer Mutter auch eine Ohrfeige, die so hart war, dass sie mit erschrockenem Blick zu Boden fiel.
Mit rotem Gesicht kam ihre Mutter zurück auf die Beine. Sie griff Ceres’ Schulter und Haar und rammte ihr ein Knie in den Magen. Als Ceres sich von Schmerzen ergriffen vorn überbeugte, stieß ihre Mutter ihr Knie in Ceres’ Gesicht, sodass sie zu Boden ging.
Der Sklavenhalter stand nur da und glotzte, seine Augen stierten und er kicherte. Er fand ganz offensichtlich Gefallen an diesem Kampf.
Noch immer hustend und nach Luft ringend schaffte es Ceres zurück auf ihre Füße. Mit einem Schrei schmiss sie sich gegen ihre Mutter und warf sie zu Boden.
Das war das allerletzte Mal, war alles, was Ceres denken konnte. All die Jahre, in denen sie nicht geliebt worden war, in denen sie nichts als Verachtung erfahren hatte, warf sie in diesem Moment wie Zunder in das Feuer ihrer Wut. Mit eisernen Fäusten schlug sie immer und immer wieder ihrer Mutter ins Gesicht, wuterfüllte Tränen rannen ihr über die Wangen und entfesselte Schluchzer drangen ihr über die Lippen.
Schließlich regte ihre Mutter sich nicht mehr.
Ceres’ Schultern zogen sich bei jedem Schluchzen in die Höhe und ihre Eingeweide schienen sie zusammenzuballen. Von Tränen verquollen blickte sie mit noch größerem Hass zu dem Sklavenhalter auf.
„Du wirst dich prächtig schlagen“, sagte Lord Blaku mit einem arglistigen Grinsen. Er hob den Geldsack vom Boden auf und befestigte ihn an seinem Ledergürtel.
Noch bevor sie sich versah, hatte er sie gepackt. Er zerrte Ceres zu seinem Wagen und schmiss sie mit einer flinken Bewegung auf die Rückbank als wäre sie ein Sack Kartoffeln. Seine Masse und Kraft überstiegen ihre Möglichkeiten sich zu wehren. Er hielt ihr Handgelenk mit einer Hand fest, während er mit der anderen nach einer Kette fischte. Dabei sagte er: „Du hast doch nicht etwa gedacht, dass ich glauben würde, dich hier morgen noch antreffen zu können.“
Sie blickte zu dem Haus, in dem sie achtzehn Jahre lang gelebt hatte und ihre Augen füllten sich beim Gedanken an ihre Brüder und ihren Vater mit Tränen. Sie musste eine Entscheidung treffen, bevor er sie angekettet hatte, wenn sie sich selbst retten wollte.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen und zog ihren Arm mit einer schnellen Bewegung aus dem griff des Sklavenhalters. Sie ließ ihr Bein nach oben schnellen und trat ihm so hart sie nur konnte ins Gesicht. Er fiel rücklings aus dem Wagen auf den Boden.
Sie sprang aus dem Wagen und rannte so schnell, wie sie ihre Füße trugen, die staubige Straße hinab. Sie ließ eine Frau zurück, die sie schwor nie wieder Mutter zu nennen, sie ließ aber auch all das zurück, was sie in ihrem bisherigen Leben gekannt und geliebt hatte.
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