Читать книгу «Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Германа Гессе — MyBook.
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Ich hatte damals eine kurze Periode der Wildheit und eines halb erzwungenen Übermutes. Nach Tagen der Niedergeschlagenheit und dumpfen Stille forderte meine Jugend stürmisch Bewegung und Rausch, und ich ging dann mit einigen gleichaltrigen Kameraden Lustbarkeiten und Streichen nach. Wir galten für lebenslustige, ausgelassene, ja gefährliche Tumultuanten, was bei mir nicht zutraf, und genossen bei Liddy und ihrem kleinen Kreise einen zweifelhaften, doch süßen Heldenruhm. Wieviel von diesem Treiben echte Jugendlust und wieviel gewollte Betäubung war, kann ich heute nimmer entscheiden, da ich jenen Zuständen und aller äußerlichen Jugendlichkeit längst völlig entwachsen bin. Wenn ein Zuviel dabei war, so habe ich es gebüßt. An einem Wintertage, da kein Unterricht war, zogen wir miteinander vor die Stadt hinaus, acht oder zehn junge Leute, darunter Liddy mit drei Freundinnen. Wir hatten Rodelschlitten mit, deren Benützung damals noch für ein Kindervergnügen galt, und suchten in der bergigen Umgebung der Stadt die Straßen und Wiesenhänge nach guten Schlittenbahnen ab. Ich erinnere mich des Tages genau, er war mäßig kalt, zuweilen kam die Sonne für Viertelstunden hervor, die kräftige Luft roch herrlich nach Schnee. Die Mädchen standen mit ihren farbigen Kleidern und Tüchern prächtig im weißen Grunde, die herbe Luft war berauschend und die heftige Bewegung in dieser Frische eine Lust. Unsere kleine Gesellschafft war in fröhlicher Laune, Ulknamen und Hänseleien flogen hin und wider, wurden durch Schneeballen beantwortet und führten zu kleinen Kriegen, bis wir alle heiß und voll Schnee dastanden und eine Weile veratmen mussten, ehe wir von neuem begannen. Es wurde eine große Schneeburg gebaut, belagert und erstürmt, dazwischen fuhren wir da und dort einmal einen kleinen Wiesenhang auf unseren Schlitten hinunter.

Um Mittag, als wir alle von dem Gestürme grimmig hungrig geworden waren, suchten und fanden wir ein Dorf und ein gutes Wirtshaus, ließen sieden und braten[13], bemächtigten uns des Klaviers, sangen, schrien, bestellten Wein und Grog. Das Essen kam und wurde festlich begangen, der gute Wein floß reichlich, danach begehrten die Mädchen Kaffee, während wir die Liköre versuchten. Es war ein Geschrei und Festlärm in der kleinen Stube, dass uns allen die Köpfe rauchten[14]. Ich war immer in Liddys Nähe, die mich heute in gnädiger Laune durch besondere Gunst auszeichnete. Sie blühte in dieser Luft voll Lustbarkeit und Rausch gar prächtig auf, ließ ihre hübschen Augen blitzen und duldete manche halb kühne, halb ängstlich gewagte Zärtlichkeit. Ein Pfänderspiel wurde begonnen, wobei die Pfänder am Klavier durch Nachahmung irgendeines unserer Lehrer eingelöst werden mussten, manche aber auch durch Küsse, deren Zahl und Beschaffenheit genau beobachtet wurde.

Als wir glühend und lärmend das Haus verließen und den Heimweg antraten, war es noch früh am Nachmittag, doch begann es schon ein wenig zu dämmern. Wieder tollten wir wie ausgelassene Kinder durch den Schnee, ohne Eile durch den leis[15] herankommenden Abend nach der Stadt zurückkehrend. Es gelang mir, an Liddys Seite zu bleiben, zu deren Ritter ich mich aufwarf, nicht ohne Widerspruch der andern. Ich zog sie streckenweise auf meinen Schlitten und schützte sie nach Kräften vor den immer wieder versuchten Angriffen mit Schneebällen. Schließlich ließ man uns gewähren, jedes der Mädchen fand seinen Genossen, und nur zwei ledig gebliebene Herrlein zogen neckend und kriegslustig nebenher. Ich war nie so erregt und toll verliebt gewesen wie in jenen Stunden; Liddy hatte meinen Arm genommen und duldete es, dass ich sie im Gehen leise an mich zog. Dabei plauderte sie bald geschwätzig in den Abend hinein, bald schwieg sie glücklich und, wie mir schien, verheißungsvoll an meiner Seite. Ich brannte und war entschlossen, diese Gelegenheit nach Kräften zu benützen, zumindest aber diesen traulich zärtlichen Zustand solange als möglich festzuhalten. Es hatte auch niemand etwas dagegen, als ich kurz vor der Stadt noch einen Umweg vorschlug und in einen schönen Höhenweg einbog, der steil über dem Tale im Halbkreis hinlief, reich an weiten Aussichten auf das Flusstal und die Stadt, die schon mit blitzenden Laternenreihen und tausend roten Lichtern aus der Tiefe glänzte.

Liddy hing noch immer an meinem Arm und ließ mich reden, nahm meine glühenden Überschwen-glichkeiten lachend hin und schien doch selber tief erregt zu sein. Als ich sie aber mit leiser Gewalt an mich zog und küssen wollte, machte sie sich los und sprang beiseite.

»Schauen Sie«, rief sie aufatmend, »die Wiese da hinunter müssen wir schlitteln! Oder haben Sie Angst, Sie Held?«

Ich schaute hinunter und war erstaunt, denn der Abhang war so jäh, dass mir wirklich einen Augenblick vor dieser frechen Fahrt graute.

»Das geht nicht«, sagte ich leichthin, »es ist schon viel zu dunkel.«

Sofort fiel sie mit Spott und Entrüstung über mich her, nannte mich einen Hasenfuß und verschwor sich, den Hang allein hinabzufahren, wenn ich zu feig sei mitzukommen.

»Umwerfen werden wir natürlich«, meinte sie lachend, »aber das ist ja doch das Lustigste bei der ganzen Fahrerei.«

Da sie mich so reizte, kam mir ein Einfall.

»Liddy«, sagte ich leise, »wir fahren. Wenn wir umwerfen, dürfen Sie mich mit Schnee einreiben, aber wenn wir glatt hinunterkommen, will ich auch meinen Lohn haben.«

Sie lachte nur und setzte sich auf den Schlitten. Ich sah ihr in die Augen, die glühten warm und lustig, da nahm ich ganz vorn Platz, hieß sie sich an mich klammern und fuhr ab. Ich spürte, wie sie mich umfasste, ihre Hände auf meiner Brust kreuzend, und ich wollte ihr noch etwas zurufen, konnte aber nicht mehr. Die Steile war so jäh, dass ich das Gefühl hatte, in die leere Luft zu stürzen. Sofort suchte ich mit beiden Sohlen den Boden, um anzuhalten oder doch umzuwerfen, denn plötzlich war mir eine Todesangst um Liddy ins Herz gefahren. War jedoch zu spät. Der Schlitten sauste unaufhaltsam bergab, ich fühlte nur einen kalten, beißenden Schwall aufgewühlten Schneestaubes im Gesicht, dann hörte ich Liddy angstvoll schreien, dann nichts mehr. Ein ungeheurer Hieb wie von einem Schmiedehammer traf meinen Kopf, irgendwo tat es mir schneidend weh. Das letzte Gefühl, das ich hatte, war das der Kälte.

Mit dieser kurzen flotten Schlittenfahrt habe ich meine Jugendlust und Torheit gebüßt. Nachher war mit vielem anderen auch meine Liebe zu Liddy verflogen.

Dem Tumult und ängstlichen Getriebe, das auf den Unfall folgte, war ich enthoben. Für die andern war es eine peinliche Stunde. Sie hörten Liddy schreien, lachten und neckten von oben herab in die Dunkelheit hinein, erkannten endlich, dass etwas Böses geschehen sei, stiegen mühsam herab und brauchten eine Weile, bis sie aus dem Rausch und Übermut heraus zur Überlegung kamen. Liddy war bleich und halb ohnmächtig, jedoch durchaus unverletzt, nur ihre Handschuhe waren zerrissen und ihre feinen Hände etwas zerschunden und blutig. Mich trugen sie für tot hinweg[16]. Den Apfele-oder Birnbaum, an dem der Schlitten und meine Knochen zerschellt waren, habe ich später vergeblich wiederzufinden versucht.

Man dachte, ich sei einer Gehirnerschütterung erlegen, doch stand es nicht so schlimm. Kopf und Gehirn waren zwar mitgenommen, und es dauerte sehr lange, bis ich im Spital wieder zur Besinnung kam, aber die Wunde heilte, und das Gehirn ruhte sich aus. Dagegen wollte das mehrfach gebrochene linke Bein nicht wieder ganz in Ordnung kommen. Ich bin seither ein Krüppel, der nur hinken, nicht mehr schreiten oder gar laufen und tanzen kann. Damit war meiner Jugend unversehens ein Weg in stillere Lande[17] gewiesen, den ich nicht ohne Scham und Widerstreben einschlug. Aber ich schlug ihn doch ein, und manchmal scheint es mir, als möchte ich jene abendliche Schlittenfahrt und ihre Folgen keineswegs in meinem Leben missen.

Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die anderen Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in das Dunkel, oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und Besinnen, die Kur tat mir gut.

Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewusstlos und auch nach dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter was gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett. Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand. Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen; ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges Geltenlassen gewöhnt, als dass nun die erwartete Herzlichkeit den Weg in unsere Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es, von diesem Krankenlager[18] viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.

Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht länger ein Geheimnis daraus, dass mir wohl für immer ein Andenken an diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit einigem Bewusstsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen dauerte noch wohl ein Vierteljahr.

Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht sehr weit. Viel Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne dass ich einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.

Da war es in einer Nacht, dass ich nach wenigen Stunden leichten Schlummers erwachte. Mir schien, ich habe etwas Gutes geträumt, und ich strebte, mich dessen wieder zu erinnern, doch vergebens. Es war mir merkwürdig wohl und frei zumute, als habe ich alles Unangenehme überwunden und hinter mir. Und wie ich lag und sann und leise Ströme der Genesung und Erlösung um mich fühlte, trat mir eine Melodie auf die Lippen, fast lautlos, die summte ich weiter und hörte nimmer auf, und unversehens schaute mich wie ein enthüllter Stern die Musik wieder an, der ich so lange fremd gewesen war, und mein Herz schlug ihren Takt, und mein ganzes Wesen blühte auf und atmete neue reine Lüfte. Es kam mir nicht zum Bewusstsein, es war nur da und durchdrang mich still, als sängen leise Chöre von fern zu mir herein.

In diesem innig frischen Gefühl schlief ich wieder ein. Am Morgen war ich froh und unbedrückt wie lange nicht mehr. Die Mutter merkte es und fragte, was mich freue. Da besann ich mich, und nach einer Weile sagte ich ihr, ich habe solange nimmer an meine Geige gedacht, die sei mir nun wieder eingefallen, und ich freue mich auf sie.

»Du wirst aber noch lange nicht wieder spielen dürfen«, sagte sie etwas ängstlich.

»Das schadet nichts, und wenn ich auch gar nimmer spielen könnte.«

Sie verstand mich nicht und ich konnte es ihr nicht erklären. Aber sie merkte, dass es mir besser gehe und dass kein Feind hinter dieser grundlosen Fröhlichkeit laure. Nach einigen Tagen fing sie vorsichtig wieder davon an.

»Du, wie ist das nun eigentlich mit deiner Musik? Wir haben fast geglaubt, sie sei dir verleidet, und der Vater hat mit deinen Lehrern gesprochen. Wir wollen dir ja nicht dreinreden, am wenigsten jetzt – aber wir meinen, wenn du dich getäuscht hättest und es lieber aufgeben möchtest, so solltest du es tun und nicht aus Trotz oder Scham dabeibleiben. Was meinst du?«

Da fiel mir die ganze Zeit der Entfremdung und Enttäuschung wieder ein. Ich versuchte der Mutter zu erzählen, wie es mir gegangen war, und sie schien es zu begreifen. Nun aber, meinte ich, sei ich meiner Sache wieder sicherer geworden, und jedenfalls wolle ich nicht davonlaufen, sondern erst zu Ende studieren. Dabei blieb es einstweilen. Im Grunde meiner Seele, wohin die Frau nicht blicken konnte, war lauter Musik. Ob es nun mit dem Geigen glückte oder nicht, ich hörte wieder die Welt wie ein gutes Kunstwerk klingen und wusste, es sei außerhalb der Musik kein Heil für mich. Erlaubte mein Zustand das Geigen nimmer, so musste ich darauf verzichten, vielleicht musste ich einen anderen Beruf suchen und etwa Kaufmann werden; aber das alles war nicht allzu wichtig, ich würde als Kaufmann oder sonst was nicht weniger Musik empfinden und in Musik leben und atmen. Ich würde wieder komponieren! Es war nicht, wie ich meiner Mutter gesagt hatte, das Geigen, worauf ich mich freute, sondern es war das Musikmachen, das Schaffen, nach dem mir die Hände zitterten. Schon fühlte ich zu manchen Zeiten wieder die lauteren Schwingungen klarer Lüfte, die gespannte Kühle der Gedanken, wie früher in meinen besten Stunden, und fühlte auch, dass daneben ein lahmes Bein und andere Übel von geringer Bedeutung seien.

Von da an war ich Sieger, und so oft auch seither meine Wünsche ins Land der Gesundheit und Jugendlust hinüberliefen, und so oft ich mit Bitterkeit und zorniger Scham mein Krüppeltum hasste und verfluchte, es ging mir dieses Leid doch nimmer so leicht über die Kraft; es war etwas da, zu trösten und zu verklären.

Ab und zu kam mein Vater hergereist, die Mutter und mich zu besuchen, und eines Tages, da es mir längst erträglich ging, nahm er sie wieder mit sich nach Hause. Die ersten Tage fühlte ich mich etwas vereinsamt, schämte mich auch, dass ich mit der Mutter zuwenig herzlich gesprochen hatte und zuwenig auf ihre Gedanken und Sorgen eingegangen war. Doch füllte mich jenes andere Gefühl zu sehr aus, als dass diese Gedanken über wohlgemeinte Spielereien und Rührungen hinausgeraten wären.

Nun kam unerwartet jemand mich zu besuchen, der sich während der Anwesenheit meiner Mutter nicht herbeigewagt hatte. Das war Liddy. Ich war sehr erstaunt, sie zu sehen. Es fiel mir im ersten Augenblick gar nicht ein, wie nah ich ihr vor kurzem gestanden und wie sehr ich in sie verliebt gewesen war. Sie kam in großer Verlegenheit, die sie schlecht verbarg, hatte sich vor meiner Mutter und sogar vor dem Gericht gefürchtet, da sie sich an meinem Unglück schuldig wusste, und begriff nur langsam, dass die Sache nicht so schlimm war und sie im Grunde gar nichts angehe. Nun atmete sie auf, doch war eine leise Enttäuschung nicht zu verkennen. Die Mädchen hatten, bei allem bösen Gewissen, doch im Grunde ihres guten Weiberherzens sich an der ganzen Geschichte, an so viel ergreifendem und rührendem Unglück, innigst erlabt. Sie brauchte sogar mehrmals das Wort »tragisch«, worüber ich kaum das Lachen verhalten konnte. Überhaupt war sie nicht darauf gefasst gewesen, mich so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden[19]. Sie hatte im Sinn gehabt, mich um Verzeihung zu bitten, deren Gewährung mir als Verliebtem eine gewaltige Genugtuung schaffen müsse, und sich auf Grund dieser rührenden Szene meines Herzens von neuem siegreich zu bemächtigen.

Nun war es dem törichten Kinde zwar keine kleine Erleichterung, mich so vergnügt und sich selbst aller Schuld und Anklage ledig zu finden. Sie wurde aber dieser Erleichterung nicht froh, sondern je mehr ihr Gewissen sich beruhigte und ihre mitgebrachte Angst verflog, desto stiller und kühler sah ich sie werden. Es beleidigte sie nachträglich doch nicht wenig, dass ich ihren Anteil an der Sache so gering anschlug, ja vergessen zu haben schien, dass ich die Rührung und Abbitte im Keim[20] unterdrückt und sie um die ganze schöne Szene gebracht hatte. Dass ich vollends gar nicht mehr in sie verliebt war, merkte sie trotz meiner großen Höflichkeit sehr wohl, und das war das schlimmste. Mochte ich Arme und Beine verloren haben, ich war doch immer ein Anbeter gewesen, den sie zwar nicht geliebt und nie beglückt, an dessen Schmachten sie aber, je elender er war, desto größere Genugtuung gefunden hätte. Nun war es damit nichts, wie sie sehr deutlich merkte, und ich sah auf ihrem hübschen Gesicht die Wärme und Teilnahme der mitleidigen Krankenbesucherin mehr und mehr erlöschen und erkühlen. Schließlich ging sie nach einem phrasenhaften Abschied und kam nie wieder, obwohl sie es heilig versprochen hatte.

So peinlich es mir war und so sehr es mir wider das Selbstgefühl ging, meine frühere Verliebtheit so ins Kleine und Lächerliche gefallen zu sehen, so tat der Besuch mir doch wohl. Ich war sehr verwundert, das schöne begehrte Fräulein zum erstenmal ohne Leidenschafft und Brille zu sehen und wahrzunehmen, dass ich sie gar nicht gekannt habe. Hätte man mir die Puppe gezeigt, die ich als Dreijähriger umarmt und geliebt hatte, so hätte mich die Entfremdung und Änderung des Gefühls nicht mehr verwundern können als hier, wo ich ein vor Wochen noch heiß begehrtes Mädchen als eine völlig Fremde vor mir sah.

Von den Kameraden, die auf jenem Sonntagsausflug im Winter dabei gewesen waren, besuchten zwei mich einigemal, doch fanden wir wenig miteinander zu reden, und ich bemerkte ihr Aufatmen wohl, als es mir besser ging und ich sie bat, mir keine Opfer mehr zu bringen. Später trafen wir einander nicht mehr. Es war merkwürdig und machte mir einen wehmütig sonderbaren Eindruck: alles fiel von mir ab, ward fremd und ging mir verloren, was in diesen Jünglingsjahren zu meinem Leben gehört hatte. Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich die ganze Zeit gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz von mir trennten, so dass es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so lange habe aushalten können oder sie bei mir.

Dagegen überraschte mich ein andrer Besuch, an den ich nie gedacht hätte. Es kam eines Tages mein Klavierlehrer, der strenge und spöttische Herr. Er behielt den Stock in der Hand und die Handschuhe an den Händen, sprach in seinem gewohnten herben, fast bissigen Ton, nannte jene böse Schlittenfahrt eine »Weiberkutschiererei«[21]