Читать книгу «Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Германа Гессе — MyBook.
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Erstes Kapitel

Wenn ich, von außen her, über mein Leben weg schaue, sieht es nicht besonders glücklich aus. Doch darf ich es noch weniger unglücklich heißen[3], trotz aller Irrtümer. Es ist am Ende auch ganz töricht, so nach Glück und Unglück zu fragen, denn mir scheint, die unglücklichsten Tage meines Lebens gäbe ich schwerer hin als alle heiteren. Wenn es in einem Menschenleben darauf ankommt, das Unabwendbare mit Bewusstsein hinzunehmen, das Gute und Üble recht auszukosten und sich neben dem äußeren ein inneres, eigentlicheres, nicht zufälliges Schicksal zu erobern, so war mein Leben nicht arm und nicht schlecht. Ist das äußere Schicksal über mich hingegangen wie über alle, unabwendbar und von Göttern verhängt, so ist mein inneres Geschick doch mein eigenes Werk gewesen, dessen Süße oder Bitterkeit mir zukommt und für das ich die Verantwortung allein auf mich zu nehmen denke.

Manchmal in früheren Jahren habe ich gewünscht, ein Dichter zu sein. Wäre ich einer, so widerstünde ich der Lockung nicht, meinem Leben bis in die zarten Schatten der Kinderzeit und bis zu den lieben, zärtlich gehüteten Quellen meiner frühesten Erinnerungen nachzugehen. So aber ist mir dieser Besitz allzu lieb und heilig, als dass ich ihn mir etwas selber verderben möchte. Von meiner Kindheit ist nur zu sagen, dass sie schön und heiter war; man ließ mir die Freiheit, meine Neigungen und Gaben selber zu entdecken, mir meine innigsten Freuden und Schmerzen selber zu schaffen und die Zukunft nicht als fremde Macht von oben, sondern als die Hoffnung und den Erwerb meiner eigenen Kräfte anzusehen. So ging ich unberührt durch die Schulen, als ein unbeliebter und wenig begabter, doch ruhiger Schüler, den man am Ende gewähren ließ, da er keine starken Einflüsse zu dulden schien.

Etwa von meinem sechsten oder siebenten Jahr an begriffich, dass von allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und zu regieren bestimmt sei. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine Zuflucht und meinen Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte. Ich war Musiker, obwohl ich vor meinem zwölften Jahre kein Instrument spielen lernte und nicht daran dachte, später mein Brot mit Musikmachen verdienen zu wollen.

Dabei ist es seither geblieben, ohne dass etwas Wesentliches sich geändert hat, und darum erscheint mir beim Rückblick mein Leben nicht bunt und vielgestaltig, sondern von Anfang an auf einen Grundton gestimmt und auf einen einzigen Stern gestellt. Mochte es sonst wohl oder übel gehen, mein innerstes Leben blieb unverändert. Ich mochte lange Zeiten auf fremden Wassern treiben[4], kein Notenheft und kein Instrument anrühren, eine Melodie lag mir doch zu jeder Stunde im Blut und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen des Lebens. So begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und Frieden dürstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik. Es braucht nicht Beethoven oder Bach zu sein: – dass überhaupt Musik in der Welt ist, dass ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für mich immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von allen deinen Kräften und Bewegungen Besitz[5] – und für die Augenblicke, die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige in dir aus, lässt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun! Und erst die Harmonie! Schon jeder wohllautende Zusammenklang rein gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut und Genuss und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton und kann zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine andere Wollust es vermag.

Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die sich Völker und Dichter erträumt haben, schien mir immer die höchste und innigste jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie. Daran haben meine tiefsten und goldensten Träume gestreift – einen Herzschlag lang den Bau des Weltalls und die Gesamtheit alles Lebens in ihrer geheimen, eingeborenen Harmonie zu hören. Ach, und wie kann denn das Leben so wirr und verstimmt und verlogen sein, wie kann nur Lüge, Bosheit, Neid und Hass unter Menschen sein, da doch jedes kleinste Lied und jede bescheidenste Musik so deutlich predigt, dass Reinheit, Harmonie und brüderliches Spiel klar gestimmter Töne den Himmel öffnet! Und wie mag ich selber schelten und zürnen, da ich selber, mit allem guten Willen, aus meinem Leben kein Lied und keine reine Musik habe machen können! Im Innersten spüre ich wohl den unabweislichen Mahner, das dürstende Verlangen nach einem reinen, wohlgefälligen, in sich seligen Tönen und Verklingen; meine Tage aber sind voll Zufall und Missklang, und wohin ich mich wende, und wo ich poche, er tönt mir nirgends lauter und klar zurück.

Nichts mehr davon, ich will erzählen. Wenn ich mich nun besinne, für wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich so viel Macht über mich hat, dass er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit durchbrechen kann, so muss ich einen lieben Frauennamen sagen, der mir nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal umfasst, sondern wohl auch als Stern und hohes Sinnbild über allem stehen mag.

Zweites Kapitel

Erst während der letzten Schuljahre, als alle meine Kameraden von ihren künftigen Berufen zu reden begannen, fing auch ich an, hierüber nachzudenken. Die Musik zu meinem Beruf und Erwerb zu machen, lag mir eigentlich fern; doch konnte ich mir keinen andern Beruf denken, der mir Freude gemacht hätte. Ich hatte gegen den Handel oder andere Gewerbe, die mein Vater mir vorschlug, keinen Widerwillen, sie waren mir nur gleichgültig. Aber da meine Kameraden so stolz auf die von ihnen gewählten Berufe taten, vielleicht auch eine Stimme in mir dafür eintrat, schien es mir doch gut und richtig, das zu meinem Beruf zu machen, was ohnehin meine Gedanken ausfüllte und mir allein rechte Freude machte. Es kam mir zustatten, dass ich seit meinem zwölften Jahre das Violinspielen begonnen und unter einem guten Lehrer etwas Rechtes gelernt hatte. So sehr nun mein Vater sich wehrte und davor bangte, seinen einzigen Sohn die ungewisse Laufbahn eines Künstlers einschlagen[6]zu sehen, gerade an seinem Widerstand wuchs mein Wille, und der Lehrer, der mich gern hatte, trat für meinen Wunsch nach Kräften ein. Am Ende gab mein Vater nach, es wurde mir nur zur Prüfung meiner Ausdauer und in der Hoffnung auf eine Sinnesänderung noch ein Schuljahr zudiktiert, das ich mit leidlicher Geduld absaß und währenddessen ich meines Begehrens nur sicherer wurde.

Während dieses letzten Schuljahres verliebte ich mich zum erstenmal in ein hübsches junges Fräulein unserer Bekanntschafft. Ohne sie viel zu sehen und auch ohne sie stark zu begehren, genoss und durchlitt ich die süßen Bewegungen der ersten Liebe wie in einem Traume. Und in dieser Zeit, da ich den ganzen Tag ebensosehr an meine Musik wie an meine Liebe dachte und nachts vor herrlicher Erregung nicht schlafen konnte, hielt ich zum erstenmal mit Bewusstsein Melodien fest, die mir einfielen, zwei kleine Lieder, und versuchte sie aufzuschreiben. Das erfüllte mich mit einem schamhaften, doch durchdringenden Vergnügen, über dem ich meine spielerische Liebesnot fast ganz vergaß. Inzwischen hörte ich, dass meine Geliebte Singstunden nehme, und war sehr begierig, sie einmal singen zu hören. Nach Monaten ward mein Wunsch erfüllt, bei einer Abendgesellschafft im Haus meiner Eltern. Das hübsche Mädchen ward aufgefordert zu singen, wehrte sich heftig und musste am Ende doch und ich wartete darauf mit einer ungeheuren Spannung. Ein Herr begleitete an unserem kleinen schmalen Klavierchen, er spielte ein paar Takte, und sie begann. Ach, sie sang schlecht, traurig schlecht, und noch während sie sang, verwandelte sich meine Bestürzung und Qual zu Mitleid und dann zu Humor, und künftig war ich dieser Verliebtheit ledig.

Ich war ein geduldiger und nicht gerade unfleißiger, aber kein guter Schüler, und im letzten Jahr gab ich mir vollends wenig Mühe mehr. Daran war nicht Trägheit und auch nicht meine Verliebtheit schuld, sondern ein Zustand jünglinghafter Träumerei und Gleichgültigkeit, eine Dumpfheit der Sinne und des Kopfes, die nur zuweilen plötzlich und heftig unterbrochen ward, wenn eine von den wunderbaren Stunden verfrühter schöpferischer Lust mich wie in Äther hüllte. Dann fühlte ich mich von einer überklaren, kristallenen Luft umgeben, in der kein Träumen und Vegetieren möglich war, wo alle Sinne sich geschärft und wachsam auf die Lauer legten[7]. Was in diesen Stunden entstand, war wenig, vielleicht zehn Melodien und einige Anfänge harmonischer Gestaltungen; aber die Luft dieser Stunden vergaß ich nimmer, diese überklare, fast kalte Luft und diese gespannte Zusammenfassung der Gedanken, um einer Melodie die rechte, einzige, nicht mehr zufällige Bewegung und Lösung zu geben. Zufrieden war ich mit diesen kleinen Leistungen nicht und hielt sie nie für etwas Gültiges und Gutes, aber das wurde mir klar, dass in meinem Leben nichts so begehrenswert und wichtig sein werde wie die Wiederkehr solcher Stunden der Klarheit und des Schaffens.

Daneben kannte ich auch Tage des Schwärmens, wo ich auf der Geige phantasierte und den Rausch flüchtiger Einfälle und farbiger Stimmungen genoss. Nur wusste ich bald, dass das kein Schaffen war, sondern ein Spielen und Schwelgen, vor dem ich mich zu hüten habe. Ich merkte, dass es ein anderes Ding ist, seinen Träumen nachzugehen und berauschte Stunden auszukosten, als unerbittlich und klar mit den Geheimnissen der Form wie mit Feinden zu ringen. Und ich merkte schon damals etwas davon, dass ein rechtes Schaffen einsam macht und etwas von uns verlangt, was wir dem Behagen des Lebens abbrechen müssen.

Endlich war ich frei, hatte die Schule hinter mir, den Eltern Lebewohl gesagt und ein neues Leben als Schüler des Konservatoriums in der Hauptstadt begonnen. Ich tat dies mit großen Erwartungen und war überzeugt gewesen, ich würde in der Musikschule ein guter Schüler sein. Zu meinem peinlichen Bedauern kam es aber anders. Ich hatte Mühe, dem Unterricht überall zu folgen, fand im Klavierunterricht, den ich jetzt nehmen musste, nur eine große Plage und sah bald mein ganzes Studium wie einen unersteiglichen Berg vor mir liegen. Wohl war ich nicht gesonnen nachzugeben, doch war ich enttäuscht und befangen. Ich sah jetzt, dass ich bei aller Bescheidenheit mich doch für eine Art von Genie gehalten und die Mühen und Schwierigkeiten des Weges zur Kunst bedenklich unterschätzt hatte. Dazu ward mir das Komponieren gründlich verleidet, da ich jetzt bei der geringsten Aufgabe nur Berge von Schwierigkeiten und Regeln sah, meinem Gefühl durchaus misstrauen lernte und nicht mehr wusste, ob überhaupt ein Funke von eigener Kraft in mir sei. So beschied ich mich, wurde klein und traurig, ich tat meine Arbeit wenig anders, als ich die in einem Kontor oder in einer andern Schule getan hätte, fleißig und freudlos. Klagen durfte ich nicht, am wenigsten in meinen Briefen nach Hause, sondern ging den begonnenen Weg in stiller Enttäuschung weiter und nahm mir vor, wenigstens ein ordentlicher Geiger zu werden. Ich übte und übte, steckte Grobheiten und Spott der Lehrer ein[8], sah manche andere, denen ich es nicht zugetraut hätte, leicht vorwärtskommen und Lob ernten[9] und steckte meine Ziele immer niedriger. Denn auch mit dem Geigen stand und ging es nicht so, dass ich darauf hätte stolz sein können und etwa an ein Virtuosentum denken dürfen. Es sah ganz so aus, als könne aus mir bei gutem Fleiß zur Not ein brauchbarer Handwerker werden, der in irgendeinem kleinen Orchester seine bescheidene Geige ohne Schande und ohne Ehre spielt und dafür sein Brot bekommt.

So war diese Zeit, die ich so sehr ersehnt und von der ich mir alles versprochen hatte, die einzige in meinem Leben, in der ich vom Geist der Musik verlassen freudlose Wege ging und Tage ohne Klang und Takt[10] dahinlebte. Wo ich Genuss, Erhebung, Glanz und Schönheit gesucht hatte, fand ich nur Forderungen, Regeln, Pflichten, Schwierigkeiten und Gefahren. Fiel mir etwas Musikalisches ein, so war es entweder banal und hundertmal dagewesen, oder es stand sichtlich mit allen Gesetzen der Kunst in Widerspruch und konnte also nichts wert sein. Da packte ich alle großen Gedanken und Hoffnungen ein. Ich war einer von den Tausenden, die mit jugendlicher Frechheit zur Kunst gekommen sind und deren Kraft versagt, wenn es Ernst werden soll.

Dieser Zustand dauerte wohl etwa drei Jahre. Ich war nun über zwanzig Jahre alt, hatte offenbar meinen Beruf verfehlt und ging den begonnenen Weg nur aus Scham und Pflichtgefühl weiter. Ich wusste nichts mehr von Musik, nur noch von Fingerübungen, schweren Aufgaben, Widersprüchen in der Harmonielehre, drückenden Klavierlektionen bei einem spöttischen Lehrer, der in allen meinen Bemühungen nur Zeitvergeudung sah.

Wäre das alte Ideal nicht doch noch heimlich in mir lebendig gewesen, so hätte ich es in diesen Jahren recht gut haben können. Ich war frei und hatte Freunde, war ein hübscher und blühender junger Mensch, ein Sohn wohlhabender Eltern. Für Augenblicke genoss ich alles das, es gab vergnügte Tage, Liebeleien, Zechereien, Ferienfahrten. Aber es war mir nicht möglich, mich dabei zu trösten, meine Pflicht in Kürze abzutun[11] und vor allem meiner jungen Tage froh zu werden. Ohne dass ich davon wusste, blickte mein Heimweh doch noch in allen unbewachten Stunden nach dem untergegangenen Stern der Künstlerschafft aus, es war mir unmöglich, die Enttäuschung zu vergessen und zu betäuben. Nur einmal gelang es mir gründlich.

Es war der törichste Tag meiner törichten Jugend. Ich lief damals einer Schülerin des berühmten Gesanglehrers H. nach. Ihr schien es ähnlich zu gehen wie mir, sie war mit großen Hoffnungen gekommen, hatte strenge Lehrer gefunden, war die Arbeit nicht gewohnt und glaubte schließlich sogar ihre Stimme zu verlieren. Sie legte sich auf die leichte Seite[12], flirtete mit uns Kollegen und wusste uns alle toll zu machen, wozu freilich nicht gar viel gehörte. Sie hatte die feurige, lebhafte Schönheit, die bald verblüht.

Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder gefangen, wenn ich sie sah. Ich war nie lange Zeit in sie verliebt, ich vergaß sie oft völlig, aber wenn ich bei ihr war, schlug jedesmal die Verliebtheit wieder über mir zusammen. Sie spielte mit mir wie mit andern, reizte uns, genoss ihre Macht und war selber dabei nur mit der neugierigen Sinnlichkeit ihrer Jugend beteiligt. Sie war sehr schön, aber nur wenn sie sprach und in Bewegung war, wenn sie mit ihrer warmen, tiefen Stimme lachte, wenn sie tanzte oder sich an der Eifersucht ihrer Liebhaber ergötzte. So oft ich von einer Gesellschafft heimkam, in der ich sie gesehen hatte, lachte ich mich selber aus und bewies mir, dass ein Mensch von meiner Art unmöglich diese gefällige Lebenskünstlerin im Ernst lieben könne. Manchmal aber gelang es ihr wieder, mich durch eine Geste, durch ein geflüstertes Wort so zu erregen, dass ich die halbe Nacht heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.

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