Es war in jenen Tagen bitter kalt, man konnte es kaum erheizen. Meine Kameraden liefen eifrig Schlittschuh. Es jährte sich seit unserem Ausflug mit Liddy. Für mich war das keine gute Zeit, und ich freute mich auf den Abend bei Muoth, ohne mir sonst viel davon zu versprechen, nur weil ich solang keine Freunde und keine Fröhlichkeit mehr gesehen hatte. In der Nacht vor dem elften Januar erwachte ich an einem ungewohnten Geräusch und einer fast erschreckenden Wärme der Luft. Ich stand auf und ging ans Fenster, verwundert, dass es nimmer kalt war. Da war plötzlich der Südwind gekommen, es wehte gewaltig feucht und lau, in der Höhe schob der Sturm große schwerfällige Wolkenzüge vor sich über den Himmel, an dem in schmalen Lücken einzelne Sterne sonderbar groß und blendend strahlten. Die Dächer hatten schon schwarze Flecken, und am Morgen, als ich ausging, war aller Schnee vergangen[34]. Die Straßen und Gesichter sahen seltsam verändert aus, und über allem schwamm ein verfrühter Hauch von Frühling.
Ich ging an jenem Tage in einem leisen fieberhaften Rausch umher, teils wegen des Südwindes und der gärenden Luft, teils in großer Erregung und Erwartung des Abends. Oftmals nahm ich meine Sonate vor und spielte Stücke daraus, und warf sie wieder weg. Bald fand ich sie wahrhaft schön und hatte meine stolze Freude an ihr, bald kam sie mir plötzlich kleinlich, zerrissen und unklar vor. Ich hätte diese Aufregung und Bangigkeit nicht lange ertragen. Schließlich wusste ich nimmer, ob ich mich auf den herankommenden Abend freue oder fürchte.
Er kam dennoch, ich zog den Gehrock an, nahm meinen Geigenkasten mit und suchte Muoths Wohnung auf. Weit in der Vorstadt in einer unbekannten und unbegangenen Straße fand ich in der Dunkelheit mit Mühe das Haus, es lag allein in einem großen Garten, der verfallen und ungepflegt erschien, hinter der unverschlossenen Gartentür fiel ein großer Hund mich an, der von einem Fenster her zurückgepfiffen wurde und murrend mich zum Eingang begleitete. Hier empfing mich eine alte kleine Frau mit ängstlichen Augen, nahm mir den Mantel ab und führte mich durch einen hell erleuchteten Korridor hinein.
Der Geigenspieler Kranzl wohnte sehr nobel, und ich hatte erwartet, es auch bei Muoth, der für reich galt, ziemlich glänzend zu finden. Nun sah ich zwar große, weite Räume, viel zu groß für einen Junggesellen, der wenig zu Hause ist, sonst aber alles sehr einfach, oder eigentlich nicht einfach, sondern zufällig und ungeordnet. Die Möbel waren zum Teil alt und schienen zum Hause zu gehören, dazwischen standen neue Sachen, wahllos gekauft und ohne Sorgfalt aufgestellt. Glänzend war nur die Beleuchtung. Es brannte kein Gas, statt dessen eine große Menge weißer Kerzen in einfachen, schönen Zinnleuchtern, im Hauptraume auch eine Art Kronleuchter, ein schlichter Messingring mit vielen Kerzen besteckt. Hier stand als Hauptstück ein sehr schöner Flügel.
In dem Zimmer, in das ich geführt wurde, standen einige Herren im Gespräch beisammen. Ich stellte meinen Kasten ab und grüßte, einige nickten und wandten sich wieder zueinander, ich stand fremd da. Nun kam Kranzl, der bei ihnen war und mich nicht gleich beachtet hatte, zu mir, gab mir die Hand, stellte mich seinen Bekannten vor und sagte: »Das ist unser neuer Geiger. Haben Sie auch die Geigen mitgebracht?« Dann rief er ins Nebenzimmer hinüber: »Du, Muoth, der mit der Sonaten ist da.«
Jetzt kam Heinrich Muoth herein, begrüßte mich sehr freundlich und nahm mich mit ins Flügelzimmer, wo es festlich und warm aussah und eine schöne Frau im weißen Kleid mir ein Glas Sherry[35] einschenkte. Es war eine Schauspielerin vom Hoftheater, übrigens sah ich zu meinem Erstaunen sonst keinen Kollegen des Hausherrn eingeladen, auch war sie die einzige Dame.
Als ich mein Gläschen halb in Verlegenheit, halb in unwillkürlichem Wärmebedürfnis nach dem feuchten Nachtgang rasch ausgetrunken hatte, schenkte sie mir wieder ein und ließ meine Abwehr nicht gelten: »Nehmen Sie nur, es kann nichts schaden. Wir kriegen nämlich erst nach der Musik etwas zu essen. Sie haben doch die Geige mitgebracht und die Sonate?«
Ich gab spröde Antwort und war befangen, wusste auch nicht, in welchem Verhältnis sie zu Muoth stehe. Sie schien die Hausfrau zu machen und war übrigens eine Augenweide, wie ich denn auch in der Folge meinen neuen Freund stets nur mit exemplarisch schönen Frauen Umgang pflegen sah.
Indessen sammelten sich alle im Musikzimmer, Muoth stellte ein Notenpult aus, man setzte sich, und bald war ich mit Kranzl mitten in der Musik. Ich spielte, ohne es zu fühlen, es kam mir miserabel vor, und nur wie jagendes Wetterleuchten überflog mich zwischenein je und je für Sekunden das Bewusstsein, dass ich hier mit Kranzl spiele, und dass das der zag erwartete große Abend sei, und dass da eine kleine Gesellschafft von Kennern und verwöhnten Musikern sitze, denen wir meine Sonate vorspielten. Erst während des Rondos begann ich zu hören, dass Kranzl herrlich spielte, doch war ich immer noch so befangen und außerhalb der Musik, dass ich ununterbrochen an anderes dachte und mir plötzlich einfiel, dass ich Muoth noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert habe.
Nun war die Sonate ausgespielt, die schöne Dame erhob sich, gab mir und Kranzl die Hand und öffnete die Tür zu einem kleineren Zimmer, wo uns ein gedeckter Tisch mit Blumen und Weinflaschen erwartete.
»Endlich!« rief einer von den Herren. »Ich bin schier verhungert.«
Die Dame meinte: »Sie sind doch ein Scheusal. Was soll der Komponist denken?«
»Welcher Komponist, ist er denn da?«
Sie zeigte auf mich. »Da sitzt er.«
Er sah mich an und lachte. »Das hättet ihr mir auch vorher sagen können. Übrigens, die Musik war recht schön. Nur, wenn man Hunger hat – «
Wir begannen zu essen, und kaum war die Suppe weg und der weiße Wein eingeschenkt, da tat Kranzl einen Trinkspruch auf den Hausherrn und dessen Geburtstag. Muoth erhob sich gleich nach dem Anstoßen: »Lieber Kranzl, wenn du gedacht hast, ich würde jetzt eine Rede auf dich halten, hast du dich getäuscht. Wir wollen überhaupt keine Reden mehr halten, ich bitte drum. Die einzige, die vielleicht nötig ist, nehme ich hiermit auf mich. Ich danke unserem jungen Freund für seine Sonate, die ich famos finde. Vielleicht wird unser Kranzl einmal froh sein, wenn er Sachen von ihm zu spielen kriegt, was er übrigens nur tun soll, denn er hat die Sonate wirklich kapiert. Ich trinke auf den Komponisten und auf gute Freundschafft mit ihm.«
Man stieß an, lachte, zog mich ein wenig auf, und bald kam eine von gutem Wein erhöhte Tafelfröhlichkeit zustande, der ich mich erlöst hingab. Ich war lange nimmer auf diese Weise vergnügt und entlastet gewesen, eigentlich seit einem Jahr nicht mehr. Jetzt tat mir Gelächter und Wein, Gläsergeläut, Stimmenwirrnis und der Anblick einer schönen fröhlichen Frau verschüttete Tore zur Freude auf, und ich glitt weich hinüber in die losgebundene Heiterkeit leichter und lebhafter Gespräche und lachender Mienen.
Früh stand man von der Tafel auf und kehrte ins Musikzimmer zurück, wo sich das Gelage mit Wein und Zigaretten in alle Ecken verteilte. Ein stiller Herr, der wenig geredet hatte und dessen Namen ich nicht wusste, kam zu mir und sagte mir freundliche Worte über die Sonate, die ich ganz vergessen hatte. Dann zog mich die Schauspielerin ins Gespräch, und zu uns setzte sich Muoth. Wir tranken abermals auf gute Freundschafft, und plötzlich sagte er funkelnd mit seinen düster lachenden Augen: »Ich weiß jetzt Ihre Geschichte.« Und zu der Schönen: »Er hat sich beim Rodeln die Knochen gebrochen, einem hübschen Mädel zu lieb.« Und wieder zu mir: »Das ist schön. Im Augenblick, wo die Liebe am schönsten ist und noch keinen Fleck hat, kopfüber den Berg hinunter. Das ist schon ein gesundes Bein wert.« Lachend leerte er sein Glas und sah wieder dunkel und grübelnd aus, als er sagte: »Wie sind Sie zum Komponieren gekommen?«
Ich erzählte, von der Knabenzeit her, wie es mir mit der Musik gegangen war, und erzählte vom vergangenen Sommer, von meiner Flucht in die Berge und von dem Lied und der Sonate.
»Ja«, sagte er langsam. »Aber warum macht Ihnen das nun Freude? Man kann einen Schmerz doch nicht aufs Papier schreiben und damit los sein.«
»Das will ich auch nicht«, meinte ich. »Ich möchte gar nichts hergeben und los sein als die Schwäche und Unfreiheit. Ich möchte empfinden, dass der Schmerz und die Freude aus der gleichen Quelle kommen und Bewegungen derselben Kraft und Takte derselben Musik sind, jedes schön und notwendig.«
»Mann«, rief er heftig. »Sie haben doch ein Bein verloren! Können Sie denn das über der Musik vergessen?«
»Nein, warum? Anders machen kann ich es doch nimmer.«
»Und macht Sie das nicht verzweifelt?«
»Es freut mich nicht, das können Sie mir glauben, aber ich hoffe, zum Verzweifeln bringt es mich nimmer.«
»Dann sind Sie glücklich. Ich gäbe zwar kein Bein her um so ein Glück. Also so ist das mit Ihrer Musik? Sieh, Marion, das ist der Zauber der Kunst, von dem soviel in Büchern steht.«
Zornig rief ich ihn an: »Reden Sie doch nicht so! Sie selber singen doch auch nicht bloß um Ihre Gage, sondern haben ein Freude und einen Trost daran! Warum verspotten Sie mich und sich selber? Ich finde das roh.«
»Still, still!« machte Marion, »sonst wird er bös.«
Muoth sah mich an. »Ich werde nicht böse. Er hat ja ganz recht. Aber das mit dem Bein kann nicht so schlimm sein, sonst würden Sie das Musikmachen nicht darüber trösten. Sie sind ein zufriedener Mensch, denen kann passieren was will, und Sie bleiben doch zufrieden. Aber ich habe nicht daran geglaubt.«
Und er sprang auf, ganz zornig. »Und es ist auch nicht wahr! Sie haben ja das Lawinenlied komponiert, das ist kein Trost und keine Zufriedenheit, sondern Verzweiflung. Hören Sie!«
Er war plötzlich am Flügel, es wurde stiller im Zimmer. Er fing zu spielen an, verwirrte sich, ließ dann die Einleitung weg und sang das Lied. Er sang es jetzt anders als damals bei mir, und ich konnte sehen, dass er es seither manchmal vorgehabt habe. Auch sang er diesmal mit voller Stimme, mit seinem hohen Bariton, den ich von der Bühne kannte, und dessen Kraft und strömende Leidenschafft die ungeklärte Härte seines Gesangs vergessen machte.
»Das hat dieser Mann, wie er sagt, rein zum Vergnügen geschrieben, er weiß nichts von Verzweiflung und ist mit seinem Los unendlich zufrieden!« rief er und zeigte auf mich, und ich hatte Tränen der Scham und des Zorns in den Augen, sah alles in Schleiern wanken und stand auf, um ein Ende zu machen und fortzugehen.
Da hielt mich eine feine, doch kräftige Hand und drückte mich in den Sessel zurück, und strich mir leise und zärtlich über das Haar, dass mich feine heiße Wellen bespülten, dass ich die Augen schloss und die Tränen verbiss. Aufschauend sah ich alsdann Heinrich Muoth vor mir stehen, die andern schienen meine Bewegung und die ganze Szene nicht beachtet zu haben, sie tranken Wein und lachten durcheinander.
»Sie Kind!« sagte Muoth leise. »Wenn man solche Lieder geschrieben hat, ist man doch über so etwas hinaus. Aber es tut mir leid. Da hat man einen Menschen gern, und kaum ist man mit ihn zusammen, so fängt man Händel mit ihm an[36].«
»Es ist gut«, sagte ich befangen. »Aber ich möchte jetzt heimgehen, das Schönste von heute haben wir doch gehabt.«
»Gut, ich will Sie nicht nötigen. Wir andern betrinken uns jetzt noch, denke ich. Dann seien Sie so gut und nehmen Sie die Marion mit heim, gelt? Sie wohnt am Innern Graben, das ist für Sie kein Umweg.«
Die schöne Frau sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ja, wollen Sie?« Sagte sie dann zu mir, und ich stand auf. Wir nahmen nur von Muoth Abschied, im Vorzimmer half uns ein Lohndiener in die Mäntel[37], dann erschien verschlafen auch die kleine Alte und leuchtete mit einer großen Laterne durch den Garten zur Pforte. Der Wind ging immer noch weich und laulich, trieb lange schwarze Wolkenzüge dahin und wühlte in kahlen Baumkronen.
Ich wagte nicht, der Marion den Arm zu geben, sie aber hängte ungefragt bei mir ein, sog Nachtluft mit zurückgeworfenem Kopfe ein und sah dann aus solcher Höhe fragend und vertraulich auf mich herab. Mir war, ich fühle immer noch ihre leichte Hand auf meinen Haaren, sie ging langsam und schien mich führen zu wollen.
»Dort stehen Droschken«, sagte ich, denn es war mir peinlich, dass sie sich meinem lahmen Schritt anbequemen sollte[38], und ich litt darunter, neben der warmen, kraftvoll schlanken Frau einherzuhinken.
»Nein«, meinte sie, »wir wollen noch eine Straße weit gehen.« Und sie gab sich Mühe, recht langsam zu gehen, und wenn es nur auf mein Verlangen angekommen wäre, ich hätte sie noch enger an mich gezogen. So aber zerriss ich Qual und Zorn, ich machte ihren Arm aus meinem los, und als sie mich erstaunt ansah, sagte ich: »Es geht nicht gut so, ich muss allein gehen, verzeihen Sie.« Und sie ging sorgsam und mitleidig neben mir, und mir fehlte nichts als ein aufrechter Gang und das Bewusstsein der körperlichen Sicherheit, so hätte ich von allem, was ich tat und sagte, das Gegenteil gesagt und getan. Ich wurde still und schroff, es war nicht anders zu machen, sonst hätte ich wieder Tränen in die Augen bekommen und mich danach gesehnt, ihre Hand auf meinem Kopf zu fühlen. Am liebsten wäre ich in die nächste Seitengasse entflohen. Ich wollte nicht, dass sie langsam ging, dass sie mich schonte, dass sie Mitleid mit mir hatte.
»Sind Sie ihm böse?« fing sie schließlich an.
»Nein. Es war dumm von mir. Ich kannte ihn ja noch kaum.«
»Es tut mir leid, wenn er so ist. Er hat Tage, wo man ihn fürchten muss.«
»Sie auch?«
»Ich am meisten. Dabei tut er niemand weher als sich selber. Er hasst sich manchmal.«
»Ach, er macht sich interessant!«
»Was sagen Sie?« rief sie erschrocken.
»Dass er ein Komödiant ist. Was braucht er sich und andere zu verhöhnen? Was braucht er die Erlebnisse und Geheimnisse eines Fremden hervorzuziehen und lächerlich zu machen, das Lästermaul!«
Mein Zorn von vorher kehrte mir im Reden wieder, ich war gewillt, den Mann zu beschimpfen und herabzuziehen, der mir weh getan hatte und den ich leider beneidete. Auch war meine Achtung vor der Dame gesunken, da sie ihn in Schutz nahm und sich offen vor mir zu ihm bekannte. War es nicht schon schlimm, dass sie es auf sich genommen hatte, bei diesem weinfrohen Junggesellenabend die einzige Frau zu sein? In diesen Dingen war ich wenig Freiheit gewöhnt, und da ich mich schämte, nach dieser schönen Frau trotzdem Sehnsucht zu haben, fing ich in meiner Hitze lieber Streit an, als dass ich länger ihr Mitleid spürte. Mochte sie mich roh finden und mir davonlaufen, es war mir besser, als dass sie bei mir blieb und freundlich war.
Sie legte mir aber die Hand auf den Arm. »Halt«, rief sie warm, dass ihre Stimme mir trotz allem ins Herz ging, »reden Sie nicht weiter! Was tun Sie denn? Sie sind durch zwei Worte von Muoth verletzt, weil sie nicht geschickt oder mutig genug waren, sie zu parieren, und jetzt, wo Sie fort sind, fallen Sie vor mir mit hässlichen Worten über ihn her! Ich sollte gehen und Sie allein lassen.«
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