Читать книгу «Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Эрих Марии Ремарк — MyBook.
image

6

Kern kam Sonntag abend ins Hotel zurück. In seinem Zimmer stieß er auf Marill, der sehr aufgeregt war. „Endlich irgend jemand!“ rief er. „Verdammte Bude, in der ausgerechnet heute kein Aas zu finden ist! Alles ausgegangen! Alles unterwegs! Sogar der verfluchte Wirt!“

„Was ist denn los?“ fragte Kern.

„Wissen Sie, wo eine Hebamme wohnt? Oder ein Arzt, irgendein Frauenarzt oder so was?“

„Nein.“

„Natürlich nicht!“ Marill starrte ihn an. „Sie sind doch ein vernünftiger Mensch, Kern. Kommen Sie mit. Irgend jemand muss bei der Frau bleiben. Ich werde dann losgehen und eine Hebamme suchen. Können Sie das?“

„Was?“

„Aufpassen, dass sie sich nicht zuviel bewegt! Mit ihr reden. Irgendwas tun!“

Er schleppte Kern, der nicht verstand, was los war, den Korridor entlang in den unteren Stock und öffnete die Tür eines kleinen Zimmers, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand. Darin lag eine Frau und stöhnte.

„Siebenter Monat! Fehlgeburt oder so was! Beruhigen Sie sie, wenn Sie können! Ich hole einen Arzt.“

Er war draußen, ehe Kern etwas erwidern konnte.

Die Frau im Bett stöhnte. Kern trat auf Zehenspitzen heran.

„Kann ich Ihnen etwas geben?“ fragte er.

Die Frau stöhnte weiter. Sie hatte klatschnasse, verschwitzte Haare von einem verblichenen Blond und ein graues Gesicht, aus dem dicke Sommersprossen sonderbar dunkel hervorschimmerten. Die Augen waren verdreht; unter den halbgeschlossenen Lidern war fast nur das Weiße zu sehen. Die dünnen Lippen waren zurückgezogen, die Zähne gefletscht und fest aufeinandergebissen. Sie leuchteten sehr weiß aus dem Halbdunkel.

„Kann ich Ihnen etwas geben?“ fragte Kern noch einmal.

Er sah sich um. Ein billiger, dünner Staubmantel hing über einem Stuhl, wie hingeworfen. Vor dem Bett standen ein Paar ausgetretene Schuhe. Die Frau lag mit ihren Kleidern im Bett, wie hineingestürzt. Auf dem Tisch stand eine Flasche mit Wasser und neben dem Waschtisch ein Koffer.

Die Frau stöhnte. Kern wusste nicht, was er tun sollte. Die Frau warf sich hm und her. Er erinnerte sich an das, was Marill ihm gesagt hatte, und an das wenige, was er von dem einen Jahr an der Universität wusste, und versuchte, die Schultern der Frau festzuhalten. Aber es war, als wollte er eine Schlange festhalten. Während er sich bemühte und sie ihm entglitt und ihn wegstieß, riss sie plötzlich die Hände hoch und krallte sich augenblicklich mit aller Kraft an seinen Armen fest.

Er stand wie festgeschmiedet. Er hätte nie geglaubt, dass die Frau eine solche Kraft haben könnte. Sie drehte den Kopf langsam, als wäre er eine Schraube, und stöhnte grauenvoll, als käme ihr Atem aus der Erde.

Der Körper zuckte, und plötzlich sah Kern unter der Bettdecke, die sich verschoben hatte, einen schwarzroten Fleck hervorkriechen, das Leintuch entlang, größer werden und sich ausbreiten. Er versuchte, sich loszumachen, aber die Frau hielt ihn eisern fest. Wie gebannt starrte er auf den Fleck, der zu einem breiten Streifen wurde, bis er die Kante des Leintuchs erreichte und von da zur Erde tropfte und eine schwarze Lache bildete.

„Loslassen! Lassen Sie los!“ Kern wagte nicht die Arme zu bewegen, weil er dann den Körper der Frau geschüttelt hätte. „Loslassen!“ knirschte er. „Loslassen!“

Plötzlich erschlaffte der Körper der Frau. Sie ließ los und fiel in die Kissen. Kern griff nach der Decke und hob sie etwas hoch. Ein Schwall Blut quoll hervor und klatschte auf den Boden. Er sprang auf und rannte hinauf zu dem Zimmer, in dem Ruth Holland wohnte.

Sie war da. Sie saß allein auf ihrem Bett zwischen ihren aufgeschlagenen Büchern. „Kommen Sie!“ rief Kern. „Unten verblutet eine Frau!“

Sie liefen hinunter. Das Zimmer war dunkler geworden. Im Fenster flammte das Abendrot und warf einen düsteren Schein über den Boden und den Tisch. Ein roter Reflex funkelte wie ein Rubin in der Wasserflasche. Die Frau lag jetzt ganz still. Sie schien nicht mehr zu atmen.

Ruth Holland hob die Bettdecke auf. Die Frau schwamm in Blut. „Machen Sie Licht“, rief das Mädchen.

Kern lief zum Schalter. Das Licht der schwachen Birne mischte sich mit dem Abendrot zu einer trüben Helligkeit. In diesem gelbroten Brodem lag die Frau auf dem Bett. Sie schien nichts zu sein als ein unförmiger Bauch mit verschobenen, blutigen Kleidern, unter denen die Beine mit herabgerutschten, schwarzen Strümpfen herausragten, sonderbar in sich verdreht und erschlafft.

„Geben Sie das Handtuch! Sie muss aufhören zu bluten! Vielleicht finden Sie irgend etwas!“

Kern sah, wie Ruth die Ärmel hochschob und die Kleider der Frau zu lösen versuchte. Er gab ihr das Handtuch vom Waschtisch. „Der Arzt muss gleich kommen! Marill ist unterwegs.“

Er suchte nach Verbandszeug und stülpte den Koffer hastig um.

„Geben Sie her, was Sie finden“, rief Ruth.

Auf dem Boden lag ein Haufen Säuglingswäsche – kleine Hemden, Windeln, Tücher und dazwischen ein paar Jäckchen, gestrickt aus rosa und hellblauer Wolle, mit Schleifen und Seide geschmückt. Eins war noch nicht fertig; ein paar Stricknadeln steckten noch drin. Ein Knäuel weiches, blaues Wollgarn fiel heraus und rollte lautlos über den Boden.

„Geben Sie her!“ Ruth warf das blutige Handtuch weg. Kern gab ihr die Windeln und die Tücher. Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Gleich darauf ging die Tür auf, und Marill kam mit einem Arzt herein.

„Ja, was ist denn da… verdammt!“

Der Arzt machte einen langen Schritt, schob Ruth Holland beiseite und beugte sich über die Frau. Nach einiger Zeit wandte er sich um zu Marill. „Rufen Sie sofort Nummer 2167 an. Braun soll eiligst kommen und alles mitbringen für Narkose, Braxton-Hicks-Operation. Verstanden? Außerdem alles für schwere Blutungen.“

„Gut.“

Der Arzt sah sich um. „Sie können gehen!“ sagte er zu Kern. „Das Fräulein bleibt hier. Holen Sie Wasser. Geben Sie mir meine Tasche.“

Der zweite Arzt kam zehn Minuten spater. Mit Hilfe Kerns und einiger anderer Leute, die inzwischen gekommen waren, wurde der Raum neben dem Zimmer, wo die Frau lag, in ein Operationszimmer verwandelt. Die Betten wurden beiseite geschoben, Tische herangerückt und die Instrumente vorbereitet. Der Wirt holte die stärksten Birnen, die er hatte, und schraubte sie in die Lampen ein.

„Los, Los!“

Der erste Arzt tobte vor Ungeduld. Er riss seinen weißen Mantel über und ließ sich ihn von Ruth Holland zuknöpfen. „Nehmen Sie sich auch so was!“ Er warf ihr einen Mantel zu. „Wir brauchen Sie vielleicht hier. Können Sie Blut sehen? Wird Ihnen schlecht?“

„Nein“, sagte Ruth.

„Gut! Brav!“

„Vielleicht kann ich auch was tun“, sagte Kern. „Ich habe zwei Semester Medizin.“

„Vorläufig nicht.“ Der Arzt sah nach den Instrumenten. „Können wir anfangen?“

Das Licht spiegelte sich in seiner Glatze. Die Tür wurde ausgehängt. Vier Männer trugen das Bett mit der leise wimmernden Frau über den Korridor herein. Die Frau hatte die Augen weit offen. Ihre farblosen Lippen bebten.

„Los! Anfassen!“ schnauzte der Arzt. „Hochheben! Vorsichtig, verflucht noch mal!“

Die Frau war schwer. Kern standen die Schweißtropfen auf der Stirn. Sein Blick begegnete dem Ruths. Sie war blass, aber ruhig und so verändert, dass er sie kaum wiedererkannte. Sie gehörte zu der blutenden Frau.

„So! ’raus alles, was nichts hier zu tun hat!“ schnauzte der Arzt mit der Glatze. Er nahm die Hand der Frau. „Es tut nicht weh. Es ist ganz leicht.“ Er hatte plötzlich die Stimme einer Mutter.

„Das Kind soll leben“, flüsterte die Frau.

„Beide, beide…“, erwiderte der Arzt sanft.

„Das Kind…“

„Wir drehen es nur ein bisschen um, aus der Schulterlage heraus. Dann kommt es wie der Blitz. Nur ruhig, ganz ruhig. Narkose!“

* * *

Kern stand mit Marill und ein paar anderen Leuten in dem verlassenen Zimmer der Frau. Sie warteten darauf, dass sie wieder gebraucht würden. Von nebenan klang gedämpft das Murmeln der Ärzte. Auf dem Boden verstreut lagen die rosa und blauen gestrickten Jäckchen.

„Eine Geburt“, sagte Marill zu Kern. „So ist das, wenn man auf die Welt kommt… Blut, Blut und Schreie! Verstehen Sie, Kern?“

„Ja.“

„Nein“, sagte Marill. „Sie nicht und ich nicht! Eine Frau, nur eine Frau! Fühlen Sie sich nicht wie ein Schwein?“

„Nein“, erwiderte Kern.

„So? Aber ich!“ Marill wischte sich die Brille ab und betrachtete Kern. „Haben Sie schon mit einer Frau geschlafen? Nein! Sonst würden Sie sich auch wie ein Schwein fühlen. Gibt’s hier irgendwo eine Möglichkeit für einen Schnaps?“

Der Kellner trat aus dem Hintergrund des Zimmers hervor. „Bringen Sie eine halbe Flasche Kognak!“ sagte Marill. „Jaja, ich habe Geld dafür! Bringen Sie nur!“

Der Kellner verschwand. Mit ihm der Wirt und zwei andere Gestalten. Die beiden blieben allein. „Setzen wir uns ans Fenster“, sagte Marill. Er zeigte auf das Abendrot. „Schön, was?“

Kern nickte.

„Ja“, sagte Marill, „alles nebeneinander. Ist das Flieder, da unten im Garten?“

„Ja.“

„Flieder und Äther. Blut und Kognak. Na, prost!“

„Ich habe vier Gläser gebracht, Herr Marill“, sagte der Kellner und stellte das Tablett auf den Tisch. „Ich dachte, vielleicht…“ Er wies mit dem Kopf nach nebenan.

„Gut.“

Marill schenkte zwei Gläser voll. „Trinken Sie, Kern?“

„Wenig.“

„Ein jüdisches Laster, Abstinenz. Dafür verstehen sie mehr von Frauen. Aber Frauen wollen gar nicht verstanden sein. Prost!“

„Prost!“

Kern trank sein Glas leer. Er fühlte sich besser danach. „Ist das nur eine Frühgeburt?“ fragte er.

„Oder noch mehr?“

„Ja. Vier Wochen zu früh. Überanstrengt. Deshalb: Reisen, Umsteigen, Aufregung, ’rumlaufen und so was, verstehen Sie? Sollte eine Frau nicht machen in dem Zustand.“

„Und warum?“

Marill schenkte neu ein. „Warum…“ sagte er. „Weil sie wollte, dass ihr Kind Tscheche würde. Weil sie nicht wollte, dass man es in der Schule schon anspucken und Dreckjude schimpfen sollte.“

„Ich verstehe“, sagte Kern. „Ist der Mann nicht mit ’rausgekommen?“

„Den Mann hat man vor ein paar Jahren eingelocht. Warum? Weil er ein Geschäft hatte und tüchtiger und fleißiger war als sein Konkurrent an der nächsten Ecke. Was macht man dann als Konkurrent? Man geht hin und zeigt den Fleißigen an – staatsverräterische Reden, geschimpft, oder kommunistische Ideen. Irgendwas. Darauf wird er eingelocht – und man übernimmt die Kunden. Kapiert?[115]

„Das kenne ich“, sagte Kern.

Marill trank sein Glas aus. „Ein rauhes Zeitalter. Der Frieden wird mit Kanonen und Bombenflugzeugen stabilisiert, die Menschlichkeit mit Konzentrationslagern und Pogromen. Wir leben in einer Umkehrung aller Werte, Kern. Der Angreifer ist heute der Hüter des Friedens, der Verprügelte und Gehetzte der Störenfried der Welt. Und es gibt ganze Völkerstämme, die das glauben!“

Eine halbe Stunde später hörten sie ein dünnes, quäkendes Schreien von nebenan.

„Verdammt!“ sagte Marill. „Sie haben es geschafft! Ein Tscheche mehr auf der Welt! Darauf wollen wir einen heben! Los, Kern! Auf das große Mysterium der Welt! Die Geburt! Wissen Sie, warum es ein Mysterium ist? Weil man hinterher wieder stirbt. Prost.“

Die Tür öffnete sich. Der zweite Arzt kam herein. Er war blutbespritzt und schwitzte. In den Händen hielt er ein krebsrotes Etwas, das quäkte und dem er auf den Rücken patschte.

„Es lebt!“ knurrte er. „Gibt’s hier irgendwas…“ er griff nach einem Pack Tücher… „na, zur Not… Fräulein!“

Er übergab Ruth das Kind und die Tücher. „Baden und einwikkeln – nicht zu fest – die Alte drinnen weiß Bescheid, die Wirtin – aber ’raus aus dem Äther, lassen Sie es im Badezimmer…“

Ruth nahm das Kind. Ihre Augen schienen Kern doppelt so groß wie sonst. Der Arzt setzte sich an den Tisch. „Gibt’s hier Kognak?“

Marill goss ihm ein Glas ein. „Wie ist einem Arzt eigentlich zumute“, fragte er, „wenn er sieht, dass täglich neue Bombenflugzeuge und Kanonen gebaut werden, aber keine Hospitäler? Die einen sind doch nur dazu da, um die andern zu füllen.“

Der Arzt schaute auf. „Beschissen“, sagte er, „beschissen! Schöne Aufgabe: man flickt sie mit der größten Kunst zusammen, damit sie mit der größten Barbarei wieder in Stücke gerissen werden. Warum nicht gleich die Kinder totschlagen! Ist doch viel einfacher.“

„Mein Lieber“, erwiderte der Reichstagsabgeordnete Marill, „Kinder töten ist Mord. Erwachsene töten ist eine Angelegenheit nationaler Ehre.“

„Im nächsten Krieg werden auch genug Frauenbund Kinder dabei sein“, brummte der Arzt. „Die Cholera rotten wir aus – dabei ist das eine harmlose Krankheit gegen ein bisschen Krieg.“

„Braun!“ rief der Arzt aus dem Nebenzimmer. „Rasch.“

„Ich komme!“

„Verdammt! Scheint nicht alles glatt zu gehen“, sagte Marill.

* * *

Nach einiger Zeit kam Braun zurück. Er sah verfallen aus. „Riss im Gebärmutterhals“, sagte er. „Nichts zu machen. Die Frau verblutet.“

„Nichts zu machen?“

„Nichts. Haben alles versucht. Hört nicht auf zu bluten.“

„Können Sie keine Blutübertragung machen?“ fragte Ruth, die in der Tür stand. „Sie können es von mir nehmen.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Hilft nichts, Kindchen. Wenn’s nicht aufhört…“

Er ging zurück. Die Tür blieb offen. Das helle Viereck wirkte gespenstisch. Die drei saßen und schwiegen. Der Kellner tappte herein. – „Soll ich abräumen?“

„Nein.“

„Wollen Sie etwas trinken?“ fragte Marill Ruth. Sie schüttelte den Kopf.

„Doch, nehmen Sie was. Es ist besser.“ Er goss ihr ein halbes Glas ein.

Es war dunkel geworden. Am Horizont über den Dächern schimmerte nur noch schwachgrün und orangefarben das letzte Licht. Darin schwamm der bleiche Mond, zerfressen von Löchern wie eine alte Messingmünze. Von der Straße her hörte man Stimmen. Sie waren laut, vergnügt und nichtsahnend. Kern erinnerte sich plötzlich an Steiner und das, was er gesagt hatte. Wenn neben dir jemand stirbt: du spürst es nicht. Das ist das Unglück der Welt. Mitleid ist kein Schmerz. Mitleid ist eine versteckte Schadenfreude. Ein Aufatmen, dass man es nicht selber ist oder einer, den man liebt. Er blickte zu Ruth hinüber. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen.

Marill horchte auf. „Was ist denn das?“

Ein langer, voller Geigenton schwang durch die anbrechende Nacht. Er verhallte, schwoll wieder an, stieg empor, sieghaft, trotzig – und dann begannen Läufe zu perlen, zarter und zarter, und eine Melodie löste sich los, einfach und traurig wie der versinkende Abend.

„Es ist hier im Hotel“, sagte Marill und spähte durchs Fenster. „Über uns in der vierten Etage.“

„Ich glaube, ich kenne ihn“, erwiderte Kern. „Es ist ein Geiger, den ich schon einmal gehört habe. Ich wusste nicht, dass er auch hier wohnt.“

„Das ist kein einfacher Geiger. Das ist viel mehr.“

„Soll ich hinaufgehen und ihm sagen, er möchte aufhören?“

„Warum?“

Kern machte eine Bewegung zur Tür. Marills Brille glänzte. „Nein. Wozu? Traurig sein kann man immer. Und Sterben ist überall. Das geht alles zusammen.“

Sie saßen und lauschten. Nach langer Zeit kam Braun aus dem Nebenzimmer. „Aus“, sagte er. „Exitus[37]. Sie hat nicht viel gespürt. Weiß nur, dass ein Kind da ist. Das haben wir ihr noch sagen können.“

Die drei standen auf. „Wir können sie wieder hierher bringen“, sagte Braun. „Das Zimmer nebenan wird ja gebraucht.“

Die Frau lag weiß und plötzlich schmal in der Verwüstung von blutigen Tüchern, Tupfern und Eimern und Schalen von Blut und Watte. Sie lag da mit einem fremden, strengen Gesicht, und es ging sie alles nichts mehr an. Der Arzt mit der Glatze, der sich um sie herumbewegte, wirkte wie unanständig gegen sie: fressendes, säftevolles, zermalmendes, ausscheidendes Leben neben der Ruhe der Vollendung.

„Lassen Sie sie zugedeckt“, sagte der Arzt. „Besser Sie sehen das andere nicht. War sowieso schon ein bisschen viel, nicht wahr, kleines Fräulein?“

Ruth schüttelte den Kopf.

„Sie haben sich tapfer gehalten. Nicht gemuckt. Wissen Sie, was ich jetzt könnte, Braun? Mich aufhängen, mich glatt am nächsten Fenster aufhängen!“

„Sie haben das Kind lebendig geholt; das war eine Glanzleistung.“

„Aufhängen! Verstehen Sie, ich weiß, dass wir alles getan haben, dass man machtlos dagegen ist. Trotzdem könnte ich mich aufhängen!“

Er würgte wütend, sein Gesicht über dem Kragen des blutigen Kittels war rot und fleischig. „Zwanzig Jahre mache ich das nun schon. Und jedesmal, wenn mir einer durch die Lappen geht, möchte ich mich aufhängen. Zu blödsinnig.“ Er wandte sich an Kern. „Nehmen Sie mir da aus der linken Rocktasche die Zigaretten und stecken Sie mir eine in den Mund. Ja, kleines Fräulein, ich weiß, was Sie denken. So, und nun Feuer. Ich geh’ mich waschen.“ Er starrte auf die Gummihandschuhe, als wären sie an allem schuld, und ging schwerfällig ins Badezimmer.

Sie trugen die Tote mit dem Bett auf den Korridor hinaus und von da in ihr Zimmer zurück. Auf dem Korridor standen ein paar Leute, die in dem großen Zimmer wohnten. „Konnte man sie denn nicht in eine Klinik bringen?“ fragte eine dürre Frau, die einen Hals wie ein Truthahn hatte.

„Nein“, sagte Marill. „Sonst hätte man’s getan.“

„Und nun bleibt sie hier, die ganze Nacht? Eine Tote nebenan – wer kann da schlafen!“

„Dann bleiben Sie wach, Großmutter“, entgegnete Marill.

„Ich bin keine Großmutter“, fauchte die Frau.

„Das merkt man.“

Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu. „Und wer macht das Zimmer sauber? Der Geruch geht ja nie heraus. Man hätte ja auch Nummer zehn drüben dafür nehmen können!“

„Sehen Sie“, sagte Marill zu Ruth, „die Frau hier ist tot. Und ihr Kind hätte sie gebraucht und ihr Mann vielleicht auch. Aber dieses unfruchtbare Plättbrett da draußen lebt. Wird wahrscheinlich steinalt zum Ärger der Mitmenschen. Das ist eines der Rätsel, hinter die man nie kommt.“

„Das Böse ist härter, es hält mehr aus“, erwiderte Ruth finster.

Marill sah sie an. „Woher wissen Sie das denn schon?“

„Das ist heute leicht zu lernen.“

Marill erwiderte nichts. Er blickte sie nur an. Die beiden Ärzte kamen. „Das Kind ist bei der Wirtin“, sagte der mit der Glatze. „Es wird abgeholt werden. Ich telefoniere gleich deswegen. Auch wegen der Frau. Kannten Sie sie näher?“

Marill schüttelte den Kopf. „Sie ist vor ein paar Tagen gekommen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.“

„Vielleicht hat sie Papiere. Die kann man dann mitgeben.“

„Ich werde nachsehen.“