Er kaufte zwei Billette und hoffte, dass sie nichts gemerkt hatte. Es war ihm gleich darauf aber auch schon egal – die Hauptsache war, dass sie neben ihm saß.
Der Saal wurde dunkel. Die Kasbah[29] von Marrakesch[30] erschien auf der Leinwand, malerisch und von Sonne überflirrt, die Wüste glänzte auf, und der eintönige Klang der Flöten und Tamburine zitterte durch die heiße afrikanische Nacht…
Ruth Holland lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Musik fiel über sie wie ein warmer Regen – ein warmer, eintöniger Regen, aus dem sich quälend die Erinnerung hob…
Sie stand am Burggraben von Nürnberg. Es war April. Vor ihr stand in der Dunkelheit der Student Herbert Billing, ein zerknülltes Zeitungsblatt in der Hand.
„Du verstehst, was ich meine, Ruth?“
„Ja, ich verstehe es, Herbert! Es ist leicht zu verstehen.“
Billing zerknitterte nervös das Exemplar des „Stürmer[31]“.
„Mein Name als Judenknecht in der Zeitung! Als Rassenschänder! Das ist der Ruin, verstehst du?“
„Ja, Herbert.“
„Ich muss sehen, wie ich da ’rauskomme. Meine ganze Karriere steht auf dem Spiel. In der Zeitung, das liest jeder, verstehst du?“
„Ja, Herbert. Mein Name steht auch in der Zeitung.“
„Das ist ganz was anderes! Was kann dir das ausmachen? Du darfst doch sowieso nicht mehr zur Universität.“
„Du hast recht, Herbert.“
„Also Schluss, nicht wahr? Wir sind getrennt und haben nichts mehr miteinander zu tun.“
„Nichts mehr. Und nun leb wohl.“
Sie drehte sich um und ging.
„Warte – Ruth – hör doch, einen Moment!“
Sie blieb stehen. Er kam heran. Sein Gesicht war so dicht vor ihr in der Dunkelheit, dass sie seinen Atem spürte. „Hör zu“, sagte er. „Wo gehst du jetzt hin?“
„Nach Hause.“
„Du brauchst doch nicht gleich…“ Er atmete stärker. „Es ist natürlich alles abgemacht, nicht wahr? Das bleibt dann so! Aber du könntest doch… wir könnten… gerade heute abend ist keiner bei mir zu Hause, verstehst du, und wir würden nicht gesehen.“ Er fasste nach ihrem Arm. „Wir brauchen uns ja nicht gerade so zu trennen, so formell meine ich, wir könnten doch noch einmal…“
„Geh!“ sagte sie. „Sofort!“
„Aber sei doch vernünftig, Ruth.“ Er nahm sie um die Schulter.
Sie sah das hübsche Gesicht, das sie geliebt und dem sie gedankenlos vertraut hatte. Dann schlug sie hinein. „Geh!“ schrie sie, während ihr die Tränen herunterstürzten. „Geh!“
Billing zuckte zurück. „Was? Schlagen? Mich schlagen? Du dreckige Judensau willst mich schlagen?“
Er machte Miene, sich auf sie zu stürzen.
„Geh!“ schrie sie gellend.
Er sah sich um. „Halt den Mund!“ zischte er. „Willst mir wohl noch Leute auf den Hals hetzen, was? Könnte dir so passen! Ich gehe, jawohl, ich gehe! Gott sei Dank, dass ich dich los bin!“
„Quand l’amour meurt[32]“, sang die Frau auf der Leinwand mit ihrer dunklen Stimme durch den Lärm und Rauch des marokkanischen Cafés. Ruth Holland strich sich über die Stirn.
Das andere war wenig dagegen. Die Angst der Verwandten, bei denen sie wohnte – das Drängen des Onkels, abzureisen, damit er nicht hineingezogen würde – der anonyme Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, wenn sie nicht in drei Tagen verschwunden sei, werde man sie auf einem Wagen, mit Schildern auf Brust und Rücken und abgeschnittenem Haar als Rassenschänderin durch die Stadt füh-ren – der Besuch am Grabe ihrer Mutter – der nasse Morgen vor dem Kriegerdenkmal, von dem man den Namen ihres Vaters, der 1916 in Flandern gefallen war, abgekratzt hatte, weil er Jude war – und dann die hastige, einsame Fahrt mit den paar Schmuckstücken ihrer Mutter über die Grenze nach Prag…
Die Flöten und Tamburine setzten auf der Leinwand wieder ein. Darüber hinweg wehte der Marsch der Fremdenlegionäre – die eiligen, erregenden Rufe der Clairons über den Kompanien der in die Wüste ziehenden Kämpfer ohne Heimat und Vaterland.
Kern beugte sich zu Ruth Holland hinüber. „Gefällt es Ihnen?“
„Ja…“
Er griff in die Tasche und schob ihr eine kleine flache Flasche hinüber. „Eau de Cologne[33]“, flüsterte er. „Es ist heiß hier. Vielleicht erfrischt es Sie etwas.“
„Danke.“
Sie schüttelte ein paar Tropfen auf ihre Hand. Kern sah nicht, dass sie plötzlich Tränen in den Augen hatte.
„Danke“, sagte sie noch einmal.
Steiner saß zu zweitenmal im Café Hellebarde. Er schob dem Kellner einen Fünfschillingschein hin und bestellte einen Kaffee.
„Telefonieren?“ fragte der Kellner.
Steiner nickte. Er hatte noch einige Male mit wechselndem Glück in anderen Lokalen gespielt und besaß jetzt etwa fünfhundert Schilling.
Der Kellner legte ihm einen Pack Journale hin und ging. Steiner griff nach einer Zeitung und begann zu lesen. Aber er legte sie bald wieder beiseite; es interessierte ihn wenig,“ was in der Welt los war. Für jemand, der unter Wasser schwamm, gab es nur eins: wieder hochzukommen… es war ihm gleich, was die Fische für Farben hatten.
Der Kellner brachte den Kaffee und stellte ein Glas Wasser dazu. „Die Herren kommen in einer Stunde.“
Er blieb am Tisch stehen. „Schönes Wetter heute, was?“ fragte er nach einiger Zeit.
Steiner nickte und starrte auf die Wand, an der eine Aufforderung hing, durch Malzbiertrinken das Leben zu verlängern.
Der Kellner schlurfte hinter die Theke zurück. Nach einiger Zeit brachte er auf einem Tablett ein zweites Glas Wasser heran.
„Bringen Sie mir lieber einen Kirsch“, sagte Steiner. „Gut. Sofort.“
„Trinken Sie auch einen mit.“
Der Kellner verbeugte sich. „Danke, mein Herr. Sie haben Verständnis für unsereins. Das findet man selten.“
„Ach wo!“ erwiderte Steiner. „Ich langweile mich nur, das ist alles.“
„Ich habe Leute gekannt, die sind schon auf schlechtere Ideen gekommen, wenn sie sich gelangweilt haben“, sagte der Kellner.
Er trank und kratzte sich die Gurgel. „Mein Herr“, sagte er dann vertraulich, „ich weiß doch, worum es sich bei Ihnen handelt – wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte, würde ich Ihnen den toten Österreicher empfehlen. Es gibt ja auch noch tote Rumänen, die sind sogar etwas billiger – aber wer kann schon rumänisch?“
Steiner sah ihn scharf an.
Der Kellner ließ seine Gurgel im Stich und begann, sich den Nacken zu reiben. Er kratzte dazu mit dem Fuß wie ein Hund. „Am besten wäre natürlich ein Amerikaner oder ein Engländer“, sagte er nachdenklich. „Aber wann stirbt schon mal ein Amerikaner in Österreich! Und wenn schon, vielleicht durch einen Autounfall – wie kommt man an den Pass?“
„Ich glaube, ein deutscher ist besser als ein österreichischer“, sagte Steiner. „Schlechter zu kontrollieren.“
„Das schon. Aber Sie kriegen keine Arbeitserlaubnis darauf. Nur Aufenthalt. Mit einem toten Österreicher dagegen können Sie überall in Österreich arbeiten.“
„Bis man erwischt wird.“
„Ja, natürlich! Aber wer wird in Österreich schon erwischt? Höchstens der Falsche…“
Steiner musste lachen. „Man kann auch mal der Falsche sein. Es bleibt gefährlich.“
„Ach, wissen Sie, mein Herr“, sagte der Kellner, „gefährlich soll’s auch sein, wenn man in der Nase bohrt.“
„Ja; aber darauf steht kein Zuchthaus.“
Der Kellner fing an, vorsichtig seine Nase zu massieren. Er bohrte aber nicht. „Ich meine es gut, mein Herr“, sagte er. „Ich habe hier meine Erfahrungen gesammelt. Ein toter Österreicher ist noch das Reellste.“
Gegen zehn Uhr kamen die beiden Passhändler. Einer von ihnen, ein behender Mensch mit Vogelaugen, führte die Unterhaltung. Der andere saß nur massig und aufgeschwemmt dabei und schwieg.
Der Redner zog einen deutschen Pass hervor. „Wir haben uns bei unseren Geschäftsfreunden erkundigt. Sie können diesen Pass auf Ihren eigenen Namen ausgestellt bekommen. Die Personalbeschreibung wird weggewaschen und Ihre eigene eingesetzt. Bis auf den Geburtsort natürlich, da müssen Sie schon Augsburg nehmen, weil die Stempel von dort sind. Das kostet allerdings zweihundert Schilling mehr. Präzisionsarbeit, verstehen Sie?“
„Soviel Geld habe ich nicht“, sagte Steiner. „Ich lege auch keinen Wert auf meinen Namen.“
„Dann nehmen Sie ihn so. Wir ändern nur die Fotografie. Den kleinen Stempelrand, der über das Foto läuft, machen wir Ihnen gratis dazu.“
„Nützt nichts. Ich will arbeiten. Mit dem Pass da bekomme ich keine Arbeitserlaubnis.“
Der Redner zuckte die Achseln. „Dann bleibt nur der österreichische. Damit können Sie hier arbeiten.“
„Und wenn bei der Polizeibehörde angefragt wird, die ihn ausgestellt hat?“
„Wer soll anfragen? Wenn Sie nichts ausfressen?“ „Dreihundert Schilling“, sagte Steiner.
Der Redner fuhr zurück. „Wir haben feste Preise“, erklärte er beleidigt. „Fünfhundert, nicht einen Groschen darunter.“
Steiner schwieg.
„Bei dem deutschen hätte man was machen können, so was kommt öfter vor. Aber ein österreichischer ist was Rares. Wann hat ein Österreicher schon mal einen Pass? Im Lande braucht er keinen, und wann reist er schon ins Ausland? Dazu noch bei der Devisensperre! Fünfhundert ist geschenkt dafür.“
„Dreihundertfünfzig.“
Der Redner ereiferte sich. „Dreihundertfünfzig habe ich selbst der Trauerfamilie gezahlt. Was meinen Sie, was für Arbeit dazu gehört hat! Dazu die Provisionen und die Spesen. Pietät[34] ist teuer, mein Herr! So frisch vom Grabe weg was zu bekommen, da müssen Sie schön bare Pimperlinge auf den Tisch zählen! Nur bares Geld trocknet die Tränen und läßt die Trauer zurücktreten! Vierhundertfünfzig meinetwegen, gegen unsere Interessen, weil Sie uns sympathisch sind.“
Sie einigten sich auf vierhundert. Steiner zog eine Fotografie von sich aus der Tasche, die er in einem Automaten für einen Schilling hatte machen lassen. Die beiden gingen damit los, und eine Stunde später brachten sie den Pass zurück. Steiner bezahlte ihn und steckte ihn ein.
„Viel Glück!“ sagte der Redner. „Und noch einen Tip. Wenn er abgelaufen ist, können wir ihn verlängern. Datum wegwaschen und ändern. Sehr einfach. Die einzige Schwierigkeit sind die Visa. Je später Sie weiche brauchen, um so besser – desto länger kann man das Datum verschieben.“
„Das hätten wir doch jetzt schon tun können“, sagte Steiner.
Der Redner schüttelte den Kopf. „Besser für Sie so. Sie haben so einen echten Pass, den Sie gefunden haben können. Eine Fotografie auszutauschen ist nicht so schlimm, wie etwas Schriftliches zu ändern. Und Sie haben ja ein Jahr Zeit. Da kann viel passieren.“
„Hoffentlich.“
„Strenge Diskretion natürlich, nicht wahr? Unser aller Interesse. Höchstens mal eine seriöse Empfehlung. Sie kennen ja den Weg. Alsdann[35], guten Abend.“
„Guten Abend.“
„Strszecz miecze[36]“, sagte der Schweiger.
„Er spricht nicht deutsch“, grinste der Redner auf einen Blick Steiners. „Hat aber eine wunderbare Hand für Stempel. Streng seriös natürlich.“
Steiner ging zum Bahnhof. Er hatte seinen Rucksack dort in der Gepäckaufbewahrung gelassen. Am Abend vorher war er aus der Pension ausgezogen. Die Nacht hatte er auf einer Bank in den Anlagen geschlafen. Morgens hatte er sich in der Bahnhoftoilette den Schnurrbart abrasiert und dann die Fotografie machen lassen. Eine wilde Genugtuung erfüllte ihn. Er war jetzt der Arbeiter Johann Huber aus Graz.
Unterwegs blieb er stehen. Er hatte noch etwas zu regeln aus der Zeit, als er Steiner hieß. Er ging zu einem Telefonautomaten und suchte im Telefonbuch eine Nummer. „Leopold Schäfer“, murmelte er, „Trautenaugasse siebenundzwanzig.“ Der Name hatte sich ins Gedächtnis eingebrannt.
Er fand die Nummer und rief an. Eine Frau meldete sich. „Ist der Wachmann Schäfer zu Hause?“ fragte er.
„Ja, ich will ihn gleich rufen.“
„Das ist nicht nötig“, erwiderte Steiner rasch. „Hier ist die Polizeidirektion Elisabethpromenade. Um zwölf Uhr ist eine Razzia. Der Wachmann Schäfer hat sich um dreiviertel zwölf hier zu melden. Haben Sie verstanden?“
„Ja. Um dreiviertel zwölf.“ – „Gut.“ Steiner hängte ab.
Die Trautenaugasse war eine schmale, stille Straße, mit kahlen Kleinbürgerhäusern. Steiner sah sich Haus Nummer siebenundzwanzig genau an. Es unterschied sich in nichts von den andern; aber es erschien ihm besonders widerwärtig. Dann ging er ein Stück zurück und wartete.
Der Wachmann Schäfer kam eilig und wichtig aus dem Haus gepoltert. Steiner ging ihm so entgegen, dass er ihm an einer dunklen Stelle begegnete. Dort rempelte er ihn mit einem mächtigen Schulterstoß an.
Schäfer taumelte. „Sind Sie besoffen, Mensch?“ brüllte er. „Sehen Sie nicht, dass Sie einen Beamten im Dienst vor sich haben?“
„Nein“, erwiderte Steiner. „Ich sehe nur einen jämmerlichen Hurensohn! Einen Hurensohn, verstehst du?“
Schäfer war einen Moment sprachlos. „Mensch“, sagte er dann leise. „Sie müssen verrückt sein! Das werden Sie mir büßen! Los, mit zur Wache!“
Er versuchte, seinen Revolver zu ziehen. Steiner trat mit dem Fuß gegen seinen Arm, trat blitzschnell heran und tat das Entehrendste, was es für einen Mann gibt; er schlug Schäfer mit der flachen Hand links und rechts ins Gesicht.
Der Wachmann röchelte und sprang auf ihn los. Steiner wich zur Seite und landete einen linken Schwinger auf Schäfers Nase, die sofort blutete. „Hurensohn!“ knurrte er. „Jammervoller Scheißer! Feiges Aas!“
Er zerschlug ihm mit einem trockenen Geraden die Lippen und fühlte die Zähne unter seinen Knöcheln knacken. Schäfer taumelte. „Hilfe!“ schrie er dann mit einer fetten, hohen Stimme.
„Halt’s Maul!“ knurrte Steiner und setzte einen scharfen Rechten aufs Kinn und gleich darauf die kurz geschlagene Linke genau auf den Solarplexus. Schäfer gab einen froschähnlichen Laut von sich und stürzte wie eine Säule zu Boden.
Ein paar Fenster wurden hell. „Was ist denn da schon wieder los?“ schrie eine Stimme.
„Nichts“, erwiderte Steiner aus dem Dunkel. „Nur ein Besoffener!“
„Der Teufel soll die Saufbrüder holen!“ rief die Stimme ärgerlich. „Bringen Sie ihn doch zur Polizei!“
„Da soll er gerade hin!“
„Hauen Sie ihm vorher noch ein paar in das versoffene Maul!“
Das Fenster klappte zu. Steiner grinste und verschwand um die nächste Ecke. Er war sicher, dass Schäfer ihn mit seinem veränderten Gesicht im Dunkel nicht erkannt hatte. Er kreuzte noch ein paar Straßenecken, bis er in eine belebte Gegend kam. Dann ging er langsamer.
Wunderbar und gleichzeitig zum Kotzen, dachte er. So ein bisschen lächerliche Rache! Aber es wiegt Jahre der Flucht und Geducktheit auf! Man muss die Gelegenheit nehmen, wie sie kommt! Er blieb unter einer Laterne stehen und holte seinen Pass heraus. Johann Huber! Arbeiter! Du bist tot und verfaulst irgendwo in der Erde von Graz – aber dein Pass lebt und ist gültig für die Behörden. Ich, Josef Steiner, lebe; aber ich bin ohne Pass tot für die Behörden. Er lachte. Tauschen wir, Johann Huber! Gib mir dein papierenes Leben und nimm meinen papierlosen Tod! Wenn die Lebenden uns nicht helfen, müssen die Toten es tun!
О проекте
О подписке