Alford zog seine Waffe und stürmte aus dem Lagerhaus. Riley und Lucy folgten mit ihren Händen auf den eigenen Waffen. Draußen sauste etwas um den Strommast, an dem die Leiche hing. Es gab ein konstantes summendes Geräusch von sich.
Der junge Polizist Boyden hatte seine Pistole gezogen. Offensichtlich hatte er gerade auf die Drone geschossen, die um die Leiche flog, und machte sich bereit einen weiteren Schuss abzugeben.
“Boyden, runter mit der Waffe!” rief Alford. Er steckte seine eigene Pistole wieder weg.
Boyden sah Alford überrascht an. Als er seine Waffe einsteckte, stieg die Drone auf und flog davon.
Der Polizeichef kochte vor Wut.
“Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht deine Waffe zu feuern?” bellte er Boyden an.
“Den Tatort sichern”, sagte Boyden. “Das war wahrscheinlich ein Blogger, der Fotos macht.”
“Wahrscheinlich”, sagte Alford. “Und mir gefällt das nicht besser als dir. Aber es ist illegal die Dinger aus dem Himmel zu schießen. Außerdem befinden wir uns in einem Wohngebiet. Du solltest es besser wissen.”
Boyden ließ kleinlaut den Kopf hängen.
“Sorry, Sir”, sagte er.
Alford wandte sich an Riley.
“Dronen, was zum …!” sagte er. “Ich kann Ihnen sagen, ich hasse das einundzwanzigste Jahrhundert. Agentin Paige, bitte sagen Sie mir, dass wir die Leiche jetzt von dem Mast holen können.”
“Haben Sie noch mehr Fotos als die, die sie mir geschickt haben?” fragte Riley.
“Sehr viel mehr, von jedem kleinen Detail”, bestätigte Alford. “Sie können sie sich in meinem Büro ansehen.”
Riley nickte. “Ich habe alles gesehen, was ich sehen musste. Und sie haben wirklich gute Arbeit dabei geleistet den Tatort zu kontrollieren. Holen Sie sie runter.”
Alford sagte zu Boyden, “Ruf den Gerichtsmediziner. Sag ihm er kann aufhören Däumchen zu drehen.”
“Verstanden, Chief”, sagte Boyden und nahm sein Handy raus.
“Kommen Sie”, sagte Alford zu Riley und Lucy. Er führte sie zu seinem Streifenwagen. Sobald sie losgefahren waren, winkte ein Polizist sie durch die Barrikade auf die Hauptstraße.
Riley merkte sich die Strecke. Der Mörder musste die gleiche Strecke gefahren sein wie Boyden und Alford. Es gab keinen anderen Weg zu dem Bereich zwischen Lagerhaus und Bahngleisen. Es war gut möglich, dass jemand den Wagen des Mörders gesehen hatte, auch wenn ihnen vielleicht nichts Ungewöhnliches aufgefallen war.
Das Polizeirevier von Reedsport war nicht mehr als eine Ziegelsteinfassade an der Hauptstraße. Alford, Riley, und Lucy gingen hinein und setzten sich in das Büro des Polizeichefs.
Alford legte einen Stapel Akten auf seinen Schreibtisch.
“Hier ist alles, was wir haben”, sagte er. “Die komplette Akte von dem alten Fall von vor fünf Jahren und alles was wir bisher zu dem Mord von gestern haben.”
Riley und Lucy nahmen jeweils einen Ordner und fingen an sie durchzublättern. Rileys Aufmerksamkeit wurde auf die Fotos des ersten Falles gezogen.
Die beiden Frauen waren sich im Alter sehr ähnlich. Die Erste arbeitete im Gefängnis, was sie bis zu einem gewissen Grad dem Risiko eines Gewaltverbrechens aussetzte. Aber die Zweite würde als ein Opfer mit geringer Wahrscheinlichkeit eingestuft werden. Und es gab keine Anzeichen dafür, dass eine von ihnen Bars oder andere Orte aufgesucht hatten, die man als risikoreich bezeichnen würde. In beiden Fällen wurden die Frauen als freundlich, hilfsbereit und normal beschrieben. Und trotzdem gab es eine Gemeinsamkeit, die den Mörder zu genau diesen Frauen gezogen hatte.
“Haben Sie ihm Fall von Marla Blaineys Mord Fortschritte gemacht?” fragte Riley Alford.
“Das war unter der Zuständigkeit der Eubanks Einheit. Captain Lawson. Aber ich habe mit ihm daran gearbeitet. Wir haben nichts Brauchbares gefunden. Die Ketten waren gewöhnlich. Der Mörder könnte sie in jedem Baumarkt gekauft haben.”
Lucy lehnte sich zu Riley und schaute sich die gleichen Fotos an.
“Aber er hat trotzdem eine Menge davon gekauft”, sagte Lucy. “Man sollte meinen, dass ein Mitarbeiter bemerken würde, wenn jemand so viele Ketten kauft.”
Alford nickte zustimmend.
“Ja, das haben wir uns damals auch gedacht. Aber wir haben jeden Baumarkt in der Gegend abgeklappert. Keiner der Mitarbeiter konnte sich an ungewöhnliche Verkäufe erinnern. Er muss sie nach und nach gekauft haben, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Als er den Mord verübt hat, muss er bereits genug von ihnen vorrätig gehabt haben. Vielleicht hat er das immer noch.”
Riley sah sich die Zwangsjacke genauer an, die die Frau trug. Sie schien mit der Zwangsjacke des neuesten Opfers identisch zu sein.
“Was ist mit den Zwangsjacken?” fragte Riley.
Alford zuckte mit den Achseln. “Man sollte meinen, dass die einfacher nachzuverfolgen sein sollten. Aber wir haben nichts gefunden. Das sind die Standardjacken, die in psychiatrischen Anstalten genutzt werden. Wir haben uns alle Anstalten im Staat angesehen, eine ganz in der Nähe eingeschlossen. Niemand hat Zwangsjacken als gestohlen gemeldet.”
Schweigen senkte sich über den Raum, während sie sich Berichte und Fotos ansahen. Die Leichen waren in einem Radius von sechzehn Kilometern gefunden worden. Das ließ vermuten, dass der Mörder in der Nähe lebte. Aber die Leiche der ersten Frau, war einfach am Flussufer abgeladen worden. In den fünf Jahren zwischen den Morden hatte sich etwas in der Einstellung des Mörders geändert.
“Also, was halten Sie von dem Typen?” fragte Alford. “Warum die Zwangsjacken und die Ketten? Erscheint Ihnen das nicht exzessiv?”
Riley dachte einen Moment nach.
“Er sieht das nicht so”, sagte sie. “Es geht um Macht. Er will die Opfer nicht nur physisch, sondern auch symbolisch einschließen. Es geht weit über ein praktisches Maß hinaus. Es geht darum den Opfern ihre Macht zu nehmen. Dem Mörder ist dieser Punkt besonders wichtig.”
“Aber warum Frauen?” fragte Lucy. “Wenn er seine Opfer entmachten will, wären Männer dann nicht dramatischer?”
“Das ist eine gute Frage”, erwiderte Riley. Sie dachte an den Tatort – wie sorgfältig die Leiche ausbalanciert gewesen war.
“Aber denken sie daran, dass er nicht sehr stark ist”, sagte Riley. “Es könnte auch einfach die Wahl eines einfachen Ziels gewesen sein. Frauen mittleren Alters wie diese Frauen würden sich weniger wehren. Aber in seinem Kopf standen sie vermutlich auch für etwas. Sie waren nicht als Individuen ausgesucht worden, sondern als Frauen – und für was auch immer diese Frauen für ihn bedeuteten.
Alford schnaubte abfällig.
“Sie wollen mir also sagen, dass es nichts Persönliches war”, sagte er. “Es ist nicht so, als hätten die Frauen etwas getan, um gefangen und getötet zu werden. Es ist nicht einmal so, als hätte der Mörder gedacht sie würden das verdienen.”
“Das ist häufig der Fall”, sagte Riley. “In meinem letzten Fall hat der Mörder Frauen getötet, die eine bestimmte Puppe gekauft haben. Ihm war egal, wer sie waren. Nur zu sehen wie sie die Puppe kaufen, war ihm wichtig.”
Alford schien einen Moment darüber nachzudenken. Dann sah er auf seine Uhr.
“Ich habe eine Pressekonferenz in einer halben Stunde”, sagte er “Gibt es etwas, das wir davor besprechen sollten?”
Riley sagte, “Nun, je schneller Agentin Vargas und ich die Familie der Opfer befragen können, desto besser. Noch heute Abend, wenn möglich.”
Alford zog besorgt die Augenbrauen zusammen.
“Ich denke nicht”, sagte er. “Ihr Mann ist jung gestorben, vor etwa fünfzehn Jahren. Sie hat nur ein paar erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter, beide mit eigenen Familien. Sie leben hier in der Stadt. Meine Leute haben sie den ganzen Tag befragt. Sie sind recht mitgenommen und durcheinander. Ich würde ihnen gerne zumindest bis Morgen Zeit geben, bevor sie das noch einmal durchmachen.”
Riley sah, dass Lucy kurz davor war zu widersprechen, aber stoppte sie mit einer stillen Geste. Es war gut, dass Lucy die Familie sofort befragen wollte. Aber Riley wusste auch, dass es besser war sich nicht mit der örtlichen Polizei anzulegen, vor allem, wenn sie einen so guten Job machten, wie Alford und sein Team.
“Ich verstehe”, sagte Riley. “Wir verlegen es auf Morgen früh. Was ist mit der Familie des ersten Opfers?”
“Ich denke, dass noch Verwandte von ihr in Eubanks sind”, sagte Alford. “Ich werde das gleich mal überprüfen. Lassen Sie uns nur nichts überstürzen. Schließlich hat der Mörder es auch nicht eilig. Sein letzter Mord war vor fünf Jahren, also gehe ich nicht davon aus, dass er es so schnell noch einmal plant. Wir sollten uns Zeit nehmen, um es richtig zu machen.”
Alford stand auf.
“Ich sollte mich wohl besser für die Pressekonferenz vorbereiten”, sagte er. “Wollen Sie daran teilnehmen? Haben Sie eine Erklärung abzugeben?”
Riley dachte darüber nach.
“Nein, ich denke nicht”, sagte sie. “Es ist besser, wenn das FBI vorerst nicht auffällt. Wir wollen nicht, dass der Mörder denkt er würde zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Es ist wahrscheinlicher, dass er sich zeigt, wenn er glaubt, dass er nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Es ist besser, wenn Sie fürs Erste das Gesicht sind, das die Leute sehen.”
“Okay, dann wollen Sie sich vielleicht erst einmal einrichten”, sagte Alford. “Ich habe Räume für Sie in einem örtlichen B&B reserviert. Vorne steht auch ein Wagen, den Sie nutzen können.”
Er schob ihnen die Reservierungsbestätigung und einen Autoschlüssel über den Schreibtisch zu. Riley und Lucy verließen das Revier.
Später am Abend saß Riley in einem Erkerfenster, das die Hauptstraße von Reedsport überblickte. Es dämmerte und die Straßenlaternen gingen an. Die Nachtluft war angenehm warm und alles war ruhig, da kein Reporter zu sehen war.
Alford hatte zwei hübsche Zimmer in dem B&B für Riley und Lucy reserviert. Die Frau, der das B&B gehörte, hatte ein fantastisches Abendessen serviert. Dann hatten Riley und Lucy etwa eine Stunde im Aufenthaltsraum verbracht, um den nächsten Tag zu planen.
Reedsport war eine malerische kleine Stadt. Unter anderen Umständen wäre es ein schöner Urlaubsort gewesen. Aber nachdem die Gespräche über den aktuellen Mord für den Tag hinter ihr lagen, wanderten ihre Gedanken zu persönlicheren Problemen.
Sie hatte den ganzen Tag nicht an Peterson gedacht. Er war da draußen, und sie wusste es, aber niemand glaubte ihr. War es die richtige Entscheidung gewesen die Dinge so hinter sich zu lassen? Hätte sie härter versuchen sollen jemanden zu überzeugen?
Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken an die beiden Mörder zu denken – Peterson und wer auch immer diese beiden Frauen getötet hatte – und wie sie gerade unbeeinflusst ihr Leben lebten. Wie viele waren noch da draußen? Warum wurde unsere Kultur von diesen verdrehten Menschen geplagt?
Was machten sie gerade? Waren sie gerade dabei etwas zu planen oder verbrachten sogar gemütlich ihre Zeit mit Freunden und Familie – unschuldigen Menschen, die keine Ahnung von ihren bösen Gedanken hatten?
Riley hatte keine Ahnung. Aber es war ihr Job es herauszufinden.
Sie dachte außerdem beunruhigt an April. Es fühlte sich nicht richtig an, sie bei ihrem Vater zu lassen. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Auch wenn sie diesen Fall nicht angenommen hätte, wäre bald ein anderer auf ihrem Schreibtisch gelandet. Sie hatte einfach zu viel zu tun, um sich mit einem rebellierenden Teenager auseinander zu setzen. Sie war nicht genug zu Hause.
Aus einem Impuls heraus, nahm Riley ihr Handy und schickte ihr eine Nachricht.
Hey April. Wie geht's dir?
Nach ein paar Sekunden kam die Antwort.
Mir geht's gut Mom. Wie geht's dir? Hast du es schon gelöst?
Es dauerte einen Moment, bis Riley verstand, dass April den neuen Fall meinte.
Noch nicht, tippte sie.
April antwortete, Das schaffst du bestimmt bald.
Riley lächelte bei dieser Vertrauensbeurkundung.
Sie tippte, Willst du reden? Ich könnte dich anrufen.
Sie wartete einige Minuten auf Aprils Antwort.
Nicht jetzt. Mir geht's gut.
Riley wusste nicht, was das genau bedeutete. Ihr wurde das Herz schwer.
OK, tippte sie. Gute Nacht. Hab dich lieb.
Sie beendete die Unterhaltung und starrte in die Nacht. Sie lächelte wehmütig, als sie über Aprils Frage nachdachte.
“Hast du es schon gelöst?”
“Es” konnte in Rileys Leben alles Mögliche bedeuten. Und sie hatte das Gefühl, dass sie weit, weit davon entfernt war etwas davon zu lösen.
Riley starrte weiter in die Nacht. Sie stellte sich vor, wie der Mörder über die Hauptstraße direkt zu den Bahngleisen fuhr. Das war eine dreiste Entscheidung gewesen. Aber nicht annähernd so dreist wie sich die Zeit zu nehmen die Leiche von einem Strommast zu hängen, wo sie im Licht des Lagerhauses sichtbar war.
Dieser Teil seiner MO hatte sich in den letzten fünf Jahren drastisch geändert, von einem nachlässigen Abladen der Leiche neben einem Fluss, zu einer Ausstellung, die jeder sehen konnte. Er kam Riley nicht sonderlich organisiert vor, aber er schien deutlich besessener zu werden. Etwas musste sich in seinem Leben geändert haben. Aber was?
Riley wusste, dass diese Art von Kühnheit oft ein größer werdendes Verlangen nach Bekanntheit und Ruhm repräsentierte. Das war auch bei dem letzten Mörder so gewesen, den sie gejagt hatte. Aber für diesen Fall schien es nicht zu stimmen. Etwas sagte Riley, dass der Mörder nicht nur klein und eher schwach war, sondern dass er auch zurückhaltend, fast bescheiden war.
Er mochte es nicht zu töten, dessen war Riley sich sicher. Und es war auch nicht Bekanntheit, die ihn zu dieser Kühnheit antrieb. Es war pure Verzweiflung. Vielleicht sogar Reue, ein halb-unterbewusstes Verlangen geschnappt zu werden.
Riley wusste aus persönlicher Erfahrung, dass Mörder nie gefährlicher waren, als wenn sie anfingen sich gegen sich selbst zu richten.
Riley dachte an etwas, das Alford gesagt hatte.
“Der Mörder hat es schließlich auch nicht eilig.”
Riley war sich sicher, dass der Polizeichef damit falsch lag.
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