Riley blickte auf die Uhr in ihrem Wagen, während sie die Kinder in die bessere Nachbarschaft von Fredericksburg fuhr. Die Zeit lief ihr davon. Merediths Worte kamen ihr in den Sinn.
Wenn Sie zu spät kommen, gibt es Ärger.
Vielleicht – nur vielleicht – würde sie es rechtzeitig zum Flugplatz schaffen. Sie hatte eigentlich nur vorgehabt zu Hause vorbeizufahren, um ihren Koffer zu holen und jetzt war alles so viel komplizierter. Sie fragte sich, ob sie Meredith anrufen und drüber informieren sollte, dass familiäre Probleme sie aufhielten. Nein, entschied sie; ihr Boss war so schon nicht begeistert von dem neuen Fall. Sie konnte nicht erwarten, dass er nachgiebig sein würde.
Glücklicherweise lag Brians Haus auf dem Weg zu Ryan. Als Riley vor dem großen Vorgarten hielt, sagte sie, “Ich sollte mitgehen und deine Eltern darüber informieren, was passiert ist.”
“Sind nicht zu Hause”, sagte Brian mit einem Schulterzucken. “Dad ist verschwunden und Mom ist auch nicht oft da.”
Er stieg aus dem Auto, drehte sich noch einmal um und sagte, “Danke fürs Mitnehmen.” Als er langsam zur Haustür ging, fragte Riley sich, welche Eltern ihr Kind so alleine lassen würden. Wussten sie nicht, in welche Schwierigkeiten sich Teenager bringen konnten?
Aber vielleicht hat seine Mutter keine Wahl, dachte Riley unglücklich. Wie kann ich sie verurteilen?
Sobald Brian im Haus war, fuhr Riley weiter. April hatte bisher kein Wort gesagt und schien auch jetzt nicht in der Stimmung dazu zu sein. Riley konnte nicht sagen, ob es ein beleidigtes oder ein beschämtes Schweigen war. Ihr wurde klar, dass sie einiges nicht über ihre Tochter zu wissen schien.
Riley war wütend auf sich selbst und April. Erst gestern waren sie so viel besser miteinander klar gekommen. Sie hatte gedacht, dass April anfing den Druck zu verstehen, der auf FBI Agenten lastete. Aber dann hatte Riley darauf bestanden, dass April zu ihrem Vater ging und heute rebellierte April dagegen.
Riley ermahnte sich selbst, dass sie deutlich mehr Mitgefühl zeigen sollte. Sie war selber auch immer ein Rebell gewesen. Und Riley wusste, wie es war eine Mutter zu verlieren und einen distanzierten Vater zu haben. April musste Angst haben, dass ihr das gleiche passieren würde.
Sie hat Angst um meine Sicherheit, wurde Riley klar. In den letzten Monaten hatte April gesehen, wie ihre Mutter sowohl physische, als auch emotionale Verletzungen erlitten hatte. Aber nach dem Einbruch letzte Nacht, musste April krank vor Sorge sein. Riley ermahnte sich, dass sie den Gefühlen ihrer Tochter gegenüber aufmerksamer sein sollte. Jedem, egal in welchem Alter, würde es schwer fallen mit den Komplikationen in Rileys Leben umzugehen.
Riley hielt vor dem Haus, das sie einst mit Ryan geteilt hatte. Es war ein großes, schönes Haus mit einer Überdachung an der Seitentür, oder einer porte-cochère, wie Ryan es nannte. Mittlerweile zog Riley es vor am Bordstein zu parken, anstatt auf die Auffahrt zu fahren.
Sie hatte sich hier nie zu Hause gefühlt. Irgendwie hatte es nie zu ihr gepasst in einer respektablen Vorort-Nachbarschaft zu wohnen. Ihre Ehe, das Haus, die Nachbarschaft, all das hatte die vielen Erwartungen widergespiegelt, die Riley nie zu erfüllen schien.
Über die Jahre war es für Riley deutlich geworden, dass sie in ihrer Arbeit besser war, als sie es jemals in einem normalen Leben sein würde. Schließlich hatte sie die Ehe, das Haus und die Nachbarschaft verlassen, was sie nur darin bestärkt hatte, zumindest die Erwartungen in sie als Mutter einer Tochter im Teenager Alter zu erfüllen.
Als April die Tür öffnen wollte, sagte Riley, “Warte.”
April drehte sich zu ihr und sah sie erwartungsvoll an.
Ohne darüber nachzudenken, sagte Riley, “Es ist okay. Ich verstehe dich.”
April starrte sie überrascht an. Für einen Moment sah es aus, als würde sie anfangen zu weinen. Riley war fast genauso überrascht wie ihre Tochter. Sie wusste nicht, was über sie gekommen war. Sie wusste nur, dass jetzt nicht die Zeit für Standpauken war, selbst wenn sie tatsächlich Zeit dafür gehabt hätte. Sie fühlte, dass sie genau das Richtige gesagt hatte.
Riley und April stiegen aus und gingen zusammen zur Tür. Sie wusste nicht, ob sie hoffen sollte, dass Ryan zu Hause war oder nicht. Sie wollte keinen Streit mit ihm anfangen und sie hatte bereits entschieden ihm nichts von dem Marihuana Vorfall zu erzählen. Sie wusste, sie sollte es ihm sagen, aber sie hatte einfach keine Zeit sich mit ihm auseinanderzusetzen. Trotzdem sollte sie ihm erklären, dass sie für einige Tage weg sein würde.
Gabriela, die untersetzte, guatemalische Haushälterin, begrüßte Riley und April an der Haustür. Gabrielas Augen waren groß vor Sorge.
“Hija, wo warst du?” fragte sie in ihrem starken Akzent.
“Es tut mir leid, Gabriela”, sagte April kleinlaut.
Gabriela betrachtete Aprils Gesicht aufmerksam. Ihr Gesichtsausdruck sagte Riley, dass sie von Aprils Marihuana Konsum wusste.
“Tonta!” sagte Gabriela scharf.
“Lo siento mucho”, sagte April, die aufrichtig reumütig klang.
“Vente conmigo”, sagte Gabriela. Während sie April wegführte, drehte sie sich um und warf Riley einen bitteren Blick der Missbilligung zu.
Riley schrank unter ihrem Blick zusammen. Gabriela war eine der wenigen Personen, die sie wirklich einschüchtern konnten. Die Frau konnte außerdem fantastisch mit April umgehen, und momentan schien sie ein besserer Elternteil für sie zu sein als Riley.
Riley rief Gabriela hinterher, “Ist Ryan da?”
“Sí”, erwiderte Gabriela kurz angebunden. Dann rief sie ins Haus. “Señor Paige, Ihre Tochter ist zurück.”
Ryan erschien im Flur, angezogen und bereit zu gehen. Er sah Riley überrascht an.
“Was machst du hier?” fragte er. “Wo war April?”
“Bei mir zu Hause.”
“Was? Nachdem was gestern passiert ist, hast du sie mit nach Hause genommen?”
Riley biss frustriert die Zähne aufeinander.
“Ich habe sie nirgendwo hingebracht”, sagte sie. “Frag sie, wenn du wissen willst, wie sie dort hingekommen ist. Ich kann nichts dafür, wenn sie nicht mit dir leben will. Du bist der Einzige, der das ändern kann.”
“Das ist alles deine Schuld, Riley. Dank dir ist sie vollkommen außer Kontrolle.”
Für einen Moment war Riley fuchsteufelswild. Aber ihre Wut wurde sofort von dem schleichenden Gefühl ersetzt, dass er möglicherweise Recht hatte. Es war nicht fair, aber er wusste, wie er sie manipulieren konnte.
Riley atmete tief durch und sagte, “Hör zu, ich muss für ein paar Tage aus der Stadt. Ich habe einen Fall in New York. April muss hier bleiben, und sie darf nicht wieder abhauen. Bitte erkläre Gabriela die Situation.”
“Du kannst die Situation Gabriela erklären”, schnappte Ryan. “Ich muss einen Klienten treffen. Sofort.”
“Und ich muss ein Flugzeug erwischen. Sofort.”
Sie starrten sich einen Moment schweigend an. Ihr Argument hatte mal wieder sein Schachmatt errreicht. Als sie ihm in die Augen sah, erinnerte sie sich selbst daran, dass sie ihn einmal geliebt hatte. Und er schien sie ebenso geliebt zu haben. Damals waren sie beide jung und arm gewesen, es war bevor er ein erfolgreicher Anwalt und sie eine FBI Agentin geworden war.
Sie konnte nicht verleugnen, dass er immer noch ein gut aussehender Mann war. Er verbrachte viele Stunden im Fitnessstudio und machte sich große Mühe, um so auszusehen. Riley wusste, dass er viele Frauen in seinem Leben hatte. Das war ein Teil des Problems – er genoss sein Leben als Single zu sehr, um sich Gedanken darüber zu machen ein guter Vater zu sein.
Nicht, als wäre ich viel besser, dachte sie.
Dann sagte Ryan, “Es geht immer um deinen Job.”
Riley musste eine wütende Antwort schlucken. Sie hatten sich mehr als einmal deswegen gestritten. Ihr Job war gleichzeitig zu gefährlich und zu unwichtig. Sein Job war alles was zählte, weil er sehr viel mehr verdiente und weil er behaupten konnte einen wahren Unterschied in der Welt zu machen. Als wenn Klagen für reiche Klienten durchzufechten wichtiger war als Rileys nie endender Kampf gegen das Böse.
Aber sie konnte sich jetzt nicht in den alten Streit verwickeln lassen. Keiner von ihnen gewann etwas dabei.
“Wir reden, wenn ich zurück bin”, sagte sie.
Sie drehte sich um und verließ das Haus. Sie hörte, wie Ryan die Tür hinter ihr zuschlug.
Riley stieg in ihr Auto und fuhr davon. Sie hatte weniger als eine Stunde, um zurück nach Quantico zu kommen. Ihr Kopf drehte sich. Zu viel passierte zu schnell. Sie hatte gerade erst einen neuen Fall angenommen. Jetzt fragte sie sich, ob sie das richtige getan hatte. Es war nicht nur, dass April Probleme hatte damit umzugehen, sie war sich auch sicher, dass Peterson wieder in ihrem Leben war.
Aber auf eine Weise machte es Sinn. Solange April bei ihrem Vater blieb, würde sie vor Peterson sicher sein. Und Peterson würde während Rileys Abwesenheit keine neuen Opfer entführen. So sehr sie auch von ihm verwirrt wurde, war Riley sich in einer Sache sicher. Sie alleine war das Ziel seiner Rache. Sie, und niemand sonst, war sein nächstes Opfer. Und es würde sich gut anfühlen eine Weile von ihm weg zu sein.
Sie erinnerte sich auch an eine harte Lektion, die sie während ihres letzten Falles gelernt hatte – nicht zu versuchen alles Böse der Welt auf einmal anzugehen. Es war ein einfaches Motto: Ein Monster nach dem anderen.
Und gerade jetzt würde sie einem besonders brutalen Monster hinterherjagen. Ein Mann, von dem sie wusste, dass er bald wieder zuschlagen würde.
Der Mann fing an die langen Ketten auf seiner Werkbank im Keller auszubreiten. Draußen war es dunkel, aber die Glieder aus rostfreiem Stahl leuchteten unter dem Schein der nackten Glühbirne.
Er zog eine der Ketten zu ihrer vollen Länge aus. Das rasselnde Geräusch weckte schreckliche Erinnerungen daran gefesselt zu sein, eingesperrt und mit Ketten wie diesen gequält zu werden. Aber wie er sich immer wiederselber sagte: Ich muss mich meinen Ängsten stellen.
Und um das zu tun, musste er beweisen, dass er die Ketten beherrschte. In der Vergangenheit hatten die Ketten zu oft über ihn geherrscht.
Es war eine Schande, dass deshalb andere leiden mussten. Für fünf Jahre hatte er geglaubt, dass er das alles hinter sich gelassen hatte. Es hatte so geholfen, als die Kirche ihn als Nachtwächter angestellt hatte. Er mochte seinen Job und war stolz auf die Autorität, die er brachte. Er fühlte sich stark und nützlich.
Aber im letzten Monat, war ihm dieser Job genommen worden. Sie brauchten jemanden mit besseren Referenzen, hatten sie gesagt, jemanden der größer und stärker war. Sie hatten versprochen ihm die Gärtnerposition zu geben. Er würde immer noch genug Geld verdienen, um die Miete für sein kleines Haus zu zahlen.
Trotzdem hatte der Verlust seiner Arbeit, der Verlust der Autorität, die sie ihm gab, ihn hilflos fühlen lassen. Das Verlangen hatte sie wieder gemeldet – die Verzweiflung nicht hilflos zu sein, das dringende Bedürfnis die Ketten zu beherrschen, damit sie ihn nicht wieder einnehmen konnten. Er versuchte seinem Drängen nicht nachzugeben, als wenn er seine innere Dunkelheit hier im Keller lassen könnte. Das letzte Mal, war er bis nach Reedsport gefahren, in der Hoffnung ihm zu entkommen. Aber er schaffte es nicht.
Er wusste nicht, wie er es nicht konnte. Er war ein guter Mann, mit einem guten Herzen und er mochte es anderen Gefallen zu tun. Aber früher oder später würde sich diese Freundlichkeit gegen ihn richten. Als er der Frau in Reedsport geholfen hatte, der Krankenschwester, ihre Einkäufe zum Auto zu bringen, hatte sie gelächelt und gesagt, “So ein guter Junge!”
Er zuckte bei der Erinnerung an dieses Lächeln und ihre Worte zusammen.
“So ein guter Junge!”
Seine Mutter hatte gelächelt und solche Dinge gesagt, selbst wenn sie seine Kette zu kurz gehalten hatte, um nach draußen zu sehen, oder Essen erreichen zu können. Und die Nonnen hatten auch gelächelt und so etwas gesagt, wenn sie durch die kleine viereckige Öffnung in sein kleines Gefängnis geschaut hatten.
“So ein guter Junge!”
Nicht jeder war grausam, das wusste er. Die meisten Leute meinten es gut, vor allem in dieser kleinen Stadt, in der er sich niedergelassen hatte. Sie mochten ihn sogar. Aber warum sah ihn jeder als Kind – vor allem ein behindertes Kind? Er war siebenundzwanzig Jahre alt und er wusste, dass er außergewöhnlich klug war. Sein Verstand war voller brillanter Gedanken und er traf selten auf Probleme, die er nicht lösen konnte.
Aber natürlich wusste er, warum die Leute ihn so sahen. Es lag daran, dass er kaum sprechen konnte. Sein ganzes Leben lang hatte er hilflos gestammelt und er versuchte meist gar nicht zu reden, auch wenn er alles verstand, was andere Leute sagten.
Und er war klein, und schwach, und seine Gesichtszüge waren weich und kindlich, wie die von jemandem, der mit einem Defekt geboren worden war. In diesem leicht verformten Schädel steckte ein bemerkenswerter Verstand, in seinem Verlangen behindert brillante Dinge für die Welt zu tun. Aber niemand wusste das. Niemand. Nicht einmal die Ärzte in der Psychiatrie hatten es gewusst.
Es war ironisch.
Leute dachten, dass er Worte wie ironisch nicht kannte. Aber das tat er.
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