Zwanzig angespannte Minuten später hielt Keri vor dem Haus der Raineys an. Wieder stand der Transporter der Spurensicherung bereits dort. Sie klopfte und Ray öffnete die Tür. Sie sah ihm an, dass die Situation mehr als düster war. Hinter ihm konnte sie die Raineys auf dem Sofa sitzen sehen. Carolyn weinte, ihr Gatte war völlig erstarrt.
„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte Ray aufrichtig. „Ich bin vor fünf Minuten eingetroffen. Sie stehen kurz vor einem Nervenzusammenbruch.“
„Haben die Erpresser einen Zeitpunkt genannt?“, fragte Keri leise, als sie eingetreten war.
„Ja, die Übergabe soll heute um Mitternacht stattfinden. Sie wollen einhunderttausend.“
„Wow.“
„Aber das ist nicht das Schlimmste daran“, sagte Ray. „Du musst dir den Brief ansehen. Er ist irgendwie… komisch.“
Keri betrat das Wohnzimmer. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung untersuchte gerade einen Umschlag von einem Express-Kurier auf Fingerabdrücke. Sie drehte sich um und blickte zu Ray, der ihr kurz zunickte.
„Verrückt, oder?“, flüsterte er. „Ich habe noch nie gehört, dass eine Lösegeldforderung per Federal Express verschickt wurde. Ich habe die Sendenummer bereits an Edgerton weitergegeben. Er sagt, dass der Umschlag heute Mittag um 1:58 Uhr in El Segundo aufgegeben wurde.“
„Aber um die Uhrzeit wurde Jessica noch gar nicht vermisst“, stellte Keri fest.
„Richtig. Der Kidnapper muss es losgeschickt haben bevor er sie entführt hat – ziemlich dreist. Suarez ist schon unterwegs nach El Segundo, um die Aufnahmen der Überwachungskameras auszuwerten.“
„Sehr gut“, sagte Keri, bevor sie zu den Raineys ging. Sie wusste jetzt, dass sie von den besten Männern bei der Ermittlung unterstützt wurde. Detective Kevin Edgerton war ein absoluter Experte auf seinem Gebiet und Detective Manny Suarez war ein sehr hartnäckiger und erfahrener Ermittler. Den beiden würde bestimmt nichts entgehen.
„Hallo“, sagte Keri sanft und sofort blickten die Raineys auf. Carolyns Augen waren rot und geschwollen, aber es liefen keine Tränen mehr. Tim war so bleich wie ein Gespenst, er sah verzweifelt aus.
„Hallo Detective“, flüsterte Carolyn.
„Darf ich einen Blick auf den Brief werfen?“, fragte sie und ließ ihren Blick über das Stück Papier gleiten, das vor ihr auf dem Couchtisch lag. Man hatte es bereits als Beweisstück in einer durchsichtigen Folie gesichert.
Sie nickte stumm. Keri ging näher heran, um sich das Blatt genauer ansehen zu können. Auch ohne den Brief zu lesen, war klar, dass er nicht von einem Computer ausgedruckt worden war. Der Brief hatte Standardgröße und war getippt. Das machte Keri sofort aufmerksam.
Jeder Drucker hinterließ identifizierbare Spuren, ein Muster von Punkten, die einem ungeübten Auge nicht auffielen. Diese Punkte waren wie ein Code, anhand dessen man Marke, Modell und sogar Seriennummer des verwendeten Druckers bestimmen konnte. Wenn die Person, die diesen Brief geschrieben hatte, schlau genug war, ihn nicht selbst auszudrucken, dann handelte es sich vermutlich nicht um einen Amateur.
Der Brief selbst war ebenso beunruhigen:
Das Kind ist besessen von einem dunklen Geist. Dieser Geist muss ausgetrieben werden, damit das Kind gesund werden kann. So traurig es ist, es muss geschehen. Die Saat des Schöpfers verlangt es. Ich kann dieses Kind mit dem heiligen Messer, dem sakralen Werkzeug des Herrn, von diesem Geist befreien. Die Dämonen müssen mitsamt ihren Wurzeln aus dem Kind geschnitten werden.
Wenn du mir versicherst, dass du dich vorschriftsgemäß um die Bereinigung kümmern wirst, werde ich das Kind für die Prozedur zurückgeben. Für dieses Opfer muss ich jedoch entschädigt werden. Ich fordere 100 000 $ in kleinen, unmarkierten Scheinen. Schalte nicht die sogenannten Gesetzeshüter ein, dieses erbärmlichste Pack der Welt. Werden die Regeln gebrochen, gebe ich das Kind der Erde zurück. Der Herr wird ihre sterblichen Überreste im verdorbenen Unkraut der Stadt vergraben. Ich habe Beweise für meine Feststellungen gegeben.
Mitternacht. Nur der Vater. Denn nur Väter können die Welt von Verdorbenheit befreien.
Chace Park. Die Brücke am Wasser.
100 000 $. Mitternacht. Alleine.
Das Fleisch deines Fleisches hängt von deiner Demut ab.
Keri sah Ray an. Der Brief hinterließ so viele offenen Fragen, dass sich Keri auf die Wichtigste konzentrierte.
„Was meint er mit Beweise gegeben?“, fragte sie.
„In dem Umschlag befand sich eine Folie mit Haarsträhnen“, sagte er. „Wir haben sie für einen DNA-Test ins Labor geschickt.“
„Okay, in diesem Brief gibt es eine Menge zu analysieren“, sagte Keri und wandte sich den Raineys zu. „Lassen wir die psychologischen Faktoren vorerst außen vor. Zuerst wollte ich Ihnen sagen, dass es gut war, dass Sie uns sofort Bescheid gesagt haben. Meistens gehen Entführungen, bei denen die Polizei nicht eingeschaltet wird, um einiges schlechter aus.“
„Ich wollte es nicht, aber Carrie hat darauf bestanden, Sie anzurufen“, gab Tim zu Rainey.
„Nun, das ist jedenfalls gut so“, wiederholte Keri und wandte sich dann an Ray. „Habt ihr schon über das Geld geredet?“
„Das wollten wir gerade tun, als du eingetroffen bist“, sagte Ray. Dann sah er die Raineys an. „Es wäre wahrscheinlich gut, wenn Sie das Geld bereithalten, auch wir alles versuchen, damit es nicht zur Übergabe kommt. Dann haben wir aber die Option. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie die Summe beschaffen könnten?“
„Wir haben das Geld“, sagte Tim Rainey, „nur nicht in bar. Ich habe bereits mit der Bank geredet. Sie sagen, dass solche Transaktionen außerhalb der Betriebszeit nicht einfach sind und dass es so kurzfristig unmöglich ist.“
„Ich habe mit unseren Investment-Verwaltern gesprochen. Sie haben mir genau die gleiche Antwort gegeben“, fügte Carolyn Rainey hinzu. „Morgen früh könnten wir die Summe auf dem Konto haben, aber nicht in bar und nicht bis Mitternacht.“
Keri sah zu Ray.
„Seltsam, dass er den Brief so spät geschickt hat“, sagte sie. „Er muss doch gewusst haben, dass es kaum möglich ist, das Geld so schnell zu bekommen. Warum hat er es so schwierig gemacht?“
„Er macht nicht gerade den Eindruck, als würde er rational handeln“, bemerkte Ray. „Vielleicht hat er wirklich keine Ahnung davon, wie viel Zeit man etwa benötigt, um eine solche Summe zu besorgen.“
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, unterbrach Tim Rainey plötzlich.
„Und die wäre?“, fragte Ray.
„Ich arbeite für Venergy, eine neue Gaming Company in Playa Vista. Ich arbeite direkt für den Firmengründer Gary Rosterman. Er ist wahnsinnig reich. Und er mag mich. Außerdem ist Jessica letztes Jahr mit seiner Tochter zusammen auf die Montessori-Schule gegangen. Sie sind immer noch befreundet. Ich bin sicher, dass er das Geld auftreiben kann. Vielleicht würde er es uns auslegen.“
„Rufen Sie ihn an, aber machen Sie ihm klar, wie wichtig Diskretion ist“, sagte Ray.
Rainey nickte wild. Sein düsterer Blick hellte sich sofort auf. Er schien wieder Hoffnung zu haben. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass er jetzt eine Aufgabe hatte.
Als er die Nummer wählte, zogen Keri und Ray sich ein paar Schritte zurück. Als sie außer Hörweite waren, flüsterte Ray: „Wir sollten den Brief aufs Revier bringen. Wir brauchen Hilfe, vielleicht von dem Polizeipsychologen. Vielleicht gab es auch ähnliche Fälle in letzter Zeit.“
„Du hast recht. Ich würde den Brief auch gerne in die Datenbank eingeben und sehen, ob wir dort irgendwelche formalen Ähnlichkeiten finden. Man kann nie wissen“, sagte Keri. „Ray, ich habe wirklich kein gutes Gefühl bei dieser Geschichte.“
„Schlechter als sonst? Warum?“
Keri erklärte Ray, warum sie es für kein gutes Zeichen hielt, dass der Brief mit einer Schreibmaschine geschrieben wurde. Ray hatte bereits den gleichen Gedanken gehabt.
„Entweder ist dieser Typ völlig verrückt, oder er ist ein absoluter Profi“, sagte er.
Tim Rainey beendete das Telefonat und sah die beiden Detectives an.
„Gary wird uns helfen“, sagte er. „Er sagt, dass er das Geld in drei Stunden bereit hat.“
„Sehr gut. Wir schicken jemanden zu ihm, sobald er bereit ist. Das ist sicherer, als wenn Sie es selbst abholen.“
„Jetzt müssen wir noch einmal aufs Revier“, erklärte Keri dann. Als sie die Furcht in den Augen der Eltern sah, fügte sie schnell hinzu: „Wir werden vorsichtshalber zwei Beamte bei Ihnen stationieren. Sie können uns jederzeit erreichen.“
„Warum können Sie nicht hier bleiben?“, fragte Carolyn Rainey.
„Wir wollen die Lösegeldforderung mit unserer Datenbank abgleichen und die Meinung der Experten einholen. Wir halten es beide für sinnvoll, die komplette Einheit für Vermisste Personen zurate zu ziehen. Ich verspreche aber, dass wir in ein paar Stunden zurück sind. Dann können wir das weitere Vorgehen genau besprechen. Außerdem werde ich mich darum kümmern, dass der Park ab sofort überwacht wird, damit alles lange vor dem Treffen bereit ist. Sie können sich auf uns verlassen.“
Carolyn Rainey stand auf und nahm sie überraschend stürmisch in die Arme. Das gleiche machte sie mit Ray. Tim Rainey nickte nur anerkennend. Keri sah ihm an, dass er seine Schockstarre überwunden hatte und jetzt alle Zeichen auf Bereitschaft standen.
Sie konnte seine Reaktion besser nachvollziehen als viele andere und wusste, dass es eine Zeitverschwendung war, jemandem in solchen Momenten zu sagen, dass er ruhig bleiben sollte. Seine Tochter war verschwunden. Ein guter Grund durchzudrehen. Bei ihm passierte das nur stiller als bei den meisten Leuten.
Als sie zu ihrem Wagen gingen, drehte sich Ray zu Keri um. „Ich fürchte, wenn wir dieses Mädchen nicht zurückbekommen, erleidet er einen Herzinfarkt“, flüsterte er.
Keri wollte ihm widersprechen, aber sie konnte nicht. Wenn sie damals bei Evies Verschwinden so einen Brief bekommen hätte, hätte sie vermutlich den Verstand verloren. Aber die Raineys hatten ohne es zu wissen ein Ass im Ärmel. Sie hatten Keri.
„Dann lass sie uns möglichst schnell zurückbekommen“, entgegnete sie.
„Ich sage euch, macht nur einen auf Psycho“, rief Detective Frank Brody empört. „Das ganze Gequatsche von Regeln und dem Herrn soll uns verwirren, so einfach ist das.“
Im Konferenzraum übertönten sich aufgeregte Stimmen gegenseitig und Keri wurde langsam wütend. Am liebsten hätte sie alle angeschrien, endlich still zu sein, aber aus Erfahrung wusste sie, dass ein paar dieser Männer erst einmal Dampf ablassen mussten, bevor sie etwas Hilfreiches produzieren konnten.
Brody, eines der Urgesteine auf dem Revier, der nur noch einen knappen Monat bis zu seiner Pensionierung hatte, war überzeugt, dass der Brief ein Betrug war. Wie üblich hatte er einen auffälligen Fleck auf dem Hemd, das zwar im Hosenbund steckte, aber aufgrund eines fehlenden Knopfes einen ungewollten Einblick auf seinen runden Bauch erlaubte. Und wie üblich war er lauter als alle anderen, ob er nun recht hatte oder nicht.
„Das können Sie doch gar nicht wissen!“, schnappte Officer Jamie Castillo zurück. „Das behaupten Sie nur, damit der Fall einfacher aussieht.“
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