Читать книгу «Eine Spur von Verbrechen» онлайн полностью📖 — Блейка Пирс — MyBook.
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KAPITEL DREI

Neunzig Minuten später saß Keri wieder an ihrem Schreibtisch. Sie stieß ein frustriertes Seufzen aus. Die vergangenen eineinhalb Stunden waren ergebnislos gewesen.

Sie hatten auf dem Weg nichts Außergewöhnliches feststellen können. Keine Anzeichen eines Kampfes, keine Reifenspuren an der Stelle, an der Mrs. Rainey Jessicas Fahrrad gefunden hatte. Keri hatte an mehreren Häusern geklingelt um festzustellen, ob irgendjemand etwas gesehen oder zur Straße gerichtete Überwachungskameras installiert hatte, aber ohne Erfolg.

Als sie die Schule erreicht hatten, hatte Ray bereits mit dem Schuldirektor geredet, der ihnen versprochen hatte, eine E-Mail an alle Familien zu schicken, für den Fall, dass irgendjemand etwas wusste, was für sie hilfreich sein könnte. Der Sicherheitsdienst hatte bereits sämtliche Überwachungsmaterialien zusammengestellt und während Ray in der Schule blieb, um sich diese Materialien anzusehen, hatte Keri Mrs. Rainey nach Hause gebracht und war auf das Revier zurückgefahren, um sich mit den möglichen Zeugen in Verbindung zu setzen.

Mrs. Rainey hatte vermutlich den Eindruck, dass sich die beiden Detectives einfach nur die Arbeit aufteilten. Gewissermaßen stimmte das auch, aber insgeheim hätte sie es nicht ertragen, schweigend neben Ray zurück zur West-LA Division zu fahren.

Stattdessen war sie vom Haus der Raineys aus mit der Bahn weitergefahren.

Seit einer halben Stunde war sie nun dabei, Jessicas Freunde und Klassenkameraden anzurufen. Doch bisher hatte ihr niemand brauchbare Informationen geben können. Drei ihrer Freunde hatten gesehen, wie Jessica mit dem Fahrrad losgefahren war, aber ihnen war nichts Außergewöhnliches aufgefallen.

Keri hatte auch die beiden Jungen kontaktiert, die Jessica in den vergangenen Wochen zu Hause erwähnt hatte. Obwohl beide wussten, wer Jessica Rainey war, schien keiner der beiden über ihre Gefühle Bescheid zu wissen. Keri war nicht überrascht. Als sie in Jessicas Alter gewesen war, hatte sie ganze Hefte mit den Namen von Jungs gefüllt, die ihr gefielen, ohne je mit ihnen geredet zu haben.

Dann rief sie Jessicas Lehrer an, ihren Softball-Trainer, ihren Mathe-Tutor und sogar den Leiter ihrer Nachbarschaftswache. Wenn jemand nicht antwortete, hinterließ sie eine Nachricht. Doch niemand wusste irgendetwas über Jessica.

Jetzt wählte sie Rays Nummer. Er antwortete beim ersten Klingeln.

„Sands.“

„Ich habe leider nichts Neues“, sagte sie und versuchte, sich einzig auf den Fall zu konzentrieren. „Niemandem ist irgendetwas aufgefallen. Ihre Freunde sagen, dass alles wie immer war, als sie von der Schule losgefahren ist. Ich warte noch auf ein paar Rückrufe, aber ich glaube kaum, dass sie viel hergeben werden. Hattest du mehr Glück?“

„Bisher nicht. Die Kameras decken nur das Schulgelände ab. Ich habe die Aufnahme gefunden, die zeigt, wie Jessica sich von allen verabschiedet und losfährt, aber das war’s. ich habe den Sicherheitsdienst gebeten, alle Aufnahmen dieser Woche herauszusuchen. Vielleicht finden wir etwas Verdächtiges. Das kann aber eine Weile dauern.“

Zwischen den Zeilen hörte Keri heraus, dass er so bald nicht aufs Revier kommen würde. Keri beschloss, es zu ignorieren.

„Ich finde, wir sollten die Vermisstenmeldung herausgeben“, sagte sie. „Es ist jetzt sechs Uhr, vor drei Stunden hat ihre Mutter die Polizei verständigt. Es gibt keine Hinweise, dass es sich nicht um eine Entführung handelt. Wenn sie direkt nach der Schule entführt wurde, zwischen 2:45 und 3 Uhr, könnte sie inzwischen schon bis nach Palm Springs oder San Diego gebracht worden sein. Wir sollten so viel Aufmerksamkeit wie möglich auf uns ziehen.“

„Einverstanden“, sagte Ray. „Kannst du dich darum kümmern? Ich möchte so schnell wie möglich die Aufnahmen durchsehen.“

„Kein Problem. Kommst du aufs Revier, wenn du fertig bist?“

„Mal sehen“, antwortete er ausweichend. „Je nachdem, was ich noch finde.“

„Gut. Sag Bescheid, wenn du etwas hast.“

„Das werde ich“, sagte er und beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden.

Keri zwang sich, nicht darüber nachzudenken, sondern so schnell wie möglich alles für die öffentliche Vermisstenmeldung vorzubereiten. Als sie damit fast fertig war, sah sie ihren Boss, Lieutenant Coleman, an ihrem Schreibtisch vorbeilaufen.

Wie immer trug er eine locker gebundene Krawatte unter seiner Sportjacke und ein kurzes Hemd, das seinen Bauch nur mühsam bedeckte. Er war nicht viel älter als fünfzig, aber sein Job hatte ihn frühzeitig altern lassen, sodass sich jetzt schon tiefe Falten auf seiner Stirn und an den Augenlidern abzeichneten. Sein Haar schien mit jedem Tag grauer zu werden.

Sie rechnete damit, dass er zu ihr herüber kam, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren, aber er sah nicht einmal in ihre Richtung. Keri war das nur recht. Sie wollte sich zuerst bei den Kollegen von der Spurensicherung erkundigen, ob sie irgendwelche Fingerabdrücke sicherstellen konnten.

Nachdem sie die Vermisstenmeldung herausgegeben hatte, ging sie durch das Revier, in dem es für diese Uhrzeit erstaunlich ruhig war. Sie ging den Gang hinunter zu den Räumen der Spurensicherung, klopfte an die Tür und steckte ohne eine Antwort abzuwarten den Kopf durch die Tür.

„Gibt es Neuigkeiten im Fall Jessica Rainey?“

Die neue Sekretärin, eine junge Frau mit dunklen Haaren und Brille, sah von ihrem Magazin auf. Keri kannte sie nicht, weil die Stelle ständig neu besetzt wurde. Die junge Frau gab den Namen in ihren Computer ein.

„Der Rucksack und das Fahrrad haben keine Fingerabdrücke ergeben“, sagte sie. „Das Handy wird noch überprüft, aber den Einträgen nach zu schließen sind sie nicht besonders optimistisch, etwas zu finden.“

„Können Sie mich bitte informieren, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind? Auch wenn es keine neuen Ergebnisse gibt. Ich möchte mir das Handy gerne selbst ansehen.“

„Wird gemacht, Detective“, sagte sie und wandte sich wieder dem Magazin zu, noch bevor Keri die Tür hinter sich zugezogen hatte.

Als sie jetzt alleine auf dem Gang stand, fiel ihr plötzlich auf, dass es für sie nichts mehr zu tun gab. Die Vermisstenmeldung war raus, Ray kümmerte sich um die Aufnahmen der Videoüberwachung, der Bericht der Spurensicherung war in Arbeit, Jessicas Handy war noch nicht freigegeben und sie hatte alle Nummern auf der Liste von Carolyn Rainey angerufen.

Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit Stunden gönnte sie ihrem Kopf eine Pause. Sofort machten sich unerwünschte Gedanken breit.

Sie sah Rays verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck vor sich. Sie sah einen schwarzen Van, der mit ihrer Tochter in der Dunkelheit verschwand. Sie sah die Augen des Sammlers, als sie seine Kehle zudrückte, obwohl er bereits an der Kopfwunde starb. Mit bloßen Händen hatte sie dem Mann, der vor über fünf Jahren ihre Tochter gestohlen hatte, das letzte bisschen Leben aus dem Körper geschüttelt. Sie sah die unscharfe Aufnahme des Schwarzen Witwers vor sich, wie er dem anderen Mann in den Kopf schießt, Evie aus dem Van zieht und sie in seinen eigenen Wagen steckt.

Schnell öffnete sie die Augen. Sie stand vor dem Lagerraum für Beweismittel. In den vergangenen Wochen war sie unzählige Male hier gewesen und die Fotos von Brian dem Sammler Wickwires Appartement studiert.

Die eigentlichen Beweismittel wurden im Hauptquartier in der Innenstadt aufbewahrt, weil das Appartement in deren Zuständigkeitsbereich lag. Immerhin hatten die Verantwortlichen im Hauptquartier eingewilligt, dass der Polizeifotograf sämtliche Beweismittel ablichtete, solange die Fotos die Polizeiwache nicht verließen. Da Keri den Tod eines Mannes auf dem Gewissen hatte, konnte sie über diese Bedingungen nicht verhandeln.

Sie hatte die Fotos nun seit ein paar Tagen nicht mehr angesehen und plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Irgendetwas sagte ihr, dass es eine Verbindung gab, die sie nur erkennen musste. Langsam betrat sie den Raum.

Die Verwalterin war nicht überrascht, Keri zu sehen und schon ihr die Registrierungskarte ohne Kommentar entgegen. Keri trug sich ein und ging zielstrebig auf den Karton mit den Fotos zu. Sie wusste genau, in welchem Regal er stand. Sie nahm den Karton und stellte ihn auf einen der Tische, die im hinteren Teil des Raumes standen.

Keri setzte sich und knipste die Leselampe an. Dann breitete sie die Fotos vor sich aus. Sie hatte sie schon so oft angesehen. Jedes Buch, das Wickwire besaß, war katalogisiert und abfotografiert worden, genau wie jedes einzelne Kleidungsstück und sämtliche Gegenstände auf den Küchenregalen.

Dieser Mann stand unter Verdacht, im Laufe der Jahre bis zu fünfzig Kinder entführt und verkauft zu haben, und die Detectives im Hauptquartier waren entschlossen, nichts unversucht zu lassen, um den Fall aufzuklären.

Doch Keri spürte, dass das, was sie suchte, nicht auf den Fotos zu finden war, die sie zuletzt angesehen hatte. Es musste etwas sein, das sie völlig unbewusst registriert hatte. Als sie vor wenigen Minuten auf dem Gang gestanden hatte, hatte sich bei all den schmerzhaften Erinnerungen plötzlich etwas in ihrem Verstand geregt.

Was kann es nur sein? Wo liegt die Verbindung, die ich einfach nicht greifen kann?

Und plötzlich sah sie es.

Über dem Schreibtisch des Sammlers hingen einige Tierfotografien. Sie hatten alle die gleiche Größe. Eine Aufnahme zeigte einen Frosch auf einem Stein, daneben ein Feldhase mit aufgestellten Ohren und wieder daneben ein Specht, der gegen einen Baumstamm klopfte. Dann folgte ein Lachs, der gerade stromaufwärts sprang und schließlich kam das Foto einer Spinne auf einem braunen Untergrund – genauer gesagt eine schwarze Witwe.

Schwarze Witwe. Schwarzer Witwer. War das die fehlende Verbindung?

Vielleicht war es nur Zufall. Den ermittelnden Detectives war ganz offensichtlich nichts verdächtig vorgekommen. Sie hatten die Bilder nicht einmal als Beweismittel katalogisiert. Doch Keri wusste, dass der Sammler seine Informationen gerne verschlüsselte.

So hatte sie schließlich auch Evie und zahlreiche weitere entführte Kinder aufgespürt. Der Sammler hatte ihre Aufenthaltsorte auf Ansichtskarten notiert, verschlüsselt mit einem alphanumerischen Geheimcode.

Keri wusste, dass es zwischen dem Sammler und dem schwarze Witwer noch eine Verbindung gab: Beide hatten mehrfach für Jackson Cave gearbeitet.

Vielleicht sind sie sich bei einem Job begegnet? Hatte Wickwire so die Kontaktinformationen von anderen Kriminellen aufbewahrt, falls er je mit ihnen in Kontakt treten müsste?

Keri trug plötzlich jene Gewissheit in sich, die sie manchmal überkam, wenn sie einen wichtigen Hinweis in einem Fall gefunden hatte. Sie wusste, dass sie etwas Nützliches finden würde, wenn sie nur das Foto untersuchen könnte.

Leider befand es sich in Brian Wickwires Appartment, das immer noch unter Verschluss stand. Als sie vor zwei Wochen versucht hatte, sich Zutritt zu verschaffen, war es mit Polizeiband versiegelt und zwei Polizisten bewachten es rund um die Uhr.

Sie überlegte gerade, wie sie trotzdem hineinkommen könnte, als ihr Handy klingelte. Es war Ray.

„Hi“, sagte er zögerlich.

„Kannst du sofort zu den Raineys kommen?“, fragte er ohne Umschweife.

„Selbstverständlich. Was ist denn los?“

„Sie haben soeben eine Lösegeldforderung erhalten.“