Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie sich zum hundertsten Mal vorstellte, wie Evie an einem Ort wie diesem eingesperrt wurde. Nächste Woche war die Entführung fünf Jahre her. Das würde ein schwerer Tag werden.
Seitdem war viel geschehen – sie hatte lange um ihre Ehe gekämpft. Doch mit der Hoffnung, Evie zu finden, schwanden auch ihre Chancen auf ein gemeinsames Leben. Nachdem sie und Stephen sich scheiden ließen, hatte er ein Sabbatjahr von seiner Professur für Kriminologie und Psychologie an der Loyola Marymount University genommen, mit der offiziellen Begründung unabhängige Recherchen durchzuführen. In Wahrheit hatte ihn die Verwaltung dazu gezwungen, weil seine Alkoholexzesse und seine Affären mit verschiedenen Studentinnen aufgefallen waren. Ihr Leben lag in Scherben, wohin sie auch sah. Schließlich musste sie ihrer größten Niederlage in die Augen blicken: man hatte ihre Tochter gestohlen und sie konnte ihr nicht helfen.
Keri wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und ärgerte sich über sich selbst.
Okay, ich habe meine eigene Tochter aufgegeben, aber Ashley werde ich retten! Reiß dich zusammen, Keri!
Dann fiel ihr Ashleys Handy wieder ein. Sie aktivierte es direkt hier im Schuppen. Das Passwort Honey war richtig. Wenigstens damit hatte Denton sie nicht angelogen.
Sie ging zu ihren Fotos. Ashley hatte hunderte von Fotos gespeichert, die meisten davon hübsche kleine Selfies mit ihren Freunden oder mit Denton Rivers, sogar ein paar mit ihrer Mutter. Doch Keri fand auch ein paar privatere Bilder.
Ein paar Fotos waren in einer Bar aufgenommen worden, offensichtlich nach Ladenschluss. Sie zeigten Ashley und ihre Freunde halb besinnungslos, wie sie sich gegenseitig Alkohol einflößten und ihre Röcke hoben um ihre Tangas in die Kamera zu halten. Auf ein paar Fotos wurden auch Bongs geraucht und Joints gedreht. Auf dem Tisch standen Schnapsflaschen.
Wen kannte Ashley, der ihr Zugang zu diesem Ort verschaffte? Wann wurden diese Fotos gemacht? Wieso wussten ihre Eltern nichts davon?
Dann erstarrte Keri. Auf zwei Fotos lag im Hintergrund eine 9mm Pistole. Einmal neben einem Päckchen Zigaretten auf dem Tisch, einmal auf dem Sofa neben einer Tüte Chips. Die nächsten Bilder zeigten Ashley irgendwo im Wald, wie sie auf eine Dose Cola zielte.
Was hat das zu bedeuten? War das Ashleys Art, Spaß zu haben? Wollte sie lernen, sich selbst zu verteidigen? Vor wem?
Keri bemerkte, dass Denton Rivers in den letzten drei Monaten immer seltener auf ihren Fotos zu sehen war. Dafür war immer öfter ein extrem gutaussehender junger Mann mit einer langen, blonden Mähne zu sehen. Auf vielen Bildern trug er kein T-Shirt und zeigte seinen durchtrainierten Oberkörper. Er schien sehr stolz auf seinen Sixpack zu sein. Aber er ging nicht mehr auf die Schule, so viel stand fest. Keri schätzte ihn auf Anfang zwanzig.
Ob er ihnen Zugang zu der Bar verschafft hatte?
Ashley hatte zu dieser Zeit auch einige erotische Fotos von sich selbst gemacht. Einige zeigten sie in Unterwäsche, andere oben ohne, wie sie sich verführerisch streichelte. Auch wenn ihr Gesicht auf den Bildern nicht zu sehen war, war Keri dennoch sicher, dass es Ashley war. Keri erkannte ihr Zimmer. Ein Bild zeigte sogar das Mathematikbuch, in dem sie ihren gefälschten Führerschein versteckt hatte. Auf einem anderen war ein Teil ihres Stofftieres sichtbar, das mit abgewandtem Kopf auf ihrem Kissen saß, als könne es den Anblick nicht ertragen. Keri wurde blass.
Sie beschloss, sich als nächstes die gesendeten SMS anzusehen. Ashley hatte die erotischen Fotos an einen Typen namens Walker gesendet, vermutlich der Typ mit dem Sixpack. Die zugehörigen Mitteilungen waren eindeutig. Trotz Mia Penns inniger Beziehung zu ihrer Tochter, schien Stafford Penn den realistischeren Eindruck von Ashleys Privatleben zu haben.
Eine Mitteilung an Walker vor vier Tagen lautete: Ich habe Denton offiziell abserviert. Könnte Probleme geben. Ich sag Bescheid.
Keri schaltete das Handy aus und saß nachdenklich in dem dunklen Schuppen. Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken wandern. Plötzlich spielte sich vor ihrem inneren Auge eine Szene ab, so lebendig, als hätte sie genau hier stattgefunden.
Es war Sonntag, ein schöner, sonniger Septembermorgen mit blauem Himmel. Sie war mit Evie auf dem Spielplatz. Stephen kam an diesem Tag von einem Ausflug in den Bergen zurück. Evie trug ein lilafarbenes T-Shirt, weiße Shorts, weiße Spitzensocken und Sportschuhe.
Sie lächelte über das ganze Gesicht. Ihre grünen Augen leuchteten und ihre blond gelockten Zöpfchen wippten in der Sonne. An einem ihrer Schneidezähne war ein kleines Eck abgebrochen. Da es kein Milchzahn mehr war, mussten sie ihn irgendwann richten lassen. Doch immer, wenn Keri es erwähnte, geriet Evie in Panik, deswegen schoben sie es immer wieder auf.
Keri saß barfuß im Gras, um sie herum lagen Papiere verstreut. Sie bereitete sich auf ihren Vortrag auf der Kriminologen-Konferenz am nächsten Tag vor. Sie hatte sogar einen Gastredner eingeladen, einen Detective vom LAPD namens Raymond Sands, der sie in der Vergangenheit ein paarmal kontaktiert hatte.
„Mami, kaufst du mir ein Eis?“
Keri sah auf die Uhr. Sie war fast fertig und der Laden lag auf dem Heimweg. „Gib mir fünf Minuten.“
„Heißt das Ja?“
Sie lächelte. „Ja! Großartige Idee.“
„Darf ich mir auch Soße oder Streusel aussuchen?“
„Kommt darauf an… Wie sieht Feenstaub aus?“
„Ich weiß nicht.“
„So bunt wie Streusel! Verstehst du?“
„Klar verstehe ich! Ich bin doch kein Baby mehr!“
„Natürlich nicht, mein Schatz, entschuldige. Gib Mir noch fünf Minuten.“
Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Vortrag. Eine Minute später ging jemand an ihr vorbei. Sein Schatten fiel kurz auf ihre Papiere. Sie ärgerte sich über die Ablenkung und versuchte sich wieder zu konzentrieren.
Plötzlich wurde die Stille von einem entsetzlichen Schrei zerrissen. Keri blickte erschrocken auf. Ein Mann in Windjacke und Baseball-Mütze rannte davon. Sie konnte ihn nur von hinten sehen, bemerkte aber, dass er irgendetwas in den Armen trug.
Keri stand auf und sah sich unruhig nach Evie um, aber sie konnte sie nirgendwo entdecken. Ohne nachzudenken rannte sie dem Mann hinterher. In diesem Moment sah sie Evie. Der Mann hatte sie fest im Griff. Sie sah völlig verängstigt aus.
„Mama!“, schrie sie. „Mama!“
Keri rannte noch schneller, aber der Mann hatte einen großen Vorsprung. Als sie gerade über die Wiese sprintete, war er bereits auf dem Parkplatz angekommen.
„Evie! Lass Sie los! Stopp! Haltet diesen Mann! Er hat meine Tochter!“
Die Leute sahen sich verwirrt um, aber niemand half. Auf dem Parkplatz war keiner, der ihn stoppen konnte. Sie sah, wie er auf einen weißen Van am anderen Ende des Parkplatzes zu rannte. Er war nur noch wenige Meter davon entfern, als sie Evie rufen hörte.
„Mama! Hilf mir!“
„Ich komme! Halte durch!“
Keri gab alles. Brennende Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Sie konnte kaum mehr sehen. Sie ignorierte ihre schmerzenden Muskeln und ihre Furcht. Sie erreichte den Parkplatz. Der körnige Asphalt bohrte sich tief in ihre nackten Fußsohlen, aber sie spürte es kaum.
„Er hat meine Tochter!“, schrie sie wieder.
Ein Teenager stieg gerade mit seiner Freundin aus dem Wagen unweit des Vans aus. Er sah sich verwirrt um, doch als Keri wieder rief und auf den Mann mit Evie zeigte, rannte er los.
Der Mann hatte jetzt den Van erreicht, schob die Seitentür auf und warf Evie hinein, wie einen Sack Kartoffeln. Keri konnte den dumpfen Aufprall hören, als ihr Körper gegen die Wand schlug. Der Mann zog die Tür zu und rannte zur Fahrertür, als der Teenager ihn an der Schulter zu fassen bekam. Der Mann fuhr herum und endlich sah Keri ihn von vorne. Er trug eine Sonnenbrille und hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Die Tränen in ihren Augen machten es ihr immer noch schwer, klar zu sehen, aber sie nahm einen blonden Haarschopf wahr und den Ansatz eines Tattoos an seiner rechten Halsseite.
Bevor sie mehr erkennen konnte, hatte er seinen Arm befreit und dem Teenager ins Gesicht geschlagen. Dieser fiel rückwärts gegen ein anderes Auto. Keri hörte einen schrecklichen Knack. Sie sah, dass der Mann ein Messer gezogen hatte und es dem Teenager in die Brust rammte. Er zog es wieder heraus und sah zu, wie der Junge auf den Boden sank. Dann eilte er zur Fahrertür.
Keri dachte nicht nach, sie wollte nur noch den Van erreichen. Sie hörte, wie der Motor startete und sah, dass er bereits rückwärts aus der Parklücke fuhr. Sie war nur noch wenige Meter entfernt. Schon schaltete der Fahrer in den ersten Gang und beschleunigte. Keri rannte weiter, spürte aber, dass ihre Kräfte nachließen. Sie wollte sich das Nummernschild einprägen, doch der Van hatte keins.
Sie tastete nach ihrem Autoschlüssel, doch die lagen noch auf der Wiese beim Spielplatz. Sie rannte zu dem Teenager, hoffte seinen Wagen nehmen zu können. Seine Freundin war über ihn gebeugt und schluchzte unkontrolliert.
Als sie wieder aufsah, verschwand der Van gerade um die nächste Kurve. Er wirbelte eine riesige Staubwolke auf. Sie hatte kein Nummernschild, keine Täterbeschreibung, nichts, was der Polizei helfen würde. Ihre Tochter war verschwunden und sie hatte keine Ahnung, wie sie sie wieder zurückholen konnte.
Keri sank neben dem Mädchen auf die Knie und begann ebenfalls zu schluchzen. Ihr Wimmern war von dem des Mädchens nicht mehr zu unterscheiden.
Als sie die Augen öffnete, war sie wieder in Dentons Haus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, aus dem Schuppen und über das verdorrte Gras gegangen zu sein. Jetzt stand sie in Rivers Küche. Das war bereits der zweite Blackout an einem Tag.
Sie hatte es also nicht im Griff.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, sah Denton in die Augen und sagte: „Wo ist Ashley?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum hast du ihr Handy?“
„Sie hat es gestern hier vergessen.“
„Blödsinn! Sie hat vor vier Tagen mit dir Schluss gemacht. Sie war gestern nicht hier.“
Das war für ihn ein Schlag ins Gesicht.
„Okay, ich habe es ihr geklaut.“
„Wann?“
„Heute Nachmittag. In der Schule.“
„Du hast es ihr einfach aus der Hand genommen?“
„Nein, ich bin absichtlich mit ihr zusammengestoßen, als die Schulglocke ging und habe es aus ihrer Tasche gezogen.“
„Wem gehört der schwarze Van?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht einem deiner Freunde?“
„Nein.“
„Hast du jemanden dafür bezahlt?“
„Was? Nein!“
„Woher kommen die Kratzer an deinem Arm?“
„Keine Ahnung.“
„Und die Wunde in deinem Gesicht?“
„Keine Ahnung.“
„Wessen Blut ist das dort, auf dem Teppich?“
„Keine Ahnung.“
„Keri wurde unruhig und bemühte sich, den aufkochenden Zorn zu unterdrücken. Sie spürte, dass sie langsam die Kontrolle verlor.
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