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KAPITEL VIER

Montag

Früher Abend

Zehn Minuten später fuhr Keri langsam an Denton Rivers Haus vorbei. Sie sah es sich genau an und parkte schließlich einen Block weiter. Ray war im Auto hinter ihr. Sie spürte ein Kribbeln im Bauch, das nichts Gutes verhieß.

Was, wenn Ashley in diesem Haus ist und er ihr etwas angetan hat?

In der Straße befanden sich hauptsächlich eingeschossige Reihenhäuser, die viel zu nahe aneinander standen. Weit und breit gab es keine Bäume oder Grünflächen, die winzigen Vorgärten waren längst von der Sonne versengt. Denton und Ashley kamen aus sehr unterschiedlichen Welten. In diesem Teil der Stadt gab es keine Prachtvillen.

Keri und Ray gingen zusammen die Straße herunter. Es war kurz nach sechs. Die Sonne hatte bereits ihren langen, langsamen Abstieg nach Westen über dem Ozean begonnen, aber richtig dunkel würde es erst in ein paar Stunden werden.

Als sie vor Dentons Haus standen, hörte sie laute Musik.

Sie und Ray gingen leise zur Haustür. Jetzt konnte man eine wütende, ernste Männerstimme herumschreien hören. Ray holte seine Pistole aus dem Gürtel und gab ihr ein Zeichen, dass sie zur Hintertür gehen sollte und hob dabei einen Finger in die Höhe, was bedeuten sollte, dass sie in genau einer Minute eindringen würden. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr, nickte, zog ebenfalls ihre Waffe und drückte sich dann an der Hauswand entlang nach hinten.

Ray war der höhere Detective, daher war er gewöhnlich der Vorsichtigere, wenn sie sich Zugang zu einem fremden Haus verschafften. In diesem Fall hielt er es aber für eine so dringende Angelegenheit, dass er nicht auf einen Durchsuchungsbefehl warten konnte. Ein Mädchen wurde vermisst, ein möglicher Verdächtiger war im Haus, wütend und lautstark. Sein Eindringen war gerechtfertigt.

Keri überprüfte das Gartentor. Es war nicht verschlossen. Sie öffnete es nur einen kleinen Spalt und drückte sich durch, damit es nicht quietschte. Es war unwahrscheinlich, dass man sie im Haus hören konnte, aber sie wollte auch kein Risiko eingehen. Auf der Rückseite angekommen hielt sie sich weiterhin nahe an der Wand und konzentrierte sich auf mögliche Bewegungen. Ihr fiel ein heruntergekommener Schuppen am Ende des Grundstücks auf, dessen rostige Wellblechtür aussah, als würde sie jeden Augenblick abfallen.

Sie schlich sich auf die Veranda und hielt einen Augenblich inne. Sie lauschte auf Ashleys Stimme, aber sie konnte sie nicht hören.

Durch die angelehnte Fliegentür konnte sie in eine Küche im 70er Stil mit einem gelben Kühlschrank einsehen. Vom Wohnzimmer aus fiel ein Schatten in den Gang, der Head-bangend zur Musik brüllte.

Immer noch keine Spur von Ashley.

Keri sah auf ihre Uhr – es war soweit.

Da hörte sie schon ein lautes Pochen an der Haustür. Gleichzeitig riss sie die Fliegentür auf und wartete auf das nächste Pochen, bevor sie sie hinter sich wieder zuzog. Lautlos bewegte sie sich durch die Küche und den Gang entlang. In jedes Zimmer, an dem sie vorbeikam, warf sie einen kurzen Blick.

Ray trommelte unterdessen weiterhin mit der Faust gegen die Haustür, lauter und lauter. Plötzlich hörte Denton Rivers auf zu tanzen und ging zur Tür. Keri drückte sich an den Türrahmen des Wohnzimmers. Sie konnte sein Seitenprofil sehen.

Er sah überrascht aus. Er war ein attraktiver junger Mann, hatte kurz geschnittenes, braunes Haar, blaue Augen und eine durchtrainierte Figur, die eher an einen Wrestler erinnerte, als an einen Highschool-Schüler. In jeder anderen Situation hätte er wahrscheinlich gut ausgesehen, aber jetzt war sein Gesicht wutverzogen, seine Augen blutunterlaufen und an seiner Schläfe prangte eine große Platzwunde.

Als er die Tür schließlich öffnete, hielt Ray ihm seine Polizeimarke ins Gesicht.

„Ray Sands, LAPD, Einheit für vermisste Personen“, sagte er mit tiefer, fester Stimme. „Ich habe ein paar Fragen über Ashley Penn.“

Panik machte sich auf Dentons Gesicht breit. Keri kannte diesen Ausdruck. Er würde gleich versuchen, wegzulaufen.

„Ich will dir keinen Ärger machen, ich möchte nur mit dir reden“, sagte Ray beschwichtigend. Er hatte wohl denselben Verdacht.

Keri bemerkte etwas Schwarzes in seiner rechten Hand, konnte es aber nicht richtig erkennen, weil sein Körper ihre Sicht blockierte. Sie hob ihre Waffe und zielte auf seine Schulter. Dann ließ sie die Sicherung zurückschnappen.

Ray sah das aus dem Augenwinkel und schaute auf Dentons Hände. Ray musste es besser sehen können und hatte seine eigene Waffe noch nicht erhoben.

„Ist das die Fernbedienung für die Musik, Denton?“, fragte er laut.

„M-hm.“

„Lass sie fallen.“

Er zögerte einen Augenblich, dann nickte er. Als sie auf den Boden fiel, konnte auch Keri sehen, dass es eine Fernbedienung war.

Ray steckte seine Waffe wieder ein und Keri tat das gleiche.

Als Ray einen Schritt auf ihn zumachte, drehte Denton Rivers sich um und war erstaunt, Keri im Gang stehen zu sehen.

„Wer sind Sie?“, fragte er.

„Detective Keri Locke. Wir sind Partner“, sagt sie und wies mit dem Kinn auf Ray. „Nette Wohnung hast du hier, Denton.“

Als sie ins Wohnzimmer gingen, fiel ihr Blick auf eine Flasche Whiskey, die direkt neben einem Bluetooth-Lautsprecher auf dem Tisch stand. Keri schaltete den Lautsprecher aus und sofort war es still im Raum. Sie sah sich noch einmal genauer um.

Auf dem Teppich war ein Blutfleck. Sie prägte ihn sich genau ein, sagt aber nichts dazu.

Auf Dentons rechtem Unterarm waren tiefe Kratzer, vielleicht von Fingernägeln. Die Wunde an seiner Schläfe blutete nicht mehr, aber sie war noch sehr frisch. Die Scherben eines gerahmten Fotos von Ashley und ihm lagen auf dem Boden.

„Wo sind deine Eltern?“

„Meine Mutter ist auf der Arbeit.“

„Und dein Vater?“

„Der hat im Grab zu tun.“

„Willkommen im Club“, sagt Keri kühl. „Wir suchen nach Ashley Penn.“

„Die kann mich mal.“

„Weißt du, wo wir sie finden können?“

„Nein, und es ist mir auch scheißegal. Mit der bin ich fertig.“

„Ist sie hier?“

„Können Sie sie vielleicht irgendwo sehen?“

„Ist ihr Handy hier?“, fragte Keri nachdrücklich.

„Nein.“

„Wem gehört das pinke Handy in deiner Tasche dann?“

Er zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Ich habe gesagt, ich habe Ashleys Handy nicht. Sie sollten jetzt gehen.“

Ray trat bedrohlich nahe vor ihn und hielt ihm die Hand vor die Brust. „Her mit dem Handy.“

Denton schluckte schwer, dann fischte er das Handy aus seiner Hosentasche und legte es in Rays Hand. Es hatte ein pinkes Cover und sah ziemlich teuer aus.

„Gehört das Ashley?“, fragte Ray noch einmal.

Der Junge antwortete nicht, sondern sah ihn nur herausfordernd an.

„Ich kann einfach ihre Nummer wählen, dann sehen wir, ob es klingelt“, sagte Ray, „oder du redest endlich.“

„Okay, es gehört Ashley. Na und?“

„Du setzt dich jetzt auf diese Couch und gibst keinen Mucks von dir“, sagt Ray. Dann wandte er sich an Keri. „Tu, was du tun musst.“

Keri begann, das Haus zu durchsuchen. Es gab drei kleine Schlafzimmer, ein winziges Bad und einen begehbaren Schrank. Alles sah normal und unauffällig aus. Nirgends ein Zeichen von Kampf oder Gefangenschaft. Sie fand auch die Leiter zum Dachgeschoss, die mit einem lauten Knarren herunterklappte. Sie kletterte vorsichtig hinauf. Als sie oben ankam, leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe in alle Ecken. Die Decke war niedrig und schräg, sie konnte kaum aufrecht stehen. Querbalken machten es ihr selbst auf allen Vieren schwer, voran zu kommen.

Dort oben gab es nichts außer zehn Jahre alte Spinnweben, ein paar verstaubte Kisten und eine riesige Holzkiste an der gegenüberliegenden Wand.

Warum wurde dieser schwerste, unheimlichste Gegenstand am weitesten geschleppt? Es dürfte ziemlich anstrengend gewesen sein, diese Truhe da hinter zu bekommen.

Keri seufzte. Wahrscheinlich nur, um ihr das Leben schwer zu machen.

„Ist alles in Ordnung da oben?“, rief Ray aus dem Wohnzimmer.

„Ja, ich sehe mir nur noch den Dachboden an.“

Auf Händen und Knien bahnte sie sich einen Weg durch das Dachgeschoss. Verschwitzt und voller Spinnweben kam sie schließlich zu der Truhe. Als sie sie öffnete und mit ihrer Taschenlampe hineinleuchtete, war sie erleichtert, keine Leiche darin zu finden. Im Gegenteil. Die Truhe war leer.

Sie schloss den Deckel wieder und machte sich auf den Weg zurück zur Treppe.

Unten im Wohnzimmer hatte Denton sich tatsächlich nicht gerührt. Ray hatte sich einen Küchenstuhl geholt, ihn direkt vor ihm platziert und sich rittlings darauf gesetzt. „Irgendwas Verdächtiges gefunden?“, fragte er, als sie den Raum betrat.

Sie schüttelte den Kopf. „Wissen wir inzwischen, wo Ashley ist, Detective Sands?“

„Noch nicht, aber wir arbeiten daran. Richtig, Mr. Rivers?“

Denton tat, als hätte er die Frage nicht gehört.

„Kann ich mir mal ihr Handy ansehen?“, fragte Keri.

Ray gab es ihr. „Es ist gesperrt. Wir werden unseren Techniker um Hilfe bitten müssen.“

Keri sah den Jungen an. „Wie lautet ihr Passwort, Denton?“

Er sah sie spöttisch an. „Keine Ahnung.“

Keris Blick sagte deutlich, dass sie ihm nicht glaubte. „Ich werde die Frage noch einmal ganz höflich wiederholen. Wie lautet Ashleys Passwort?“

Er zögerte. Schließlich sagte er: „Honey.“

„Na also. Im Garten habe ich einen Schuppen gesehen, den werde ich mir jetzt ansehen.“

Denton warf einen nervösen Blick über die Schulter, sagte aber nichts.

Draußen stellte Keri fest, dass der Schuppen mit einem alten Vorhängeschloss gesichert war. Sie sah sich um. Eine rostige Schaufel war alles, was sie auf die Schnelle finden konnte. Sie griff sich die Schaufel und schlug damit das Schloss ab. Durch ein Loch im Dach fiel etwas Licht in den Schuppen. Ashley war nicht dort, nur jede Menge alte Farbdosen, Werkzeuge und anderes Gerümpel. Sie wollte gerade wieder zum Haus gehen, als ihr ein ganzer Stapel von KFZ-Kennzeichen auf einem Regal auffiel. Sie beschloss, ihn aus der Nähe anzusehen. Der Stapel bestand aus sechs Nummernschildern, alle hatten aktuelle Plaketten.

Was hat er damit vor? Wir müssen sie untersuchen lassen.

Sie drehte sich um und wollte gehen, als ein Windstoß die Tür zuschlug.

Jetzt war es etwas dunkler im Schuppen. Die plötzliche Dunkelheit verursachte einen Anflug von Klaustrophobie bei Keri. Sie atmete ein paarmal tief durch und riss die Tür wieder auf.

So muss es für Evie gewesen sein. Alleine in der Dunkelheit ohne zu wissen, was mit ihr geschieht. Ob mein kleines Mädchen das durchmachen musste? Es musste ein Albtraum sein.

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