Montag
Früher Abend
Als Keri zu ihrem Wagen eilte, versuchte sie die Hitze, die vom Asphalt aufstieg, zu ignorieren. Schon nach einer Minute standen ihr Schweißperlen auf der Stirn. Sie fluchte leise, als sie Rays Nummer wählte.
Ich bin verdammte sechs Blocks vom Meer entfernt, es ist Mitte September – wann lässt diese verdammte Hitze endlich nach?
Es klingelte eine Weile, bevor Ray antwortete.
„Was?“, fragte er genervt.
„Du musst kommen. Main Street, gegenüber West Venice High.“
„Wann?“
„Jetzt, Raymond.“
„Warte kurz.“ Sie hörte, wie er sich bewegte und etwas murmelte. Es klang, als wäre er nicht alleine. Als er sich wieder meldete, war er scheinbar in einem anderen Raum.
„Nun. Ich war gerade – beschäftigt.“
„Dann musst du dich eben ent-schäftigen, Detective. Wir haben einen Fall zu lösen.“
„Geht es um diesen Teenager in Venice?“, fragte er verärgert.
„Ganz genau. Und den Tonfall kannst du dir sparen. Außer natürlich, du hältst es nicht für wichtig, dass die Tochter eines US Senators vermisst wird, seit sie in einen schwarzen Van gestiegen ist.“
„Gütiger Himmel! Warum hat die Mutter nicht dazu gesagt, dass es sich um die Familie eines Senators handelt?“
„Weil er es nicht wollte. Wie du glaubt er, dass alles in Ordnung ist.“
Keri war jetzt bei ihrem Auto angekommen. Sie aktivierte die Lautsprecherfunktion, legte das Handy auf den Beifahrersitz und stieg ein. Als sie losfuhr, erzählte sie Ray alles, was sie wusste. Sie berichtete von dem gefälschten Führerschein, der Patronenhülse, der Zeugin, die Ashley – eventuell gegen ihren Willen – in einem schwarzen Van verschwinden sah und von ihrem Plan, alle Beteiligten zu befragen. Als sie gerade fertig war, brummte ihr Handy. Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm.
„Suarez ruft an. Ich werde ihn über die Einzelheiten informieren. Alles klar soweit? Können wir uns treffen? Oder bist du immer noch beschäftigt?“
„Ich gehe gerade zum Auto. Ich bin in fünfzehn Minuten da“, erwiderte er ohne auf ihre Stichelei einzugehen.
„Sag ihr, dass es mir leid tut, wer auch immer die Dame war“, sagte Keri sarkastisch.
„Sie ist nicht besonders zart besaitet“, entgegnete Ray.
„Warum überrascht mich das nicht?“
Dann nahm sie den anderen Anruf an, ohne sich von Ray zu verabschieden.
*
Fünfzehn Minuten später gingen Keri und Ray genau die Stelle ab, an der Ashley Penn möglicherweise entführt worden war. Sie konnten nichts Auffälliges finden. Der Hundepark, der direkt am Straßenrand lag, war gut besucht, fröhliche Besitzer riefen Namen wie Hoover, Speck, Conrad und Delilah.
Reiche, alternative Hundebesitzer. Ach ja, Venice.
Keri versuchte diese belanglosen Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich jetzt konzentrieren, auch wenn es nicht viel gab, worauf sie sich konzentrieren konnte. Ray schien es genauso zu gehen.
„Vielleicht ist sie einfach weggelaufen?“, grübelte er.
„Ich schließe es nicht aus“, sagte Keri. „Sie ist definitiv nicht die unschuldige kleine Prinzessin, für die ihre Mutter sie hält.“
„Das sind sie nie.“
„Was auch immer sich zugetragen hat, es ist gut möglich, dass sie selbst eine entscheidende Rolle dabei spielt. Umso mehr wir über sie herausfinden, desto besser können wir die Situation einschätzen. Wir müssen unbedingt mit ein paar Leuten reden, die uns mehr als die offizielle Version erzählen können. Was hat es zum Beispiel mit diesem Senator auf sich? Er fand es jedenfalls nicht gut, dass ich meine Nase in Familienangelegenheiten steckte.“
„Hast du eine Ahnung, warum?“
„Noch nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass er uns etwas verheimlichen will. Ich habe noch nie einen Vater getroffen, den das Verschwinden seines Kindes so kalt lässt. Er hat erzählt, wie er sich als Teenager besoffen hat. Als wollte er von irgendetwas anderem ablenken.“
Ray verzog das Gesicht. „Zum Glück hast du ihn nicht darauf angesprochen. Wir können wirklich keinen Feind gebrauchen, der mit Senator angesprochen wird.“
„Das lässt mich kalt.“
„Das sollte es aber nicht“, entgegnete Ray. „Ein Wort zu Beecher oder Hillman und du bist Vergangenheit.“
„Ich war vor fünf Jahren schon einmal Vergangenheit.“
„Ich bitte dich, Keri.“
„Du weißt genau, dass es stimmt.“
„Fang besser nicht damit an.“
Keri zögerte, sah ihn kurz an und wendete sich dann wieder dem Hundepark zu. Wenige Meter vor ihr wälzte sich gerade ein junger brauner Hund im Dreck.
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht.“
„Als es damals passiert ist – du weißt schon.“
„Evie?“
Keris Herz setzte aus, als sie den Namen ihrer Tochter hörte.
„Kurz nachdem es geschehen ist, wollte ich krampfhaft noch ein Kind bekommen. Ich habe es zwei oder drei Monate lang versucht. Stephen wollte das nicht.“
Ray hörte schweigend zu.
„Eines Morgens bin ich aufgewacht und habe mich selbst dafür gehasst. Ich fühlte mich wie jemand, dem ein Hund entlaufen ist, und der sofort zum Tierheim rennt um einen Ersatz zu holen. Ich fühlte mich schwach und feige, als würde ich mich nur noch für mich selbst interessieren, anstatt mich darauf zu konzentrieren, was wirklich wichtig war. Ich hatte Evie einfach so aufgegeben, anstatt um sie zu kämpfen.“
„Keri, du musst endlich aufhören, dich selbst zu bestrafen. Man könnte fast meinen, du kämpfst gegen dich selbst.“
„Ray, ich kann sie immer noch spüren. Sie lebt. Ich weiß nicht wo und wie, aber sie lebt.“
Er drückte ihre Hand.
„Ich weiß.“
„Sie ist jetzt dreizehn.“
„Ich weiß.“
Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her. Als sie an die Kreuzung bei Westminster Road kamen, räusperte Ray sich.
„Okay“, begann er. An seinem Tonfall konnte sie hören, dass es wieder um den Fall ging. „Wir werden jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen, aber es geht hier um die Tochter eines Senators. Wenn sie nicht bald auftaucht, kann es hässlich werden. Die Bundespolizei wird sich bald einmischen und die Presse wird auch Wind kriegen. Wenn wir bis morgen früh keinen Anhaltspunkt haben, kommen wir in Teufels Küche.“
Wahrscheinlich hatte er recht, aber Keri war das egal. Heute war heute und morgen würde sie sich um morgen kümmern. Jetzt musste sie einen klaren Kopf bewahren.
Sie seufzte und schloss die Augen. Da Ray sie jetzt schon über ein Jahr kannte, mischte er sich besser nicht ein, wenn sie sich konzentrierte.
Nach dreißig Sekunden öffnete sie die Augen wieder und sah sich um. Dann zeigte sie auf ein kleines Geschäft auf der anderen Straßenseite.
„Da drüben“, sagt sie und setzte sich in Bewegung.
In diesem Teil der Venice Canals, zwischen Washington Boulevard und Rose Avenue, lebte eine interessante Mischung von Menschen. Im Süden befanden sich die edlen Villen und Strandhäuser sowie elegante und teure Läden, im Norden hingegen lagen kommerzielle Geschäfte, gepaart mit schmuddeligen Häuserecken und der Surfer- und Skater-Szene am Strand.
Es war kein Geheimnis, dass sich hier einige Gangs tummelten. Sie waren besonders bei Nacht aktiv, in der Nähe des Strandes. Der LAPD Pacific waren vierzehn aktive Gangs in Venice bekannt, von denen mindestens fünf in genau dieser Straße verkehrten. Darunter waren eine schwarze Gang, zwei lateinamerikanische, eine White Power Biker-Gang und eine, die hauptsächlich aus Drogenabhängigen und Waffenhändlern bestand. Diese Gruppen machten den Barbesitzern, den Nutten, verlaufenen Touristen, Obdachlosen und Anliegern das Leben schwer.
Daher hatten sich hier auch ganz unterschiedliche Geschäfte angesammelt – von Hipster-Lokalen über Henna-Tattoo Salons und medizinische Marihuana-Apotheken bis zu dem Laden, vor dem Keri jetzt stand: eine Kautions-Pfandleihe.
Sie befand sich im zweiten Stock eines neu renovierten Gebäudes, direkt über einer Saft-Bar.
„Sieh dir das mal an“, sagte sie. Über dem Eingang hin ein Schild, das Briggs Kautions-Pfandleihe verkündete.
„Was ist damit?“, fragte Ray.
„Genau über dem Schild, bei dem Wort ‚Kaution‘.“
Ray sah genauer hin, kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können und erkannte schließlich eine winzige Sicherheitskamera. Sie zeigte genau auf die Kreuzung und den Hundepark, wo Ashley auf den schwarzen Van getroffen war.
„Ausgezeichnet“, sagte Ray.
Keri trat einen Schritt zurück und sah sich um. Jetzt waren vermutlich mehr Leute auf der Straße, als vor ein paar Stunden noch. Dennoch war dies keine besonders ruhige Gegend.
„Wenn du jemanden entführen wolltest, würdest du es ausgerechnet hier tun?“
Ray schüttelte den Kopf.
„Ich bin eher der Typ dunkle Gasse.“
„Wer wäre so dreist, am helllichten Tag an einer belebten Kreuzung ein Mädchen zu schnappen?“
„Lass es uns herausfinden“, sagte Ray entschlossen und betrat das Treppenhaus. Die Tür zu Briggs Kautions-Pfandleihe stand offen. Ein großer, düster dreinblickender Mann saß in einem Sessel und blätterte in einem Schusswaffenmagazin.
Als Keri und Ray den Raum betraten, blickte er auf, beschloss, dass sie ungefährlich waren, und deutete auf den hinteren Teil des Raumes. Ein ungepflegt wirkender Mann mit langen Haaren und Bart saß an einem Schreibtisch und telefonierte. Er winkte sie heran. Keri und Ray setzten sich ihm gegenüber an den Tisch und warteten darauf, dass er das Telefonat beendete.
„Das Problem sind nicht die zehn Prozent, sondern die Sicherheit für die Gesamtsumme. Sie brauchen ein Haus, ein Auto oder etwas anderes, das auf Ihren Namen läuft.“
Keri hörte die Person am anderen Ende der Leitung flehen, aber der Langhaarige gab sich unbeeindruckt.
Wenig später legte er auf. Dann sah er Keri und Ray an.
„Stu Briggs“, sagt er. „Was kann ich für Sie tun, Detectives?“
Keri war erstaunt. Sie hatten sich noch nicht vorgestellt.
Bevor sie etwas antworteten konnten, sah der Kerl Ray intensiv an und rief: „Ray Sands! Der Sandmann! Ich habe Ihren letzten Kampf gesehen, gegen diesen kleinen Dreckskerl – wie hieß er gleich?“
„Lenny Jack.“
„Ja, genau. Das war er. Lenny Jack – Jack-Attack. Ihm fehlte ein Finger, oder? Der Kleine an der rechten Hand.“
„Der fehlte erst nach dem Kampf.“
„Ist auch egal. Ich war so sicher, dass Sie gewinnen würden. Seine Beine waren aus Gummi, sein Gesicht ein einziger Blutklumpen. Der konnte nicht mehr gerade stehen. Noch ein Treffer und Sie hätten ihn ausgeknipst.“
„Das dachte ich auch“, stimmte Ray zu. „Deswegen habe ich vielleicht nicht mehr richtig aufgepasst. Aber scheinbar hatte er noch ein Ass im Ärmel, mit dem keiner mehr rechnete.“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Scheinbar. Ich habe an diesem Abend viel Geld verloren.“ Dann wurde ihm klar, dass sein Verlust nichts gegen Rays Verlust war. „Naja, so viel war es auch nicht. Verglichen mit Ihrem Auge. Sieht aber gut aus, ich schätze, den meisten fällt es gar nicht auf.“
Daraufhin folgte eine lange, unbequeme Stimme. Stu versuchte es schließlich noch einmal.
„Jetzt sind Sie also ein Cop. Warum genau sitzt der Sandmann heute mit der hübschen Dame an meinem Tisch?“
Keri gefiel die Bezeichnung nicht, aber sie hielt sich zurück. Sie hatten jetzt größere Probleme.
„Wir brauchen die Aufzeichnungen Ihrer Sicherheitskamera von heute Nachmittag“, sagte Ray. „Genauer gesagt, zwischen 2:45 und 4 Uhr.“
„Kein Problem“, antwortete Stu, als wäre es eine ganz alltägliche Bitte. Die Sicherheitskamera war nützlich, angesichts der Kundschaft sogar nötig. Daher wurde das Bild nicht nur auf einen Monitor im Haus übertragen, sondern auch auf einer Festplatte gespeichert. Per Weitwinkel zeichnete die Kamera die gesamte Kreuzung zwischen Main und Westminster auf. Die Qualität des Videos war ausgezeichnet.
Keri und Ray saßen im Hinterzimmer und sahen sich die Aufzeichnung auf einem Computer an. Der Hundepark in Main Street war etwa einen halben Block weit einzusehen. Sie hofften, dass das, was Ashley Penn zugestoßen war, sich in diesem Bereich abgespielt hatte.
Bis 3:05 Uhr war nichts Nennenswertes zu beobachten. Dann erschienen die ersten Schüler und Schülerinnen auf der Straße.
Um 3:08 Uhr erschien Ashley Penn. Da Ray sie nicht sofort erkannte, machte Keri ihn auf sie aufmerksam. Sie trug einen Rock und ein enges Oberteil und ging selbstbewusst die Straße entlang. Plötzlich tauchte ein schwarzer Van auf und hielt direkt neben ihr an. Die Fenster waren tiefschwarz getönt, dunkler als es gesetzlich zugelassen war. Das Gesicht des Fahrers war nicht zu erkennen, er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Die Sonnenblenden waren nach unten geklappt und die grelle Nachmittagssonne machten es fast unmöglich irgendetwas im Auto auszumachen.
Ashley blieb stehen und sah in den Van. Der Fahrer schien mit ihr zu reden. Sie sagte etwas und ging näher heran. In diesem Moment öffnete sich die Beifahrertür, und als sie sich in den Wagen hineinlehnte, verschwand sie plötzlich darin. Sie konnten nicht deutlich erkennen, ob Ashley freiwillig in den Wagen gestiegen war oder hineingezogen wurde. Wenige Augenblicke später reihte sich der Van in den Verkehr ein. Langsam, unauffällig. Nichts an seinem Verhalten war außergewöhnlich.
Sie sahen sich die Szene noch einmal in normaler Geschwindigkeit an, dann ein drittes Mal in Zeitlupe. Schließlich machte Ray ein ratloses Gesicht.
„Ich weiß nicht, ich kann es immer noch nicht richtig sehen. Fest steht nur, dass sie in diesem Van weggefahren ist, ob freiwillig oder nicht.“
Keri konnte nicht widersprechen. Die Aufnahme war leider ziemlich unschlüssig. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste nur nicht, was es war. Sie spulte noch einmal an die Stelle, an der der Van am besten zu sehen war. Dann pausierte sie das Bild. Der Van war jetzt komplett im Schatten, und auch wenn man immer noch nicht in den Van blicken konnte, war jetzt doch etwas anderes zu sehen.
„Siehst du das?“, fragt sie.
Ray nickte.
„Das Nummernschild ist abmontiert“, sagt er. „Das fällt auf jeden Fall in die Kategorie ‚verdächtig‘.“
In diesem Moment klingelte Keris Handy. Es war Mia Penn. Ohne auch nur Hallo zu sagen, redete sie los.
„Ashleys Freundin Thelma hat mich gerade angerufen. Sie sagt, dass sie gerade einen Anruf von Ashley bekommen hat, aber es war niemand dran. Sie hat nur Geschrei und Musik im Hintergrund gehört. Sie konnte nicht genau verstehen, was gesagt wurde, aber sie glaubt die Stimme von Denton Rivers erkannt zu haben.“
„Ashleys Freund?“
„Ja. Ich habe ihn sofort angerufen und gefragt, ob Ashley sich bei ihm gemeldet hat, ohne Thelmas Geschichte zu erwähnen. Er will nichts von ihr gehört oder gesehen haben, aber er klang irgendwie nervös. Dieser Drake-Song Summer Sixteen lief gerade im Hintergrund. Also habe ich Thelma angerufen und gefragt, ob das der Song war, den sie gehört hat. Als sie das bestätigt hat, habe ich sofort bei Ihnen angerufen, Detective. Denton Rivers hat das Handy und ich vermute, dass er auch mein kleines Mädchen hat.“
„Okay Mia, gut gemacht! Und danke, dass Sie mich gleich informiert haben. Sie müssen jetzt ganz ruhig bleiben. Sobald wir aufgelegt haben, schicken Sie mir bitte Dentons Adresse. Und denken Sie daran, es könnte eine ganz harmlose Erklärung geben.“
Sie legte auf und sah Ray an. Sei Blick ließ vermuten, dass sie jetzt das gleiche dachten. Kurz darauf vibrierte ihr Handy. Es war die Nachricht mit Denton Rivers Adresse und Keri schickte sie direkt an Ray weiter.
„Los jetzt, wir sollten uns beeilen“, sagte sie und rannte zu ihrem Auto. „Das hier ist absolut nicht harmlos!“
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