Wadjas Lebensgeschichte war so ausgedacht wie wahr. Er hatte sich derart tief in seine Fantasiegespinste hineingelebt, dass ihm schon vor langer Zeit jegliche Grenzen des Faktischen abhandengekommen waren. Wenn ein irritierter Gesprächspartner eine Unstimmigkeit bemerkte, reagierte er mit arglosem Wahrheitsglauben:
»Wer soll das jetzt noch wissen. So ist das eben manchmal.«
Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen. Sie hegen und pflegen die eigene Geschichte, wie Menschen von jeher sakrale Texte bewahrt und nachgeschliffen haben. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist der Zauberrubel, mit dem sie sich gemeinhin einen Platz unter ihresgleichen erkaufen – die Ration Tabak, Alkohol, Essen, Wärme. Je dichter, unerwarteter und reicher diese Flunkerei verwoben ist, je mehr Schnörkel und Komponenten die Hieroglyphe hat, desto mehr bekommt man. Die Stummen, die nicht gut erzählen können, nicht amüsieren, aufwühlen oder Interesse wecken, werden von den anderen »Klotz« genannt.
Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die nie Zeitung gelesen und nie ferngesehen haben, echtes Wissen über die Welt besitzen. Doch der Mythos, den sie mit ihren Verirrungen nähren, ist einzigartig. Folgt man den bald skurril märchenhaften, bald schlicht unglaublichen Peripetien, kann man eine verblüffende Wahrheit über die Welt ans Licht bringen[18]. Zwar wird sie – wie alle anderen Wahrheiten – eine barbarische Projektion der nichtexistenten höchsten Wahrheit sein (sein Schatten entstellt einen Gegenstand oft bis zur Unkenntlichkeit), doch ist es nahezu unmöglich, sie zu ignorieren, anders als die allgemein anerkannte Projektion, die an eine Lüge grenzt, als eine nicht von innen heraus entwickelte, sondern von außen aufgezwungene Kategorie.
Wo zum Beispiel konnte man sonst so was zu hören bekommen, was Wadja ganz beiläufig einem neuen Bekannten erzählte. Dass in Gagra ein alter Mann, so ein gruseliger Typ – seine Hände sahen aus, als wären es nicht seine, schwarz wie Kohlen, gangränös, aber vollkommen biegsam, tödlich konnte er damit zupacken, mit zwei Fingern einem die Gurgel rausreißen – dass dieser Alte also, wohl ein Grieche, wer will das heute noch wissen, erzählt hätte, das Muttermal auf Gorbatschows Stirn wäre so lange gewachsen, bis es wie Russland aussah. Wenn man nämlich mal auf den Globus schauen würde, würden Maße und Form übereinstimmen, eins zu eins. Nur, als der Fleck ausgewachsen war, wäre es mit seiner Macht vorbei gewesen. Und wer ihm jetzt die Haut vom Schädel abziehen würde, der würde Russland in seine Gewalt bringen.
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:
»Viele wollten diesem Griechen, diesem Alten, die Hand küssen. Hab ich selbst gesehen. Er hat aber nicht alle gelassen, nicht alle waren seiner würdig. Doch wenn du sie ehrerbietig geküsst hast, dann wird nie im Leben etwas an dir verfaulen, als wärst du verzaubert.« Wadja machte den Mund auf und klackte mit dem Fingernagel gegen seinen abgebrochenen Schneidezahn.
»Hast du sie denn geküsst?«
»Nee. Wurde nichts draus. Der Alte hat mich nicht gelassen. Na ja«, seufzte Wadja.
Stumm, wie sie war, wäre Nadja allein auf sich gestellt zum Dahinvegetieren und schnellen Tod verdammt gewesen. Aber Wadjas Redseligkeit reichte locker für zwei.
Seine Geschichte entsprang zwei Flussarmen: einem hauptstädtischen und einem südrussischen, vorbei an Bergen und Steppe. Den ersten Arm entlang floss Wadja, eingestimmt auf den jeweiligen Gesprächspartner, in voller Fahrt einer ungewissen Mündung entgegen: Ob nun als Sohn des Wärters im Neujungfrauenkloster zur Welt gekommen oder aber von dem dortigen Diakon als Waise aufgenommen – seine Mutter war jedenfalls verstorben. Er hatte eine zwanglose Kindheit gehabt, herrlich waren die Weite des Flusses, das Angeln und die Floßfahrten, die Eidechsen auf den warmen Steinen am Friedhof, die Nachtigallen im Flieder und in den Linden am Teich, die Laubhütten auf den Sperlingsbergen oder unter den Trägern der Metrobrücke am Andreas-Kloster; der Dämmerduft der Abende, das scheinheilig heruntergeleierte Gehaspel des Diakons während der Salbung bei der Taufe, das rote Gesicht des Popen, der alle ohne Ausnahme am Schlafittchen auf den rechten Weg zog, vom Milizionär bis zum Restaurator. Bald saß er zum ersten Mal ein: Er ging schon auf die Berufsfachschule für Autokranführer (der mennigrote Schriftzug IWANOVEZ auf dem dicken gelben Kranausleger, ein Gewirr von Hebeln im Fahrerhäuschen, welchen sollte man da nehmen?!). In der Nähe des Klosters lungerten immer Devisenschieber und Ikonendealer herum – die zahllosen ausländischen Touristengruppen (braungebrannte, johlende Hutzelmännchen, klapperdürre Omas mit lilafarbenen Pusteblumen über Ästuarien aus runzligem Lächeln) lockten die einen wie die anderen hierher. Sie köderten ihn, fragten: Wovon träumst du? Und stellten ein Motorrad in Aussicht. Wadja fackelte nicht lang und schleppte Ikonen raus. Der Diakon (oder Wärter) versuchte nicht, den Stiefsohn herauszuhauen, und ließ ihn gehen mit Gott. Er bekam fünf Jahre, war zahm, nach dreien wieder frei und lebte dann jenseits der Hundertkilometergrenze: in der Ortschaft Peski bei Woskresensk, Hilfsarbeiter in einer Zementmühle, Zerleger auf der städtischen Mülldeponie, einmal hätten ihn fast die Ratten zerfetzt, er harrte auf einem Bulldozer aus, Lagerprüfer in einem Stahlbetonwerk, überall wurde er entlassen, zog von Wohnheim zu Wohnheim, wurde auch von dort verjagt. So ging es dahin. Im Winter Gelegenheitsjobs als Maurer: Schweineställe, Kuhställe, Zäune. Im Sommer in südlichen Gefilden: In Gagra fügte er sich ins Tagelöhnern. Satt wurde man: Chasch, Lawasch und Tschatscha*, Körbe voller Weintrauben, das Hochland, die Sonne, das Meer (das er fürchtete wie eine Axt). Die Pässe nahm man ihnen ab, Arbeit gab es gegen Futter, Schlafen in der Scheune, nachts ließen sie die Hunde los: kein Weglaufen, kein Rauskommen. Zum Ende der Saison wurden sie – drei junge Tagelöhner – einmal zu Tisch gebeten, die Banja war schon eingeheizt. Der Hausherr trank viel, sehr viel, und bot ihnen seine Frau an. Die bediente bei Tisch, schwarzes Kopftuch, dürr, nicht mehr ganz jung. Ihre Züge versteinerten, der Blick verschloss sich dem Unvorstellbaren, sie gab keinen Laut von sich. Als sie ausgetrunken hatten, lief Koljanytsch ihr verlegen hinterher – und der Hausherr folgte den beiden anderen in die Scheune. Mit Gewehr. Ließ seine Hosen runter und legte an. Schwankte, hob den Kopf vom Kolben, der Mund stand offen, darin wälzte sich mühselig die dicke Zunge. Nur knapp gelang die Flucht. Ein Glück, dass ihn die Hose fesselte, er schoss und traf nicht, zerfetzte das Scheunendach, die Tür flog aus den Angeln. Dann ab die Post, im Dunkeln, durch die Schluchten, weg von den Hunden, bei Tagesanbruch landeten sie am Meer und trampten weiter bis Noworossijsk. So verlor Wadja seinen Pass. Dazu noch die Wirren der Perestroika, Flüchtlinge aus allen Ecken des Landes*. Sich neue Papiere zu besorgen, kam ihm nicht mal in den Sinn. Nur wenn ihm jemand an den Kragen wollte[19], war er fähig, etwas zu unternehmen und sich Gedanken zu machen. Und auch dann keine allzu großen.
Wie ein Köter, der, in Ungnade gefallen, vom Hof gejagt, wieder vor der heimischen Pforte aufschlägt, trieb es Wadja zurück in den Park vor dem Neujungfrauenkloster. Der Diakon (oder Wärter) war gestorben, seine Frau, Tante Olja, hatte schon das Zeitliche gesegnet, als Wadja noch hier lebte (»Gott hab sie selig!«, unterbrach Wadja feierlich seine Geschichte und bekreuzigte sich langsam und ausladend); ein neuer Pope war da, das Museumspersonal hatte gewechselt, größtenteils gebildete Leute, die mit Aktenmappen unterm Arm geschäftig auf den Wegen hin- und herliefen; Scharen von Nonnen werkelten jetzt überall herum, und die Touristen hatten an Zahl und Lautstärke zugelegt. Einige von ihnen kamen in den Genuss, in Wadjas runden, innigen Redestrom einzutauchen. Doch nicht alle hörten ihm bis zum Schluss zu, sobald ihnen klar wurde, dass er log, dass die Geschichte niemals enden würde.
Nun bettelt Wadja schon seit einem Jahr, länger sogar, mit zwei oder drei Kumpels zaghaft die Ausländer an, steht vor der sonntäglichen Frühmesse und an Feiertagen mit seiner Mütze am Tor, in einigem Abstand zu den doppelstöckigen Reisebussen. Auf das Klostergelände lässt man ihn nicht. Das hat der Leiter des neuen Klosterwachschutzes angeordnet. Das einzige Geschöpf, das sich hier noch an ihn als kleinen Jungen erinnert, ist Baba Warja, die Frau des verstorbenen Heizers, Onkel Serjosha. Sie hat Wadja nicht vergessen, nahm sich seiner etwa ein halbes Jahr an, mal brachte sie ihm Piroggen, mal Zwieback, mal ein Stück vom Osterkuchen, mal ein Einmachglas mit Suppe. Das Glas sammelte sie immer wieder ein, einmal zerschlugen sie es, die Sünde ward ihnen nicht verziehen. Dann wurde sie krank, und ihr Sohn holte sie zu sich nach Woronesh, ins Kernkraftwerk, wo er als Techniker arbeitete. So hat es Wadja auch Nadja und den Kumpels erzählt: Baba Warja sei in die Atomfabrik gefahren und lebe jetzt dort. Genau da, in der Atomfabrik, da fänden solche Menschen Platz, das wäre ja wohl das Mindeste.
Seine Pennerkollegen halten ihn für kirchlich gebildet, schon allein deshalb, weil er hinter den Klostermauern zur Welt gekommen ist. Alles, was auch nur entfernt mit dem Gegenstand der Religiosität zu tun hat, betrachten Obdachlose als heilig.
So vergehen ein Jahr, zwei Jahre – es ist Spätherbst, früh am Morgen, gegen acht Uhr. Ein Nebelschleier hängt über dem Kloster, über der zinnengesäumten Mauer erhebt sich das weiße Sonnenzelt. Ohrenbetäubend zanken sich die Spatzen. Die Menschen hasten durch den Park zur Metro.
Wadja hat sich auf die Bank gesetzt zu einem Jugendlichen, der auf jemanden wartet und ein Buch liest. Nach einiger Zeit hört der Jugendliche auf zu lesen. Er lauscht Wadja.
Auf der Nachbarbank hat sich ein Mann aus seinem Dämmerzustand hochgerappelt, ist zu ihnen herübergewankt und hat sich dazugesetzt, klein, schwach, aufgedunsen. Er streckt die dreckige Hand aus und hält sie auf. Wartet. Nickt, will etwas sagen. Die Hand zittert. Er lässt sie sinken, legt sie auf den Oberschenkel – den Unterarm ausgestreckt zu halten, dazu fehlt ihm die Kraft.
»Bruder«, sagt er zu dem Jungen, »meine Mutter ist gestorben. Hab kein Geld für die Beerdigung.«
Eine Träne läuft ihm über die schmutzige Wange und hinterlässt einen kleinen schmutzigen Fleck.
Der Junge kramt erschrocken ein paar Münzen aus der Tasche, zögert und gibt noch zwei Scheine aus dem Portemonnaie dazu.
Der Mann schläft mit dem Geld in der Hand ein. Seine Finger erschlaffen. Die Münzen klirren. Der Junge schielt hinüber, hebt sie aber nicht auf.
»Tja«, erläutert Wadja, »das ist Koljanytsch. Seine Mutter ist gestorben.«
»Moment mal.« Der junge Mann stutzt. »Was sitzt er dann hier? Wie kann das sein?«
Wadja zuckt mit den Schultern[20].
»Wir saufen seit fünf Tagen. Der kommt gar nicht zu sich.«
»Moment mal. Ist das derselbe Koljanytsch, dem die Frau den Kopf abgesäbelt hat?«
Wadja lächelt erst zufrieden, dann lässt das Lächeln nach, sein Gesicht wird strenger.
»Ganz genau. Eben der. Hier hat er die Narbe.« Wadja fährt sich mit der Handkante quer über den Kehlkopf.
Der junge Mann steht auf und mustert Koljanytsch. Der döst, sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Unter seinem Kinn schaut tatsächlich, gleich einer dicken Kordel, eine scheußliche blaurote Narbe hervor. Der junge Mann setzt sich wieder hin, steckt sich hastig eine Zigarette an und hält Wadja das Päckchen hin.
Von zwei Bänken, die auf die Wiese gerückt und deren Sitzflächen zusammengeschoben sind, erhebt sich eine Frau im Wolltuch von ihren Plastiktüten. Sie blickt sich blinzelnd um.
Wadja nimmt ein paar kleine Schlucke, versteckt seine Flasche unter der Jacke, zieht eine Zigarette aus dem Päckchen und beschmutzt dabei mit den Fingern die knochenmarkweißen Filter daneben. Der Junge steckt sein Buch in den Rucksack. Er wartet auf seine Freunde, die in der Nähe wohnen. Sie wollen heute weit raus ins Moskauer Umland, Pilze sammeln und im Wald schlafen.
»Warum trinkt ihr denn die ganze Zeit? Vielleicht solltet ihr das besser lassen?«, fragt er Wadja, allen Mut zusammennehmend.
Die Frau hinter der Bank spuckt sich auf den Handrücken, reibt sich die Augen. Greift nach einer Plastikflasche. Gießt sich etwas auf die Hand, reibt noch mal.
»Letzten Frühling, mein Freundchen, April war’s, da ist hier was passiert. Ich erzähl ganz ehrlich, wie’s war.«
Wadja holt einen Kamm raus, drückt sich mit einer Hand die Haare platt, kämmt sich, steckt ihn wieder ein, schaut sich um, nickt dem Jungen zu, holt tief Luft und fängt an zu erzählen.
»Wir haben damals ganz schön gesoffen. Ich, Pantja und Berkino, ein irrer Typ, der zu der Zeit wohl gerade gut bei Kasse war. Na, wir trinken also ungefähr den fünften Tag. Ich schau so vor mich hin – sitze hier so wie mit dir jetzt … Ja. Auch Koljanytsch saß dabei. Bloß, dass er damals geschlafen hat.«
(Er haut Koljanytsch in den Nacken. Koljanytsch hebt ruckartig seinen abwesenden Blick auf den Studenten. Brummt, nickt. Steckt das Geld unters Hemd, die restlichen Münzen rutschen ihm direkt wieder unten aus dem Hemd raus vor die Füße.)
»Es war Abend, die Glocken hatten schon geläutet, Leute gehen und gehen, fast alle sind schon weg. Und ich schau nur so – da senkt sich von dort, von da oben ein schwaches Licht herab … Die Muttergottes. Sie steht vor mir. Ich bin glatt erstarrt. Ganz weiß ist sie. Ich kann mich nicht rühren. Arme und Beine gelähmt. In der Brust ein Brennen. Ganz streng redet sie mit mir. Ist ja nun mal die Muttergottes … ›Jesus Christus schickt mich. Er will dich ermahnen: Wenn du nicht aufhörst zu trinken, wirst du im Februar sterben. Kapiert?‹«
An dieser Stelle runzelt Wadja die Stirn, kleine Tränen kullern ihm aus den Augen, er winkt ab, verzieht das Gesicht. Dann reißt er die Augen auf und wischt sich mit der Faust über die Wangen.
»Da hab ich bitterlich geweint, völlig kraftlos war ich, im Herzen schwach … Hab eine Weile geweint, mich dann vor sie hingekniet und gesagt: ›Vergib mir, Muttergottes‹.«
Wadja sinkt auf ein Knie und bekreuzigt sich.
»Vergib meiner sündigen Seele, nur richte doch Jesus bitte aus … Ich werde bestimmt nicht mit dem Trinken aufhören. Das ist mir ganz und gar unmöglich. Richte ihm das bitte aus, sei so gut.«
Der junge Mann sitzt mit offenem Mund da. Die Freunde stehen jetzt auf der anderen Straßenseite und warten auf Grün. Ein Auto nach dem anderen fährt um die Ecke. Der Junge ist völlig in die Geschichte versunken.
»Und dann ist sie verschwunden?«
»Auf und davon. Zum Teich ist sie gelaufen, nehm ich mal an, zum Ufer runter. Meine Beine waren wie gelähmt. So saß ich dann da, bis es dunkel war, bis Nadjucha mich fortgezerrt hat.«
»Was heißt, sie ist gelaufen? Ist sie nicht … aufgefahren?« Der Junge wiegt skeptisch den Kopf.
»Gelaufen ist sie, gelaufen … die Himmlische …« Wadja winkt ab und reibt sich das Auge trocken.
Der junge Mann zählt sorgfältig im Stillen die Monate durch und murmelt:
»Dezember …«
Seine Freunde rufen. Er greift sich den Rucksack und stürzt davon.
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