Читать книгу «Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Александра Иличевского — MyBook.

R. W. S. N.* – Revolution, wir schlafen nie

XXXVI

»Redste jetzt oder nicht?«

»Ja.«

»Schubs doch nicht, hör auf.«

»Du lieber, lieber Keerl …«

»Ich hau dich, Nadja!«

»Hör auf, du bist doch lieb.«

»Wie kommste denn drauf, dass ich lieb bin, Dummerle? Wie heißen se noch … die Tannen da bei dir? Zypressen?«

»Ja. Meer. Zypressen. Ein Flugzeug stand auf der Straße. Uuuuhhhh.«

»Nun hör doch auf zu schubsen. Was hampelste so rum?«

»Laaasss miiich. Wann schenkste mir Glasperlchen?«

»Was willste mit Glasperlchen? Verstreust doch alles, verliersts.«

»Nee, ich werd was mit nähen. Und schenk mir doch Knöpfe.«

»Jetzt lieg doch endlich still, du …«

»Ich werd damit nähen. Ich kauf ein Kissen und näh sie drauf …«

»Von wegen nähen. Ich werd dir was husten, mit deinen Kissen. Red endlich! Erzähl schon!«

»Das Meer … Am Ufer läufste lang, weit und breit …«

»Gleich setzts was, dumme Gans!«

»Am Ufer läufste lang, das Meer singt, Fische liegen da. Riiieesenfische. Sooolche Haauufen! Stiinken wie die Pessst. So Fische habt ihr gar nicht.«

»Nu erzähl schon. Was biste so geknickt?«

»Wie, geknickt? Was meinste, Waadeeenka?«

»Was heulste denn? Flennst rum, na? Warum denn? … Siehste, flennst doch schon wieder! Ist doch alles kein Problem – eins, zwei sind Knöpfe gekauft. Glasperlchen, na die muss man wohl suchen. Aber Knöpfe – hier haste. Komm schon, Dummchen …«

»Wadja, du Lieber, warum? …«

XXXVII

Wadja machte ein Auge auf und kniff es wieder zu. Ein Lichtstrahl schlich an seiner Schläfe entlang und streifte die Wimpern. Im Halbkreis des staubigen, in Sonnenspalten zergliederten Fensters erhob sich der Morgen. Das Fenster ähnelte einem Schaufelrad, das sich mit seinen Platten raschelnd durchs Laub wühlte, und wurde eins mit dem Halbschlaf, tauchte über dem Hauseingang auf, kam über dem Hof, über der Grünanlage ins Rollen und kehrte dann langsam zurück.

Nadja räkelte sich im Schlaf, brabbelte etwas, heftig und aufgebracht, war dann wieder still.

Ohne seine Körperhaltung zu ändern, tastete er nach den Zigaretten. Der Rauch wallte auf, lockte sich, rankte in die Höhe und legte sich als Gaze über die Luke zum Treppenhaus.

Die Asche fiel auf Nadjas Schuh und kullerte unter den Schnürsenkel. Er befeuchtete den Finger, berührte sie, nahm sie auf.

Er blickte Nadja immer an, wenn sie schlief. Wenn sie wach war, wollte er sie nicht so anschauen.

Jetzt versank er in Gedanken: Warum sind Tote schöner als Lebende? Weshalb sind ihre Gesichter, wenn sie nicht mehr durch das Mienenspiel von Wünschen, Ängsten, Freude, Gleichgültigkeit oder Zorn verzerrt sind, so viel klüger, bedeutender, schöner, dass man sie zuweilen gar nicht wiedererkennt? Liegt im Tod etwa die Wahrheit?

Nein, er wusste ganz sicher: Das Leben war wenigstens etwas, jedenfalls mehr als das Loch in einem Gebäckkringel.

Vielleicht verschwinden wichtige Säfte aus Wangen, Muskeln, Stirn und Kinn? Oder wie das Meer bei Windstille besser als bei Seegang, so spiegelt das tote Gesicht den inneren Himmel besser wider?

Wadja kniff die Augen zu, zwang sich dann aber, sie wieder zu öffnen. Er konnte sich Nadja nicht tot vorstellen. Statt ihrer lag vor seinen Augen kein Dummchen, sondern eine fremde Schönheit.

Er schaute aus dem Fenster. Versuchte weiter nachzudenken.

Blöd, dass er sie beschimpft. Blöd, dass er sie anschreit. Und völlig sinnlos, dass er sich deswegen Vorwürfe macht. Dadurch schreit er sie nur noch mehr an.

Wadja hatte keinen Vergleich, doch ihm schien, dass das Nachdenken bei ihm ganz gut klappte. Er glaubte, das lag nicht nur an seinem Kopf, sondern auch an der Geschicklichkeit seines ganzen eher kleinen Körpers und der großen Hände, die er wie versuchsweise an die Stirn hob und zur Schläfe führte. Es war schwer auszudrücken – bemüht, noch ein bisschen weiterzudenken, bewegte er versuchsweise die Lippen, als würde er mithelfen, einen daran festklebenden, schwerelosen Fussel auf die Zunge zu saugen. Das Denken begann für ihn immer mit etwas, das gerade zur Hand war, und entwickelte sich über den Zusammenklang des Körpervolumens mit seiner direkten Umgebung, über eine gewisse Reichweitenstrahlung, die dem Körper erlaubte, sich auf Gebiete auszudehnen, die derart entfernt waren, dass dort, am Rand, Rückströmungen der Zeit erfasst wurden. Wadja war der Meinung, dass sich Raum und Zeit nur hier – um Arme, Augen, Beine herum – aneinander rieben. Weiter davon entfernt drückten sie sich vor ihrem Joch, schlugen Kapriolen, die mal in die Kindheit, mal zu den Toten führen konnten.

Den Morgen widmete Wadja stets dem Raumzuwachs. Das Denken, das sich wie eine funkelnde, fließende Blase bewegte, betrachtete er mit Ehrfurcht, als auserlesenes Vergnügen. So nannte er das Denken insgeheim auch: Traum.

Ihm gefiel das Wort an sich, doch sein landläufiger Wesenskern war schwer zu greifen. In seiner Kindheit hatte er oft den Film über einen Motorradrennfahrer gesehen, der auf Silbertraum an den Start ging. Dieses Motorrad raste dann durch eine Kristallkugel und blähte sie durch das wüste Kreiseln auf wie der orkanartige Atem eines Glasbläsers.

Er wunderte sich, wie wenig das, was er dachte, den Worten ähnelte, mit denen er es Nadja hätte wiedergeben können. Die Welt des Denkens stellte sich ihm insgesamt als jenseitig dar, als etwas, das der Wahrheit näherkam, und deswegen ging er sparsam damit um, verpulverte es nicht durch groben Gebrauch.

Zunächst stellte er sich vor, was sie an diesem Tag tun würden. Oder er erinnerte sich an seine Kindheit. Oder er dachte darüber nach, wie unfähig Nadja doch war, wie man ihr etwas beibringen, wie man sie lenken könnte.

Nach dem Sieg beim Motorradrennen war der Fahrer tödlich verunglückt.

Jetzt wollte er pinkeln. Aber er wusste, dass er sich das verdrücken musste, denn wenn er es sich nicht verdrückte, würde er zweimal rennen müssen. Er atmete ein. Und aus. Und zündete sich noch eine Zigarette an.

Er hatte den Eindruck, dass er gleich etwas noch Angenehmeres denken würde, und versuchte, nicht alles auf einmal zu denken, sondern mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht zu schauen. Die Sonne erfüllte die Wimpern, breitete sich zu einem Strahlenring aus. Er blinzelte.

Ja, heute würden sie wieder nach Glasstücken suchen gehen. Klasse!

Vor zwei Tagen hatten sie endlich entdeckt, wovon Wadja immer geträumt hatte: einen Schatz.

Wadja tastete in der Hosentasche nach dem Flakon, rieb ihn am Ärmel. Stellte ihn vor sich hin und konnte sich nicht sattsehen. Das derbe, jodfarben schillernde Glas leuchtete auf. Trübes Licht erfüllte das Fläschchen und zerstreute den Lichtkranz, der sich um den Zigarettenqualm gelegt hatte. Die Flakons aus dem Schatz waren bunt – weiß, blau, grün, braun, mit abgenutzten Korken, mit Wappensiegeln, Bildern oder Aufschriften wie APOTHEKE, PHARMACIE. Wahre Kostbarkeiten.

Von klein auf hatte Wadja einen Schatz finden wollen, er sah ihn als Teil eines jenseitigen, verborgenen Lebens. Ums Reichwerden ging es ihm dabei nicht. Wadja hielt die zugängliche Welt für eine Hochburg der Unwahrheit. Er war überzeugt, dass die Wahrheit weit, weit weg war, dass sie wie der Hund begraben lag. Er brauchte weniger den Schatz als vielmehr das helle Bemühen, mit dem er ihn suchte: Wenn er sich auf eine Bank stellte und auf die Vordächer der Hauseingänge schaute, wenn er sich unter Bänke beugte, im Trolleybus automatisch die Hand unter den Sitz führte. Er suchte nichts Wertvolles, sondern schwer Zugängliches, dem allgemeinen Blick Verstelltes, gar Weggeworfenes: Ihn interessierte eine Puderdose, die geborsten und bis aufs blecherne Rund ausgewischt war, oder eine Kinderuhr, die er im Sandkasten auf dem Boulevard aufgelesen hatte – all das betrachtete er lange und stellte sich genau vor, wie der Besitzer des Fundstücks sich freuen würde, darüber, dass ein Teil der Wahrheit zu ihm zurückkehrte. Und legte es dann zur Seite.

Wadja kannte sich mit Müllschätzen aus, im Gegensatz zu Nadja. Sie konnte nicht suchen, hatte kein Interesse an Sachen. Er brummte vergnügt, wenn er etwas Wertvolles fand – noch eine Art, seine zornige Liebe zu stillen …

Vor einem Monat hatte Wadja einen Geistesblitz gehabt[52]. Ihm war klar geworden, dass man Schätze dort suchen muss, wo Erdarbeiten laufen, wo ein Rammbock ächzt, wo ein Presslufthammer kracht, ein Bagger den Bürgersteig schändet, Brecheisen und Schaufel auffliegen, wo ein Kompressor rattert – und Füße sich unsicher über Holzplanken bewegen, über Eisenplatten donnern, ins Rutschen kommen, die Fallmeter erahnen.

Wadja erinnerte sich nebenbei, wie ein Kumpel mal aus dem Graben einer Fernwärmeleitung das Kopfteil eines Bettes herausgefischt hatte; als er das Krönchen von dem Bettpfosten abdrehte, hatte er einen Stapel Silberrubel entdeckt. Und er erinnerte sich an diesen Landstreicher aus dem Dorf Pjatikresty am Fluss Semislawka, nicht weit von Moskau, der sein Haus bei einem Brand verloren hatte. Der Alte hatte erzählt, dass sein Dorf unter Emir Mamai Berühmtheit erlangt hatte, durch sieben Heldentaten von fünf Recken, die einer nach dem anderen auf dem Dorffriedhof die letzte Ruhe gefunden hatten. Dieser Alte hatte erzählt: Als Wasserleute ein Rohr durch seinen Gemüsegarten legten, da hätten sie ein Panzerhemd, einen Helm und einen Unterkiefer ans Tageslicht befördert, und man hätte die Archäologen geholt. Nun fuhr der Alte immer mal in sein Dorf, machte aber um seinen Garten einen Bogen – saß entweder am Fluss oder im Wald auf einer Anhöhe, hatte richtig Angst, sich seiner Heimstätte zu nähern, und hatte sich dort irgendwo eine Erdhütte ausgehoben. Und irgendwann war er verschwunden.

Viele Male hatte Wadja Nadja die Geschichte von den Silberrubeln erzählt, weitergesponnen, ihr gezeigt, wie sich das Krönchen nicht abdrehen ließ, wie der Kollege es klopfte, presste, schmierte, in Petroleum einweichte, im Lagerfeuer zum Glühen brachte, dann schüttelte, hämmerte, schlug und die festgerosteten Münzen hervorholte. Und während er ihr das beschrieb, liefen sie die Boulevards entlang, durch verwilderte Klosteranlagen, Lager, Keller, durch die Altbauten in den kleinen Straßen um die Petrowka, im Derbenjowka- Viertel inspizierte er verwaiste Baracken, auf der Leninskaja Sloboda flohen sie vor der Eisenbahnmiliz. Sie zogen umher auf der Suche nach Stellen, an denen unterirdische Parkhäuser, Unterführungen, Straßentunnel gebaut, Rohre verlegt, Fundamente freigeschaufelt wurden. Hatten sie einen solchen Ort gefunden, warteten sie, bis gegen drei Uhr morgens die Nachtschicht zu Ende war.

Nadja gefiel an der Schatzsuche, dass sie draußen übernachteten. Draußen brüllte sie niemand an, draußen war es interessanter. Wadja ließ sie Schmiere stehen, er selbst kletterte über die Stahlpalisade, die aus der Betonschalung emporragte, stieg umständlich in die Baugrube hinunter, über Vorsprünge und Metallleitern, hielt sich an Kabeln fest, die in gewundenen Bündeln aus den Kompressoren quollen.

Blicklos sah sich Nadja nach allen Seiten um, wie ihr Wadja aufgetragen hatte, doch dann vergaß sie es und schaute mit offenem Mund zu, wie er auf dem Grund der Abraumhalde mit einem Brett Erdklumpen zerhaute, hier und dort herumstocherte. Dann wurde sie von einer laufenden Pumpe abgelenkt, die schepperte und schmatzte und durch einen zerlöcherten, prustenden Riffelschlauch lehmiges Wasser aus der klaffenden Grube schlürfte.

Gestern schließlich hatten sie in einem Seitensträßchen des Pokrowski-Boulevard einen frischen Erdhügel entdeckt, heiß ersehnt wie ein Getreidehaufen: Hier wurde eine Grünanlage aufgegraben, weil eine Tiefgarage gebaut werden sollte. Über den Hügel kletterte schon ein Sammler mit Stirnlampe und Schüssel. Hob mit einer Pionierschaufel Erde an, drückte, schüttete, rieb sie durch ein Sieb; Interessantes legte er auf eine Zeitung, Steinchen schleuderte er zur Seite. Von Zeit zu Zeit griff er zum Metalldetektor, klemmte einen Kopfhörer zwischen Schulter und Ohr, führte das Gerät auf dem Hang hin und her und verzog, wenn es summte, das Gesicht.

Wadja ließ er nicht auf den Hügel.

Gab ihm wortlos einen heftigen Schubs. Wadja flog runter, und als er sich von der anderen Seite nähern wollte, kam der Mann angeschossen und stieß ihn wieder runter, machte einen Satz und stand schwer atmend, mit den Armen fuchtelnd neben ihm, fasste ihn aber nicht an.

Wadja stand stur ein wenig abseits. Nadja ging zu ihm.

Morgen würde die Erde abtransportiert. Geschickt zerlegte der Mann die Halde. Wortlos. Schnaubte und spuckte vor Eifer.

Wadja konnte stehen wie ein Fels. So bat er auch um milde Gaben: reglos. Er bettelte nie, sondern kniete sich vor eine Mauer, legte seine Mütze hin, wagte nicht, den Blick zu heben. Nickte nur, wenn jemand etwas gab. Seine großen Hände hingen herab, als gehörten sie nicht zu seinem Körper, er zog sie zu sich heran und legte sie sorgfältig auf den Knien zusammen wie Krebsscheren. Nadja lief währenddessen mit einer Plastiktüte herum, deren Rand sie wie einen Strumpf aufgekrempelt hatte. Sie bekam beim Betteln immer nur wenig. Einmal hatten sie ein ergiebiges Plätzchen aufgespürt – das Hotel Marriott auf der Twerskaja. Hier ließen Übernachtungsgäste, wenn sie von einem Spaziergang zurückkehrten, durchaus mal einen oder gar zehn Dollar springen. Man erzählte sogar von hundert Dollar, die Katjuscha, die Eule, eingeheimst hatte.

Mit starrem Blick kniete sich Wadja um die Ecke vor eine Mauer. Allerlei Volk trieb sich da herum in der Hoffnung auf Beute: Alte Weiblein rasselten mit Kleingeld in Plastiknäpfchen vor teuer bemäntelten Passanten herum, Soldaten tummelten sich an den Eisständen und schickten einen eifrigen Schnorrer los. Dieser lief einen Häuserblock zurück, spähte in der Menge einen Geldgeber aus, hängte sich an ihn heran, schloss im Gleichschritt zu ihm auf und bat in schmeichlerischem Ton um Geld. Der Ausländer begriff nicht, warum ein Soldat ihn so liebevoll ansprach, beschleunigte den Schritt, und vielleicht, nur um klarzustellen, dass er nichts mit dem Soldaten zu tun haben wollte, kramte er Kleingeld aus der Tasche und warf es in Wadjas Mütze. Der Soldat fiel dann aus dem Gleichschritt, machte kehrt, gab Wadja wortlos einen Tritt mit dem Stiefel und hinterließ auf Flanke, Bauch oder Schulter einen weiteren Fußabdruck.

Der Bolschoi Trjochswjatitelski Pereulok ragte empor wie ein Treppchen aus parkenden Autos, bergauf hin zum Boulevard, bergab und nach links zum Fluss, wo sich funkelnd zerzauste Laternennester entlangzogen, wo rote Bremsleuchten auf der Uferstraße dahinflossen und ein geflügeltes Riesenhochhaus* blau über der Weite des Flusses schimmerte, ähnlich einem in den Himmel auffliegenden Vogel. Die Fenster der Häuser verschwammen vor Nadjas Augen, zitterten wie gelbe Kaviarspiegel, in denen sie sich selbst zu erblicken bemühte, doch die ließen es nicht zu und verwandelten sich in grelle, dampfende Stücke Maisgrütze, schwammen satt dahin, zogen sie mit, aber sie sträubte sich, sie musste bei Wadja bleiben, wohin käme sie ohne ihn?