Keira schüttelte ihren Kopf. Sie wollte nicht an die Arbeit denken, die ihr noch immer im Nacken saß. Aber die Dinge waren mit Viatorum, dem Magazin, für welches sie schrieb, etwas angespannt geworden und das Ende für ihre Geschichte, nach dem sie verlangten, war nicht das gewesen, welches sie geliefert hatte. Sie war noch immer dabei, darüber zu verhandeln, wie viel Freiheit ihr in ihrer Arbeit zustand. Aber sie wusste auch, dass sie es vor sich herschob, um lieber jeden Moment zu genießen, anstatt sich über ihren Job Sorgen zu machen. Der Genuss würde zu einem abrupten Ende kommen, wenn sie nach New York City zurückkehrte.
„Ich hoffe, das nächste Mal fährst du an einen warmen Ort“, kommentierte Nils. „Du solltest die Bahamas verhandeln. Oder Neuseeland. Es ist ein wunderschöner Ort.“
Keira lächelte, als sie sich erinnerte, wie weitgereist Milos Vater war. Er war in der Tat das komplette Gegenteil seines Sohnes. Milo hatte ihr gestanden, dass er nur selten sein Heimatland verließ, weil er Flugangst hatte und außerdem unter schrecklichem Heimweh litt.
„Wir müssen anstoßen“, sagte Yolanta plötzlich und hielt ihre Kaffeetasse hoch. „Auf Weihnachten!“
Lachend hob Keira ihre eigene Tasse und stieß nacheinander mit allen Familienmitgliedern an und wünschte jedem von ihnen ebenfalls fröhliche Weihnachten.
Als sie die Familie um den Tisch herum anblickte, fühlte Keira einen Schwall der Liebe für sie alle. Sie hatte die Zeit, die sie mit ihnen verbrachte, wirklich geliebt und würde sie für immer in ihrem Herzen tragen. Man hatte ja nicht jeden Tag die Gelegenheit, eine solch warme, freundliche, liebevolle Familie zu treffen, die einen mit offenen Armen und offenem Herzen über die Weihnachtszeit empfing. Sie würde sie, nachdem sie Schweden verlassen hatte, ganz schmerzlich vermissen.
„Können wir jetzt die Geschenke öffnen?“, fragte Regina, sobald die Teller leer waren.
Nils kicherte: „Im Herzen ist sie noch immer eine Siebenjährige. Wenigstens schaffen wir es inzwischen, zuerst zu frühstücken. Damals mussten wir mit ihr verhandeln, dass sie uns etwas länger als bis fünf Uhr morgens schlafen ließ!“
Yolanta lachte: „Kommt, wir setzen uns um den Baum.“
Alle standen auf, ließen die Unordnung auf dem Frühstückstisch für später zurück und gingen ins Wohnzimmer.
„Ich kann es nicht erwarten, Keira ihr Geschenk zu geben“, sagte Yolanta, während sie zum Wohnzimmer gingen. „Es ist etwas ganz Besonderes.“
Es berührte Keira sehr, zu wissen, welchen Aufwand Milos Familie für sie betrieben hatte. Bevor sie zugestimmt hatte, noch über Weihnachten zu bleiben, hatten sie ihr bereits alle ihre Geschenke gegeben, um sie mit nach New York zu nehmen und sie war bereits damals von Dankbarkeit überwältigt gewesen. Aber dann hatte es sich so ergeben, dass sie noch blieb und die Geschenke hatten sich unter dem Weihnachtsbaum multipliziert, zu einer Menge, die Keira peinlich berührte. Sie fühlte sich nicht, als verdiene sie so viel Güte. Im Vergleich zu Weihnachten bei ihr zu Hause, fühlte sie sich extrem verwöhnt.
„Ich habe ebenfalls etwas ganz Besonderes für Keira“, sagte Milo.
Sie errötete. Sie murmelte ihm leise zu: „Du weißt, ich hatte keine Zeit, etwas zu besorgen.“
Milo lachte. „Das wissen wir. Es macht niemandem etwas aus. Wir verschenken nichts mit der Erwartung, dafür im Gegenzug auch etwas zu erhalten. Das würde den Zweck des Schenkens verfehlen.“
„Ich weiß“, sagte Keira, „aber ich fühle mich so schuldig. Alle sind so unglaublich zuvorkommend.“
„Mach dir nicht so viele Sorgen“, kicherte Milo. „Deine Anwesenheit ist uns Geschenk genug!“
Keira rollte wegen des kitschigen Spruchs mit ihren Augen, fühlte sich aber ein bisschen besser.
Sie betraten das Wohnzimmer und setzten sich alle hin. Nils setzte sich auf den Fußboden und machte sich bereit Geschenke auszuteilen. Er hob das erste Geschenk hoch. Es war in wunderschönem, silbern glänzendem Papier eingewickelt.
„Dieses hier ist für Keira“, sagte er, als er ein Kärtchen in Schneeflockenform vorlas. „Es ist von Yolanta.“
Er gab es zunächst Yolanta, die es dann an Keira weiterreichte, offensichtlich einem Familienritual folgend. Keira nahm die große rechteckige Box entgegen und fühlte noch immer ein wenig Restschuld, darüber, dass sie nichts im Gegenzug geben konnte.
Um das wunderschöne Papier nicht zu zerreißen, bemühte sich Keira sorgfältig, das Klebeband zu entfernen als sie ihr Geschenk auspackte. Die Kiste, die nun zum Vorschein kam, war weiß und hatte einen schwedischen Markennamen aufgedruckt, den Keira nicht lesen konnte. Aber der Rest der Familie machte ein Geräusch, was darauf schließen ließ, dass sie alle genau wussten, was sich darin befand.
Keira hob den Deckel und faltete das weiße Füllpapier zurück. Zu ihrem Schock und ihrer Freude befand sich darin ein kompletter Schneeanzug. Bis jetzt hatte sie sich einen Ersatzanzug von Yolanta ausgeliehen, der ihr viel zu groß gewesen war, und außerdem leuchtend rot. Dieser hier war dunkel, elegant geschnitten und die richtige Größe.
„Wundervoll“, sagte Keira. „Der sieht so bequem aus. Ich werde ihn so viel tragen.“
Aber sie fühlte, wie sich ihre Brust zusammenzog, als sie sich daran erinnerte, dass sie es vielleicht nicht tun würde. Ihre Tage in Schweden waren fast vorbei.
„Für deinen nächsten Besuch“, beruhigte Yolanta sie, als hätte sie intuitiv die leichte Veränderung in Keiras Stimmung bemerkt.
„Vielen Dank“, sagte Keira mit tiefer Dankbarkeit.
Nils zog ein weiteres Geschenk unter dem Baum hervor, welches, via Regina, an Milo gereicht wurde, der es öffnete und eine neue Uhr herauszog.
„Danke, Schwesterherz“, sagte er und bewunderte die Uhr an seinem Arm.
„Das nächste Geschenk“, sagte Nils von seinem Platz am Fußboden umgeben von Tannennadeln, „ist für … Keira. Von Milo.“
Er gab das flache rechteckige Geschenk an Milo, der es dann an Keira weiterreichte.
Keira hob eine Augenbraue. Sie hatte keine Ahnung, was es sein könnte.
Sie begann es auszupacken und erkannte dann, dass es eine Art Gemälde war. Schnell zog sie den Rest des Papiers herunter und drehte das Rechteck herum, sodass es richtig herum vor ihr lag. Was sie sah, verschlug ihr den Atem. Die darauf gemalte Landschaft war eine Szene des gefrorenen Sees mit Schlittenhunden, die darüberfuhren. Es war wunderschön und so unglaublich gedankenvoll.
„Das ist der gleiche See, auf dem wir Eisfischen waren“, erklärte Milo. „Es wurde von einem berühmten schwedischen Maler gemalt. Ich dachte, es würde dir helfen, dich an Schweden zu erinnern.“
Keira stiegen die Tränen in die Augen, so gerührt war sie von der Geste. Sie warf ihre Arme um Milo. „Es ist wundervoll!“, rief sie und drückte Küsse auf seine Wangen.
Nils verteilte weitere Geschenke, gab eines an Yolanta für Regina und ein anderes an Regina, die es ihm direkt wieder zurückgab.
„Was ich dir wirklich schenken wollte“, sagte Milo in Keiras Ohr, als seine Familie mit ihren Geschenken beschäftigt war, „war eine richtige Fahrt mit den Schlittenhunden.“
Keira lachte.
„Leider haben wir nicht genug Zeit dafür“, fuhr er fort. „Also habe ich dir das hier gekauft.“
Er zog etwas hinter seinem Rücken hervor. Keira hielt die Luft an, geschockt, dass es noch ein weiteres Geschenk für sie gab und davon, dass es nicht den offiziellen Nilson-Familienweg gegangen war.
„Ein geheimes Geschenk?“, fragte sie in einer witzelnden, verschwörerischen Stimme.
Milo nickte. „Mach es auf“, drängelte er. Tief bewegt, entfernte Keira vorsichtig das Papier. Sie hielt eine kleine schwarze rechteckige Schachtel in der Hand und konnte bereits erkennen, dass es sich um Schmuck handelte. Sie klappte das Kästchen auf und hielt die Luft an. Darin befand sich eine Kette aus Weißgold verziert mit hellen Saphiren.
„Oh, Milo, sie ist wunderschön“, sagte sie atemlos.
Sie griff danach, hob die Kette an ihren Hals und legte das delikate Schmuckstück über ihre Schlüsselbeine.
„Lass mich dir helfen“, bot er an.
Sie drehte sich, strich ihr Haar über eine Schulter und Milo schloss den kleinen Verschluss. Seine Finger fühlten sich warm auf ihrer Haut an und ein Kribbeln breitete sich durch ihren ganzen Körper aus.
„Obwohl wir hunderte Kilometer entfernt voneinander sein werden“, flüsterte er ihr ins Ohr, „hast du jetzt etwas von mir und von Schweden, das immer bei dir sein kann.“
Keira drehte sich zu ihm um. Sie war zutiefst berührt. „Ich werde sie, wie einen Schatz hüten“, sagte sie und blickte in seine Augen. „Vielen Dank, dass du dies zum besten Weihnachten überhaupt gemacht hast.“
„Nein, ich danke dir“, sagte Milo bedeutungsvoll.
Dann lachte er und zog sie in seine Arme, während die Familie um sie herum weiterhin Geschenke öffnete.
*
Der Rest des Tages war eine geschäftige und fröhliche Angelegenheit und doch war Keira erleichtert, als sie sich am Ende des Abends auf der Veranda wiederfanden, mit Milos gesamter Familie schon im Bett, und es waren nur noch sie beide. So sehr sie seine Familie auch liebte, war es doch wichtig, dass sie ein paar wertvolle Momente nur für sie beide allein hatten.
Sie saßen nebeneinander, teilten sich eine Flasche wärmenden Likörs und schauten über die Berge. Es würde für Keira das letzte Mal sein. Wie traurig, dass der erste Moment, den sie heute allein verbrachten, auch ihr letzter gemeinsamer Moment für eine unbestimmte Zeit sein würde.
Der Nordstern schien hell über ihnen und wegen der dicken Schneedecke sah es so aus, als würden all die kleinen Berghütten, die überall am Hang verteilt lagen, tief im Schnee versinken. Am Waldesrand sah Keira die dunklen Tannenbäume, die so majestätisch in ihrer natürlichen Umgebung von tiefem, tiefem Schnee standen.
Milo griff nach Keiras Hand. Sie sah zu ihm hinüber und sein Gesicht war genauso atemberaubend wunderschön wie die Umgebung, von der sie ihre Augen soeben abgewandt hatte. Sie fühlte, wie seine warmen Finger ihre drückten.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich so schnell in jemanden verlieben könnte“, sagte er mit seiner gewöhnlichen offenen Art. „Ehrlich gesagt, dachte ich immer, dass Liebe auf den ersten Blick nur ein Mythos sei; dass die Leute Liebe und Lust verwechselten.“
Keira errötete. Sie hatte das mit Sicherheit auch schon getan. Aber sie hatte außerdem auf ihrer Reise der Selbstfindung akzeptiert, dass „Lust auf den ersten Blick“ eine genauso echte Erfahrung sein konnte wie ihre Cousine, die Liebe. Nicht jede Beziehung sollte für immer sein, aber das war noch lange kein Grund, den Möglichkeiten, die einem das Leben präsentierte, den Rücken zuzukehren.
„Du hast mich eines Besseren belehrt“, vor Milo fort. „Es ist real. Und es ist mir passiert.“
Sie lächelte ihm zärtlich zu und nickte zustimmend. Es sollte nicht bedeuten, dass er ihre Meinung über das Sich-Verlieben geändert hatte – sie wusste sehr genau, dass sie sich in der Vergangenheit sehr leicht verliebt hatte – aber in Zustimmung dessen, dass es die Liebe auf den ersten Blick wirklich gab.
Dieser Gedanke erinnerte sie plötzlich daran, dass, obwohl sie in diesem Moment fühlte, dass Milo der Richtige war, sie die Erfahrung gelehrt hatte, dass es auch ganz einfach falsch sein könnte. Und dieser Gedanke führte sie zu einem Weiteren. Zum ersten Mal freute sich Keira sogar darauf, nach Hause zu fahren, zu ihrer eigenen kleinen neuen Wohnung. So sehr sie es geliebt hatte, in Schweden und mit Milo zusammen zu sein, wusste sie doch, dass dieser Moment in ihrem Leben zu Ende gehen musste.
In dem Augenblick bemerkte Keira, dass Milo sie erwartungsvoll ansah. Sie war zu lange still gewesen. Er hatte ihr seine Liebe gestanden und alles was sie getan hatte, war zu nicken!
„Woran denkst du?“, fragte er mit einem niedergeschlagenen Ausdruck.
„Um ehrlich zu sein, denke ich an morgen“, gab sie zu. „Daran, dass ich abreisen werde.“
Er atmete tief aus. „Das dachte ich mir schon.“
Sie drückte seine Hand, die noch immer ihre festhielt. „Es tut mir leid, wenn dich das enttäuscht.“
„Nein“, sagte Milo schnell und sah ihr tief in die Augen. „Ich würde niemals wollen, dass du dich schuldig fühlst, dafür, dass du abreist oder dafür, dass du es willst. Ich weiß selber, dass es enden muss. Es ist nur eine so magische Erfahrung gewesen. Du hast mich so viel über die Liebe und über mich selbst gelehrt.“
Keira lehnte sich vor und küsste ihn zärtlich. „Ich fühle genauso.“
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