Emily wachte am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit auf. Von den verschlagenen Fenstern drang nur wenig Licht in den Raum, sodass sie einen Moment brauchte, um zu erkennen, wo sie war. Ihre Augen passten sich langsam an das Dämmerlicht an, der Raum verfestigte sich vor ihr und dann kam auch die Erinnerung zurück – Sunset Harbor. Das Haus ihres Vaters.
Erst nach einem Moment wurde ihr wieder klar, dass sie weder Arbeit noch Wohnung hatte und komplett alleine war.
Sie zwang ihren erschöpften Körper aus dem Bett. Die Morgenluft war kalt. Ihre Erscheinung in dem Spiegel des Schminktisches erschreckte sie, ihr Gesicht war von den Tränen, die sie in der vergangenen Nacht vergossen hatte, angeschwollen, ihre Haut war abgespannt und blass. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ihrem Körper gestern nicht genug Essen gegeben hatte. Das einzige, was sie in der Nacht zuvor zu sich genommen hatte, war Daniels Tee gewesen, den er über dem Feuer gekocht hatte.
Neben dem Spiegel zögerte sie einen Moment, während sie ihren Körper in dem alten, schmutzigen Glas betrachtete und an die letzte Nacht zurückdachte – an das wärmende Feuer; daran, dass sie neben dem Kamin gesessen und mit Daniel Tee getrunken hatte; an Daniel, der sie wegen ihrer Unfähigkeit, für das Haus zu sorgen, aufgezogen hatte. Sie erinnerte sich an die Schneeflocken, die auf seinem Haar gelegen waren, als sie ihm die Tür geöffnet hatte und an die Art, wie er in dem Blizzard und in der pechschwarzen Nacht genauso so schnell verschwunden, wie er zuvor auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war.
Ihr grummelnder Magen riss sie aus ihren Gedanken und holte sie zurück in die Gegenwart. Schnell zog sie sich an. Ihre verknitterte Bluse war viel zu dünn für die kalte Luft, weshalb sie sich die staubige Decke von Bett nahm und um die Schultern legte. Dann verließ sie das Schlafzimmer und ging barfuß nach unten.
Im unteren Stockwerk war alles still. Sie spähte durch die angelaufenen Scheiben der Haustür hinaus und war erstaunt zu sehen, dass der Schnee, obwohl der der Sturm vorüber war, nun fast einen Meter hoch lag und die Welt in ein glattes, stilles und endloses Weiß getaucht hatte. So viel Schnee hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Emily konnte die Fußspuren eines Vogels erkennen, der draußen auf dem Weg herumhüpfte, doch sonst unterbrach nichts die Schneedecke. Es schaute friedlich und gleichzeitig verlassen aus und erinnerte Emily an ihre Einsamkeit.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass es keinen Sinn ergab, hinauszugehen, entschied sich Emily dazu, das Haus zu erkunden und nachzusehen, was sich noch alles in dem Gebäude befand, wenn denn überhaupt noch etwas da war. Das Haus war letzte Nacht so dunkel gewesen, dass sie sich nicht wirklich hatte umschauen können, doch jetzt bei Tageslicht fiel ihr diese Aufgabe einfacher. Zuerst ging sie, getrieben von ihrem grummelnden Magen, in die Küche.
Der Zustand des Raumes war sogar noch schlechter, als sie bei ihrer Erkundung letzte Nacht gedacht hatte. Der Kühlschrank – ein original cremefarbener 1950er Prestcold, den ihr Vater einmal auf einem privaten Flohmarkt gefunden hatte – funktionierte nicht. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob er jemals funktioniert hatte, oder ob er nur ein weiterer Grund für ihre Mutter gewesen war, sich aufzuregen, weil ihr Vater das Haus mit allem möglichen Krempel überhäuft hatte. Als Kind hatte Emily die Sammlungen ihres Vaters als langweilig empfunden, doch jetzt hielt sie diese Erinnerungen in Ehren und klammerte sich so fest daran wie es nur ging.
In dem Kühlschrank fand Emily nichts außer einem fürchterlichen Gestank, weshalb sie ihn schnell wieder zuwarf und die Tür mit dem Griff verschloss, bevor sie zu den Schränken hinüberging, in die sie hineinschauen wollte. Hier fand sie eine alte Dose Mais, das Etikett war von der Sonne so sehr verbleicht, dass man es nicht mehr lesen konnte, und eine Flasche Malzessig. Einen kurzen Moment lang dachte sie darüber nach, sich aus ihrem Fund eine Mahlzeit zuzubereiten, doch dann kam sie zu dem Schluss, dass ihre Verzweiflung doch noch nicht so groß war. Der Dosenöffner war sowieso komplett durchgerostet, weshalb sie die Dose selbst dann nicht hätte öffnen können, wenn sie wirklich so verzweifelt gewesen wäre.
Als nächstes ging sie in die Vorratskammer, wo sie die Waschmaschine und den Trockner fand. Der Raum war dunkel, denn das kleine Fenster war genau wie die anderen auch mit Sperrholz zugenagelt. Emily drückte einen Knopf auf der Waschmaschine und war nicht sonderlich überrascht, dass auch dieses Gerät nicht funktionierte. Da sie ihre Situation immer mehr frustrierte, beschloss Emily, anzupacken. Sie kletterte auf die Anrichte und versuchte, ein Stück Sperrholz wegzureißen. Es war schwieriger als gedacht, doch sie war fest entschlossen. Sie zog und zog mit der ganzen Kraft ihrer Arme. Schließlich begann das Holz zu zerbrechen. Emily zog ein letztes Mal und das Sperrholz gab nach, es löste sich komplett vom Fenster. Der Schwung war so groß, dass sie rückwärts von der Anrichte fiel und ihr das schwere Brett aus der Hand rutschte, das mit voller Wucht gegen das Fenster schlug. In demselben Moment, als sie zusammengekrümmt auf dem Boden landete, hörte Emily, wie die Fensterscheibe zerklirrte.
Eisige Luft drang in die Vorratskammer. Emily stöhnte und zog sich in eine sitzende Position, bevor sie ihren Körper überprüfte, um sicher zu gehen, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Ihr Rücken schmerzte, weshalb sie ihn rieb, während sie zu dem zerbrochenen Fenster aufsah und feststellte, dass ein dünner Lichtstrahl hereinfiel. Es frustrierte Emily ungemein, dass sie bei dem Versuch, ein Problem zu lösen, die Dinge für sich selbst nur noch weiter erschwert hatte.
Sie atmete tief durch und stand auf, dann hob sie vorsichtig das Stück Holz von der Anrichte, wo es gelandet war. Dabei fielen Glassplitter auf den Boden, wo sie zerbrachen. Emily schaute sich das Brett genauer an und sah, dass die Nägel komplett verbogen waren. Selbst wenn sie einen Hammer finden würde – was auch dringend nötig war– wären die Nägel ohnehin zu verbogen, um sie wieder zu verwenden. Dann fiel ihr auf, dass sie es geschafft hatte, den Fensterrahmen zu zerbrechen, als sie das Brett weggezogen hatte. Das ganze Gebilde müsste ersetzt werden.
Emily war es viel zu kalt, um in der Vorratskammer herumzustehen. Durch das zerbrochene Fenster sah sie sich demselben endlosen Weiß gegenüber. Sie schnappte sich ihre Decke vom Boden und schlang sie sich wieder um ihre Schultern, bevor sie die Vorratskammer verließ und in das Wohnzimmer ging. Immerhin könnte sie hier ein Feuer entzünden und ihre Knochen aufwärmen.
Im Wohnzimmer lag immer noch der beruhigende Duft nach verbranntem Holz in der Luft. Emily kniete sich neben den Kamin und begann, kleinere Äste und Holzscheite zu einer Pyramide zu formen. Diesmal dachte sie gleich daran, den Kaminschacht zu öffnen, und war erleichtert, als die erste Flamme aufflackerte.
Sie setzte sich zurück auf ihre Fersen und begann, ihre Hände zu wärmen. Dann sah sie neben dem Kamin den Kessel, in dem Daniel den Tee gekocht hatte. Sie hatte das Wohnzimmer noch gar nicht aufgeräumt, weshalb der Kessel und die Tassen immer doch an derselben Stelle standen wie in der Nacht zuvor. Erinnerungen daran, wie Daniel und sie gemeinsam Tee getrunken und sich über das alte Haus unterhalten hatten, schossen ihr durch den Kopf. Ihr Magen knurrte und rief ihr wieder in Erinnerung, wie hungrig sie war, weshalb sie beschloss, einen Tee zu kochen, genauso, wie Daniel es ihr gezeigt hatte, denn sie hoffte, dass sie damit den Hunger zumindest für eine Weile verdrängen konnte.
Gerade als sie den Kessel über das Feuer gehängt hatte, hörte sie das Klingeln ihres Handys irgendwo in dem Haus. Obwohl es ein bekanntes Geräusch war, erschrak sie sehr, dass es jetzt durch die Flure hallte. Sie hatte keinen Gedanken mehr daran verschwendet, seit sie festgestellt hatte, dass sie keinen Empfang hatte, weshalb sie das Klingeln überraschte.
Emily sprang auf, ließ den Tee stehen und folgte dem Klingeln ihres Handys. Sie fand es auf der Kommode im Flur. Sie sah, dass es eine unbekannte Nummer war, weshalb sie etwas verwirrt abhob.
„Oh, ähm, hi“, hörte sie die Stimme eines älteren Mannes am anderen Ende der Leitung. „Sind Sie die Dame in der West Street fünfzehn?“ Die Verbindung war schlecht und sie konnte die sanfte, zögerliche Stimme des Mannes kaum verstehen.
Emily runzelte die Stirn, denn sie wusste nicht, was sie aus dem Anruf machen sollte. „Ja. Wer ist denn dran?“
„Ich heiße Eric. Ich, äh, liefere Öl an alle Häuser in der Gegend. Ich habe gehört, dass Sie in dem alten Haus bleiben. Da habe ich mir gedacht, dass ich mit einer Lieferung vorbeikommen könnte. Ich meine natürlich nur, wenn Sie das auch wollen.“
Emily konnte es kaum glauben. Die Neuigkeit hatte sich in der kleinen Gemeinschaft anscheinend schnell herumgesprochen. Aber warte, wie war Eric an ihre Handynummer gekommen? Dann fiel ihr wieder ein, dass Daniel sich letzte Nacht ihr Handy angesehen hatte, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass der Empfang sehr schlecht war. Er muss die Nummer gesehen und sich gemerkt haben, um sie an Eric weiterzugeben. So viel zu ihrem Stolz, denn sie konnte ihre Freude kaum verbergen.
„Ja, das wäre wunderbar“, antwortete sie. „Wann können Sie vorbeikommen?“
„Nun ja“, gab der Mann in derselben nervösen, fast schon verlegen klingenden Stimme zurück. „In Wirklichkeit bin ich schon mit meinem Truck auf dem Weg zu Ihnen.“
„Wirklich?“, stammelte Emily, die ihr Glück kaum fassen konnte. Schnell warf sie einen Blick auf die Uhrzeit, die auf ihrem Handy aufleuchtete. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens. Entweder fing Eric sehr früh an zu arbeiten, oder er machte es speziell für sie. Sie fragte sich, ob der Mann, der sie gestern Nacht hierhergebracht hatte, für sie das Ölunternehmen informiert hatte. Entweder er oder…Daniel?
Sie schob den Gedanken weg und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Telefongespräch. „Werden Sie herkommen können?“, fragte sie. „Es liegt ziemlich viel Schnee.“
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, erwiderte Eric. „Der Truck kommt mit Schnee zurecht. Sorgen Sie einfach nur dafür, dass der Weg zu dem Rohr frei ist.“
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