Читать книгу «Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Эрих Марии Ремарк — MyBook.

Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte es im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.

„Danke“, sagte er.

Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. „Weshalb bist du eigentlich unterwegs?“ fragte Kern zögernd. „Du bist doch kein Jude!“

Steiner schwieg eine Zeitlang. „Nein, ich bin kein Jude“, sagte er endlich.

Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. „Ein Hase oder ein Kaninchen“, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. „Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.“

Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht.

Nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Seine Notdurft musste er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mussten so vorsichtig sein, dass sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.

„Weiß Marie es?“ fragte Steiner in der ersten Nacht.

„Nein. Das Haus ist bewacht.“

„Ist ihr etwas passiert?“

Der Freund schüttelte den Kopf und ging.

Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, dass er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriss er ihn. Er wusste nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus; aber er wurde schwach. Es war zwei Jahre her, dass er seine Frau gesehen hatte. Er ging zum Wochenmarkt. Nach einer Stunde kam sie. Er fing an zu zittern. Sie ging an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Er folgte ihr, und als er dicht hinter ihr war, sagte er: „Sieh dich nicht um! Ich bin’s! Geh weiter! Geh weiter!“

Ihre Schultern zuckten, und sie warf den Kopf zurück. Dann ging sie weiter. Aber es war, als wäre sie nur noch ein einziges Lauschen nach rückwärts.

„Hat man dir etwas getan?“ fragte die Stimme hinter ihr.

Sie schüttelte den Kopf.

„Beobachtet man dich?“

Sie nickte.

„Jetzt?“

Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich gehe jetzt gleich. Will versuchen, durchzukommen. Ich kann dir nicht schreiben. Es ist zu gefährlich für dich.“

Sie nickte.

„Du musst dich von mir scheiden lassen.“

Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.

„Du musst dich von mir scheiden lassen. Du musst morgen hingehen. Du musst sagen, dass du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewusst. Hast du es verstanden?“

Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.

„Versteh mich doch“, flüsterte Steiner. „Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du musst dich scheiden lassen – dann lassen sie dich in Ruhe!“

Die Frau antwortete nicht.

„Ich liebe dich, Marie“, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung. „Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?“

Nach einer Ewigkeit, schien ihm, nickte die Frau.

„Versprichst du es mir?“

Die Frau nickte langsam. Ihre Schultern sanken zusammen.

„Ich biege jetzt ab und komme den Gang rechts herauf. Geh links herum und komme mir entgegen. Sprich nichts, tu nichts! Ich will dich nur noch einmal sehen. Dann gehe ich. Wenn du nichts hörst, bin ich durchgekommen.“

Die Frau nickte und ging rascher.

Steiner bog ab und ging die Gasse rechts hinauf. Sie war eingesäumt von den Buden der Schlächter. Frauen mit Körben feilschten vor den Ständen. Das Fleisch glänzte blutig und weiß in der Sonne. Es roch unerträglich. Die Schlächter schrien. Aber plötzlich versank alles. Das Hacken der Beile auf den Holzklötzen wurde zum feinen Dengeln von Sensen. Eine Wiese war da, ein Kornfeld, Freiheit, Birken, Wind und der geliebte Schritt und das geliebte Gesicht. Ihre Augen fassten sich und ließen sich nicht los, und in ihnen war alles: Schmerz und Glück und Liebe und Trennung, das Leben schwankend hoch über ihren Gesichtern, voll und süß und wild, und der Verzicht, das rasende Kreisen der tausend flimmernden Messer.

Sie gingen und standen still zugleich, und sie gingen und wussten es nicht. Dann stürzte die Leere grell in Steiners Augen, und erst nach einer Weile unterschied er wieder die Farben und das Kaleidoskop, das sinnlos vor seinen Augäpfeln abrollte und nicht eindrang.

Er stolperte weiter, dann ging er rasch, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Er stieß die Hälfte eines geschlachteten Schweines von einem mit Wachstuch belegten Tisch, er hörte das Schimpfen des Schlächters wie das Rasseln einer Trommel, er lief um die Ecke der Budengasse und blieb stehen.

Er sah sie fortgehen vom Markt. Sie ging sehr langsam. An der Ecke der Straße blieb sie stehen und drehte sich um. So stand sie lange Zeit, das Gesicht etwas emporgehoben, die Augen weit offen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und drückte sie gegen ihren Körper. Steiner wusste nicht, ob sie ihn sah. Er wagte nicht, sich ihr noch einmal zu zeigen. Er ahnte, dass sie vielleicht zurücklaufen würde zu ihm. Nach einer Weile hob sie die Hände und legte sie um ihre Brüste. Sie hielt sie ihm hin. Sie hielt sich ihm hin. Sie hielt sich ihm hin in einer schmerzvoll leeren, blinden Umarmung, den Mund geöffnet, mit geschlossenen Augen. Dann wandte sie sich langsam ab, und die Schattenschlucht der Straße verschluckte sie.

Drei Tage später kam Steiner über die Grenze. Die Nacht war hell und windig, und der Mond stand kreidig am Himmel. Steiner war ein harter Mensch, aber als er die Grenze überquert hatte, nass von kaltem Schweiß, drehte er sich um und sagte wie irrsinnig in die Richtung, aus der er kam, den Namen seiner Frau.

* * *

Er nahm eine neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.

„Wie alt bist du?“ fragte Steiner.

„Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.“

„So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?“

Kern schüttelte den Kopf.

Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: „Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?“

„Ja.“ Kern drehte sich um. „Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.“

„Dann weißt du schon viel. Vor dem Kriege wussten nur wenige Leute so was.“

„Vor dem Kriege – das war vor hundert Jahren.“ „Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?“

„Ja.“

„Schön.“ Steiner zog an seiner Zigarette. „Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuss ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.

Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, dass er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuss fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, dass er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.“

Er machte eine Pause.

„Ihr hattet eben schrecklichen Hunger“, sagte Kern.

„Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: dass neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?“

„Nein“, sagte Kern.

Steiner lächelte. „Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.“

Er stand auf. „Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, dass ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepasst. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Dass ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob[23] ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?“

„Nein.“

„Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.“ Er schlug Kern auf die Schulter. „Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.“

Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. „Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.“

Kern nickte.

„Also mach’s gut. Und vergiss das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne dass man denken muss. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jass und Tarock. Im Poker musst du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.“

„Gut“, sagte Kern. „Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.“

„Dankbarkeit musst du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!“

„Und besser als tot.“

„Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!“

„Servus[24], Steiner!“

Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.

Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.

Kern beschloss zu versuchen, nachts noch bis Pressburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wusste, dass es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.

Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

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