Als Kropp und ich im Barackenlager sonntags an einer Stange die Latrineneimer über den Hof schleppten und Himmelstoß, blitzblank geschniegelt, zum Ausgehen bereit, gerade vorbeikam, sich vor uns hinstellte und fragte, wie uns die Arbeit gefiele, markierten wir trotz allem ein Stolpern und gössen ihm den Eimer über die Beine. Er tobte, aber das Maß war voll.
»Das setzt Festung«, schrie er.
Kropp hatte genug. »Vorher aber eine Untersuchung, und da werden wir auspacken«, sagte er.
»Wie reden Sie mit einem Unteroffizier!« brüllte Himmelstoß, »sind Sie verrückt geworden? Warten Sie, bis Sie gefragt werden! Was wollen Sie tun?«
»Über Herrn Unteroffizier auspacken!« sagte Kropp und nahm die Finger an die Hosennaht.
Himmelstoß merkte nun doch, was los war, und schob ohne ein Wort ab. Bevor er verschwand, krakehlte er zwar noch: »Das werde ich euch eintränken«, – aber es war vorbei mit seiner Macht. Er versuchte es noch einmal in den Sturzäckern mit »Hinlegen« und »Sprung auf, marsch, marsch«. Wir befolgten zwar jeden Befehl; denn Befehl ist Befehl, er muss ausgeführt werden. Aber wir führten ihn so langsam aus, dass Himmelstoß in Verzweiflung geriet.
Gemütlich gingen wir auf die Knie, dann auf die Arme und so fort; inzwischen hatte er schon wütend ein anderes Kommando gegeben. Bevor wir schwitzten, war er heiser. Er ließ uns dann in Ruhe. Zwar bezeichnete er uns immer noch als Schweinehunde. Aber es lag Achtung darin.
Es gab auch viele anständige Korporale, die vernünftiger waren; die anständigen waren sogar in der Überzahl. Aber vor allem wollte jeder seinen guten Posten hier in der Heimat so lange behalten wie möglich, und das konnte er nur, wenn er stramm mit den Rekruten war.
Uns ist dabei wohl jeder Kasernenhofschliff zuteil geworden, der möglich war, und oft haben wir vor Wut geheult. Manche von uns sind auch krank dadurch geworden. Wolf ist sogar an Lungenentzündung gestorben. Aber wir wären uns lächerlich vorgekommen, wenn wir klein beigegeben hätten. Wir wurden hart, misstrauisch, mitleidlos, rachsüchtig, roh – und das war gut; denn diese Eigenschaften fehlten uns gerade. Hätte man uns ohne diese Ausbildungszeit in den Schützengraben geschickt, dann wären wohl die meisten von uns verrückt geworden. So aber waren wir vorbereitet für das, was uns erwartete.
Wir zerbrachen nicht, wir passten uns an; unsere zwanzig Jahre, die uns manches andere so schwer machten, halfen uns dabei. Das Wichtigste aber war, dass in uns ein festes, praktisches Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!
Ich sitze am Bette Kemmerichs. Er verfällt mehr und mehr. Um uns ist viel Radau*. Ein Lazarettzug ist angekommen, und die transportfähigen Verwundeten werden ausgesucht. An Kemmerichs Bett geht der Arzt vorbei, er sieht ihn nicht einmal an.
»Das nächstemal, Franz«, sage ich.
Er hebt sich in den Kissen auf die Ellbogen. »Sie haben mich amputiert.«
Das weiß er also doch jetzt. Ich nicke und antworte:
»Sei froh, dass du so weggekommen bist.«
Er schweigt.
Ich rede weiter: »Es konnten auch beide Beine sein, Franz. Wegeler hat den rechten Arm verloren. Das ist viel schlimmer. Du kommst ja auch nach Hause.«
Er sieht mich an. »Meinst du?«
»Natürlich.«
Er wiederholt: »Meinst du?«
»Sicher, Franz. Du musst dich nur erst von der Operation erholen.«
Er winkt mir, heranzurücken. Ich beuge mich über ihn, und er flüstert: »Ich glaube es nicht.«
»Rede keinen Quatsch, Franz, in ein paar Tagen wirst du es selbst einsehen. Was ist das schon groß: ein amputiertes Bein; hier werden ganz andere Sachen wieder zurechtgepflastert.«
Er hebt eine Hand hoch. »Sieh dir das mal an, diese Finger.«
»Das kommt von der Operation. Futtere nur ordentlich, dann wirst du schon aufholen. Habt ihr anständige Verpflegung?«
Er zeigt auf eine Schüssel, die noch halb voll ist. Ich gerate in Erregung. »Franz, du musst essen. Essen ist die Hauptsache. Das ist doch ganz gut hier.«
Er wehrt ab. Nach einer Pause sagt er langsam: »Ich wollte mal Oberförster werden.«
»Das kannst du noch immer«, tröste ich. »Es gibt jetzt großartige Prothesen, du merkst damit gar nicht, dass dir etwas fehlt. Sie werden an die Muskeln angeschlossen. Bei Handprothesen kann man die Finger bewegen und arbeiten, sogar schreiben. Und außerdem wird da immer noch mehr erfunden werden.«
Er liegt eine Zeitlang still. Dann sagt er: » Du kannst meine Schnürschuhe für Müller mitnehmen.«
Ich nicke und denke nach, was ich ihm Aufmunterndes sagen kann. Seine Lippen sind weggewischt, sein Mund ist größer geworden, die Zähne stechen hervor, als wären sie aus Kreide. Das Fleisch zerschmilzt, die Stirn wölbt sich stärker, die Backenknochen stehen vor. Das Skelett arbeitet sich durch. Die Augen versinken schon. In ein paar Stunden wird es vorbei sein.
Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen aufgewachsen, da ist es doch immer etwas anders. Ich habe die Aufsätze von ihm abgeschrieben. Er trug in der Schule meistens einen braunen Anzug mit Gürtel, der an den Ärmeln blankgewetzt war. Auch war er der einzige von uns, der die große Riesenwelle am Reck* konnte. Das Haar flog ihm wie Seide ins Gesicht, wenn er sie machte. Kantorek war deshalb stolz auf ihn. Aber Zigaretten konnte er nicht vertragen. Seine Haut war sehr weiß, er hatte etwas von einem Mädchen.
Ich blicke auf meine Stiefel. Sie sind groß und klobig, die Hose ist hineingeschoben; wenn man aufsteht, sieht man dick und kräftig in diesen breiten Röhren aus. Aber wenn wir baden gehen und uns ausziehen, haben wir plötzlich wieder schmale Beine und schmale Schultern. Wir sind dann keine Soldaten mehr, sondern beinahe Knaben, man würde auch nicht glauben, dass wir Tornister schleppen können. Es ist ein sonderbarer Augenblick, wenn wir nackt sind; dann sind wir Zivilisten und fühlen uns auch beinahe so.
Franz Kemmerich sah beim Baden klein und schmal aus wie ein Kind. Da liegt er nun, weshalb nur? Man sollte die ganze Welt an diesem Bette vorbeiführen und sagen: Das ist Franz Kemmerich, neunzehneinhalb Jahre alt, er will nicht sterben. Lasst ihn nicht sterben!
Meine Gedanken gehen durcheinander. Diese Luft von Karbol und Brand verschleimt die Lungen, sie ist ein träger Brei, der erstickt.
Es wird dunkel. Kemmerichs Gesicht verbleicht, es hebt sich von den Kissen und ist so blaß, dass es schimmert. Der Mund bewegt sich leise. Ich nähere mich ihm. Er flüstert: »Wenn ihr meine Uhr findet, schickt sie nach Hause.«
Ich widerspreche nicht. Es hat keinen Zweck mehr. Man kann ihn nicht überzeugen. Mir ist elend vor Hilflosigkeit. Diese Stirn mit den eingesunkenen Schläfen, dieser Mund, der nur noch Gebiss ist, diese spitze Nase! Und die dicke weinende Frau zu Hause, an die ich schreiben muss. Wenn ich nur den Brief schon weg hätte.
Lazarettgehilfen gehen herum mit Flaschen und Eimern. Einer kommt heran, wirft Kemmerich einen forschenden Blick zu und entfernt sich wieder. Man sieht, dass er wartet, wahrscheinlich braucht er das Bett.
Ich rücke nahe an Franz heran und spreche, als könnte ihn das retten: »Vielleicht kommst du in das Erholungsheim am Klosterberg, Franz, zwischen den Villen. Du kannst dann vom Fenster aus über die Felder sehen bis zu den beiden Bäumen am Horizont. Es ist jetzt die schönste Zeit, wenn das Korn reift, abends in der Sonne sehen die Felder dann aus wie Perlmutter. Und die Pappelallee am Klosterbach, in dem wir Stichlinge* gefangen haben! Du kannst dir dann wieder ein Aquarium anlegen und Fische züchten, du kannst ausgehen und brauchst niemand zu fragen, und Klavier spielen kannst du sogar auch, wenn du willst.«
Ich beuge mich über sein Gesicht, das im Schatten liegt. Er atmet noch, leise. Sein Gesicht ist nass, er weint. Da habe ich ja schönen Unsinn angerichtet mit meinem dummen Gerede!
»Aber Franz« – ich umfasse seine Schulter und lege mein Gesicht an seins. »Willst du jetzt schlafen?«
Er antwortet nicht. Die Tränen laufen ihm die Backen herunter. Ich möchte sie abwischen, aber mein Taschentuch ist zu schmutzig.
Eine Stunde vergeht. Ich sitze gespannt und beobachte jede seiner Mienen, ob er vielleicht noch etwas sagen möchte. Wenn er doch den Mund auftun und schreien wollte! Aber er weint nur, den Kopf zur Seite gewandt. Er spricht nicht von seiner Mutter und seinen Geschwistern, er sagt nichts, es liegt wohl schon hinter ihm; – er ist jetzt allein mit seinem kleinen neunzehnjährigen Leben und weint, weil es ihn verlässt.
Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen habe, obwohl es bei Tiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brüllte, ein bärenstarker Kerl, und der den Arzt mit aufgerissenen Augen angstvoll mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
Plötzlich stöhnt Kemmerich und fängt an zu röcheln. Ich springe auf, stolpere hinaus und frage: »Wo ist der Arzt? Wo ist der Arzt?«
Als ich den weißen Kittel sehe, halte ich ihn fest.
»Kommen Sie rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst.«
Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen: »Was soll das heißen?«
Der sagt: »Bett 26, Oberschenkel amputiert.«
Er schnauzt: »Wie soll ich davon etwas wissen, ich habe heute fünf Beine amputiert«, schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen: »Sehen Sie nach«, und rennt zum Operationssaal.
Ich bebe vor Wut, als ich mit dem Sanitäter gehe. Der Mann sieht mich an und sagt: »Eine Operation nach der andern, seit morgens fünf Uhr – doll, sage ich dir, heute allein wieder sechzehn Abgänge* – deiner ist der siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll – «
Mir wird schwach, ich kann plötzlich nicht mehr. Ich will nicht mehr schimpfen, es ist sinnlos, ich möchte mich fallen lassen und nie wieder aufstehen.
Wir sind am Bette Kemmerichs. Er ist tot. Das Gesicht ist noch nass von den Tränen. Die Augen stehen halb offen, sie sind gelb wie alte Hornknöpfe. —
Der Sanitäter stößt mich in die Rippen.
»Nimmst du seine Sachen mit?«
Ich nicke.
Er fährt fort: »Wir müssen ihn gleich wegbringen, wir brauchen das Bett. Draußen liegen sie schon auf dem Flur.«
Ich nehme die Sachen und knöpfe Kemmerich die Erkennungsmarke* ab. Der Sanitäter fragt nach dem Soldbuch*. Es ist nicht da.
Ich sage, dass es wohl auf der Schreibstube sein müsse, und gehe. Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
Vor der Tür fühle ich wie eine Erlösung das Dunkel und den Wind. Ich atme, so sehr ich es vermag, und spüre die Luft warm und weich wie nie in meinem Gesicht. Gedanken an Mädchen, an blühende Wiesen, an weiße Wolken fliegen mir plötzlich durch den Kopf. Meine Füße bewegen sich in den Stiefeln vorwärts, ich gehe schneller, ich laufe. Soldaten kommen an mir vorüber, ihre Gespräche erregen mich, ohne dass ich sie verstehe. Die Erde ist von Kräften durchflossen, die durch meine Fußsohlen in mich überströmen. Die Nacht knistert elektrisch, die Front gewittert dumpf wie ein Trommelkonzert. Meine Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fühle meine Gelenke stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt, ich lebe. Ich spüre Hunger, einen größeren als nur vom Magen. —
Müller steht vor der Baracke und erwartet mich. Ich gebe ihm die Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau. —
Er kramt in seinen Vorräten und bietet mir ein schönes Stück Zervelatwurst an. Dazu gibt es heißen Tee mit Rum.
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