Sie drehte sich um und sah Rhodes in der Tür zum Schlafzimmer stehen. Sie hatte einen skeptischen Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie Chloe beobachtete.
„Dieses Fenster wurde von außen manipuliert“, sagte Chloe. „Wir müssen Abdrücke sammeln.“
„Haben Sie Beweishandschuhe?“, fragte Rhodes.
„Nein“, sagte Chloe. Sie fand es ironisch; hätte sie ihren Tag als Mitglied des Teams für Beweissicherung begonnen, wie es ursprünglich geplant gewesen war, hätte sie sie heute bei sich gehabt. Aber nachdem Johnson gestern ihre Abteilung gewechselt hatte, hatte sie nicht daran gedacht, Beweissicherungsausrüstung mitzubringen.
„Ich habe welche in meinem Auto“, sagte sie. Dann warf sie Chloe mit einem genervten Blick ihre Schlüssel zu. „Im Handschuhfach. Und bitte schließen Sie das Auto wieder ab, wenn Sie fertig sind.“
Chloe murmelte ein gedämpftes „Danke“, als sie an Rhodes vorbeiging, um den Raum zu verlassen. Sie fragte sich, warum Rhodes Beweishandschuhe in ihrem Auto aufbewahren würde. Wenn sie selbst, Chloe, es richtig verstanden hatte, würde jeder Agent vom FBI mit den für den jeweiligen Fall benötigten Materialien und der entsprechenden Ausrüstung versorgt. Hatte Rhodes die richtigen Materialien erhalten? War ihre späte Ergänzung zum ViCAP-Programm bereits zurückgekommen, um sie in den Arsch zu beißen? Sie ging hinaus und fand eine Schachtel mit Latexhandschuhen in Rhodes Handschuhfach. Sie hatte auch ein kleines Spurensicherungsset, das sie ebenfalls herausnahm. Es war eine kleine Notfallausrüstung, aber besser als nichts. Und obwohl es zeigte, dass Rhodes vorbereitet war, deutete es ebenfalls an, dass sie sich nicht sonderlich bemühen würde, Chloe zu helfen. Warum würde sie ein Geheimnis darum machen, dass sie Handschuhe und Spurensicherungsausrüstung in ihrem Handschuhfach hatte, es sei denn, sie wollte sie für sich selbst behalten?
Entschlossen, sich nicht zu sehr von solchen Details aufreiben zu lassen, zog Chloe die Handschuhe an, während sie zurück ins Haus ging. Als sie wieder an Rhodes vorbeikam, reichte Chloe ihr das Spurensicherungsset. „Ich dachte, das könnten wir auch gebrauchen.“
Rhodes sah sie bissig an, als Chloe zum Fenster zurückkehrte. Sie überprüfte die abgeplatzten Stücke vom Rahmen und stellte fest, dass ihre Vermutung richtig gewesen war. Es würde jemandem von außerhalb erlauben, genug Druck auf das Schloss auszuüben, damit es aufsprang.
„Agentin Fine?“, sagte Rhodes.
„Ja?“
„Ich weiß, dass wir uns nicht sehr gut kennen, also werde ich dies so höflich sagen, wie ich kann: Können Sie bitte darauf achten, was zum Teufel Sie tun?“
Chloe drehte sich zu Rhodes um und sah sie trotzig an.
„Entschuldigen Sie bitte?“
„Um Himmels willen! Schauen Sie auf den Teppich unter Ihren Füßen!“
Chloe sah nach unten und ihr Herz wurde schwer. Dort befand sich ein Fußabdruck, nur ein Teil, aber eindeutig die obere Hälfte eines Fußabdrucks. Er bestand aus Staub und Dreck.
Und sie war darauf getreten.
Scheiße …
Schnell trat sie einen Schritt zurück. Rhodes nahm ihren Platz am Fenster ein und kniete sich hin, um sich den Abdruck anzuschauen. „Hoffentlich haben Sie ihn nicht so sehr ruiniert, dass er unbrauchbar ist“, spie sie.
Chloe biss sich auf die Zunge, um nicht gereizt zu antworten. Schließlich hatte Rhodes recht. Aus irgendeinem Grund hatte sie etwas so Auffälliges wie einen Fußabdruck übersehen. Ich bin einfach zu sehr mit mir beschäftigt, dachte sie. Vielleicht hat Johnsons Wechsel der Abteilungen mehr Auswirkungen auf mich, als ich dachte.
Aber sie wusste, dass es eine schlechte Ausrede war. Denn bisher war dieser Tatort im Wesentlichen nichts anderes, als das Sammeln von Beweisen – und das war es ja, was sie von Anfang an machen wollte.
Mit einem verlegenen und wütenden Gefühl verließ Chloe den Raum, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Gedanken zu sammeln.
„Großer Gott“, sagte Rhodes, als sie den Fußabdruck untersuchte. „Fine … warum schauen Sie sich nicht dort draußen um und sehen, ob Sie etwas Nützliches finden können? Es gibt Einschusslöcher in der Küchenwand, die ich mir noch nicht anschauen konnte, als sie draußen waren. Ich werde das hier zu Ende bringen …, wenn es überhaupt zu retten ist.“
Wieder musste Chloe einige abscheuliche Kommentare herunterschlucken. Sie war hier im Unrecht und das bedeutete, dass sie darüber hinwegsehen musste, dass Rhodes sich wie eine Zicke benahm. Also blieb sie ruhig und ging zurück in den zentralen Bereich der Wohnung, in der Hoffnung, einen Weg zu finden, es wiedergutzumachen.
Sie ging in die Küche und sah die Einschusslöcher, die Rhodes erwähnt hatte. Sie sah die Gehäuse in jedem Loch, mehrere Zentimeter tief im Gips. Sie war sich sicher, dass sie nur darauf basierend bereits herausfinden konnten, um welche Art Waffe es sich gehandelt hatte. Soweit es Chloe betraf, waren die Einschusslöcher ein Selbstläufer – ein einfacher Hinweis, der ihnen gerade genug Information liefern würde, um den Fall weiterlaufen zu lassen.
Vielleicht gibt es ja noch etwas anderes, dachte sie.
Sie ging zurück zum Flur und blieb dort stehen, wo der Flur mit dem Wohnbereich verbunden war. Wenn der Mörder tatsächlich durch das Fenster im Schlafzimmer hereingekommen war, war dies höchstwahrscheinlich der Standort, von dem die Schießerei begonnen hatte. Der Mangel an Blut oder Chaos im Schlafzimmer deutete darauf hin, dass dort nichts Gewalttätiges passiert war.
Sie schaute zur Couch und sah die Blutspritzer auf dem Boden davor. Wahrscheinlich der erste Schuss, dachte sie. Sie sah sich die Szene genau an und konnte sich alles in ihrem Kopf vorstellen. Der erste Schuss hatte jemanden auf der Couch getötet. Das hätte bewirkt, dass jeder andere auf der Couch schnell aufgesprungen war und vielleicht dabei den Couchtisch umgestoßen hatte. Vielleicht war derjenige darüber gestolpert oder hatte versucht, darüber zu springen. Unabhängig davon zeigte das Blut und die verschüttete Limonade auf der anderen Seite des umgestürzten Couchtisches, dass diese Person es nicht nach draußen geschafft hatte.
Es wunderte sie trotzdem. Sie ging langsam durchs Wohnzimmer und folgte dem Weg, den die Kugeln vermutlich geflogen waren. Die Menge an getrocknetem Blut auf der Rückseite der Couch gab ihr genug Anzeichen dafür, zu schlussfolgern, dass die dort sitzende Person sofort gestorben war. Sie konnte in der Couch kein Einschussloch sehen, was bedeutete, dass das Opfer irgendwo am Kopf getroffen wurde.
Chloe konnte leicht zwei Einschusslöcher in der Küchenwand sehen, etwa drei Zentimeter voneinander entfernt. Sie konnte sie von der Couch aus sehen. Aber wenn es dort zwei verirrte Schüsse gab, gab es vielleicht noch mehr woanders. Wenn es noch mehr gab, würde ihr das vielleicht erlauben, auf eine genauere Abfolge der Ereignisse in der gesamten Szene zu schließen. Sie ging zum Couchtisch und hockte sich hin. Wenn hier jemand gestolpert wäre, bevor er erschossen wurde, hätte der Mörder nach unten gezielt. Sie sah sich nach anderen verirrten Schüssen um und fand keine. Der Mörder hatte offenbar sein Ziel getroffen.
Sie sah jedoch etwas anderes, nachdem sie nicht einmal gesucht hatte. Rechts von ihr stand ein kleiner Schreibtisch an der Wand. Auf ihm standen eine dekorative Schüssel und ein gerahmtes Bild. Zwischen die Tischbeine gedrückt, gab es einen verschlissenen Weidenkorb mit alter Post und Büchern. Zwischen diesem Korb und den hinteren Beinen des Tisches befand sich ein Handy.
Sie hob es auf und sah, dass es ein iPhone war. Sie drückte auf die Einschalttaste und der Bildschirm wurde erleuchtet. Das Hintergrundbild war eine Abbildung von Black Panther. Sie drückte die Home-Taste und erwartete, dass der Sperrbildschirm angezeigt werden würde. Als dies nicht der Fall war, war sie überrascht. Stattdessen öffnete es sich ohne Probleme.
Es war wohl das Telefon des Sohns, dachte sie. Und vielleicht haben es die Eltern so eingestellt, dass es keine Gerätekennung gab, sodass sie jederzeit Zugriff darauf hatten.
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie sah. Sie sah das Gesicht eines kleinen Jungen mit seltsamen zombie-ähnlichen Merkmalen. Sie prüfte den Rand des Bildschirms und sah dann die verräterischen Anzeichen von Snap-Chat. Vor sich sah sie ein Video (oder einen „Schnappschuss“), der noch nicht gesendet worden war.
„Heilige Scheiße“, flüsterte sie.
Dann bemerkte sie, wie warm sich das Telefon anfühlte. Sie sah auf die Batterieanzeige in der oberen rechten Ecke und stellte fest, dass sie rot war.
Sie rannte mit dem Telefon in der Hand in Richtung Flur. „Rhodes, sehen Sie ein Ladegerät dort drinnen?“, schrie sie. Es gab eine kleine Pause, bevor Rhodes antwortete. „Ja. Auf dem Nachttisch.“
Als sie die Worte vollständig ausgesprochen hatte, war Chloe bereits im Raum angekommen. Sie sah das Ladegerät, von dem Rhodes sprach und rannte sofort darauf zu.
„Was ist es?“, fragte Rhodes.
Chloe kam nicht umhin zu denken: Das möchten Sie gerne wissen, Sie Zicke? Aber sie blieb ruhig, bis sie das Telefon ans Ladegerät angeschlossen hatte.
„Ich glaube, der Sohn war auf Snap-Chat, als der Mörder hereinkam. Und ich glaube, er wollte einen Schnappschuss an einen Freund senden. Nur, dass er nie die Chance dazu bekommen hat, ihn abzuschicken.“
Sie spielte das Video ab, das auf dem Bildschirm angezeigt wurde, als sie das Telefon gefunden hatte. Darauf war ein kleiner Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er streckte die Zunge heraus, sein Gesicht wurde vom Filter mit der zombie-ähnlichen Animation bedeckt. Innerhalb von zwei Sekunden ertönte der erste Schuss. Das Telefon wackelte und dann ertönte ein zweiter Schuss. Der Junge schien auf den Boden zu fallen, das Telefon ruckelte wieder herum und dann wurde der Bildschirm schwarz – wahrscheinlich landete es dort, wo sie es später hinter dem kleinen Schreibtisch gefunden hatte.
Damit endete der Schnappschuss. Die ganze Aufnahme war ungefähr 5 Sekunden lang.
„Spielen Sie es noch einmal ab“, sagte Rhodes. Chloe ließ das Video nochmals laufen und achtete dabei auf die verwackelten Momente. Etwa eine Viertelsekunde lang hatte sich im Flur eine Gestalt gebildet, die ins Wohnzimmer kam. Es war kurz, aber es war da. Und weil das Telefon relativ neu war, war das Bild trotz der hektischen Bewegungen relativ klar. Chloe konnte mit ihrem ungeübten Auge kein Gesicht erkennen, aber sie wusste, dass das FBI kein Problem haben würde, eine Bild-für-Bild-Analyse durchzuführen und das Filmmaterial zu verbessern.
„Das ist buchstäblich die rauchende Pistole“, sagte Rhodes. „Wo haben Sie das Telefon gefunden?“
„Unter dem Schreibtisch im Wohnzimmer, gegen die Wand gedrückt.“
Chloe konnte sehen, dass Rhodes von dem Fund begeistert war, ihr aber nicht zu viel Anerkennung schenken wollte. Stattdessen nickte sie zustimmend und machte sich wieder an die Arbeit, die Fußabdrücke unter dem Fenster abzustauben.
Sie beide hatten das Gefühl, dass Dank des Snap-Chat-Videos ihre Arbeit hier fast erledigt war. Sie hatten das perfekte Beweisstück und alles, was sie danach tun würden, wäre aufgrund von Methodik und Routine.
Chloe dachte, sie könnte genauso gut mitspielen und keine weitere Spannung zwischen ihnen beiden verursachen. Sie nahm das Telefon mit sich zurück ins Wohnzimmer. Sie ging dann in die Küche und begann, die Kugeln aus der Wand zu graben. Aber sie wusste, dass der Schlüssel zu dem Fall in dem Telefon lag, dass sie bei sich trug. Es würde den Mörder dieser Familie vor Gericht bringen. Und in ihrem Hinterkopf konnte sie nicht anders, als das Gefühl zu haben, dass dies zu einfach gewesen war. Sie war sich sicher, dass Rhodes über dasselbe nachdenken würde – und darüber, wie sie es für Chloe vielleicht nach hinten losgehen lassen könnte.
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