Am nächsten Morgen wurde Chloe unangenehm daran erinnert, wie der Rest ihrer Karriere strukturiert sein würde. Ihr Telefon klingelte um 5:45 Uhr. Der Anruf kam von einer der Führungskräfte, die unter Director Johnson arbeiteten. Sie hatte es kaum geschafft, ein heiseres „Hallo?“ zu krächzen, bevor der Mann am anderen Ende zu sprechen begann.
„Hier spricht Assistant-Director Garcia. Spreche ich mit Agentin Chloe Fine?“
„Ja, das bin ich.“ Sie setzte sich im Bett auf und ihr Herz hämmerte laut, als sie von einem Adrenalinstoß durchflutet und der Rest des Schlafs abgeschüttelt wurde.
„Sie werden Agentin Rhodes um sieben Uhr in Bethesda treffen. Sie werden gemeinsam an einem, wie wir glauben, so gut wie gelösten Fall von Bandengewalt arbeiten. Wahrscheinlich war es MS-13. Fragen sollten direkt unter dieser Nummer an mich gerichtet werden. Agentin Rhodes erhält genau dieselben Informationen. Nach diesem Anruf wird die Adresse per Textnachricht an Ihr Telefon gesendet. Haben Sie irgendwelche Fragen, Agentin Fine?“
Chloe war sich sicher, dass sie einige Fragen hatte, aber sie fielen ihr auf die Schnelle nicht ein.
„Nein, Sir.“
„Gut. Seien Sie vorsichtig und klug dort draußen, Agentin Fine.“
Und das war es. So hatte sie ihren ersten Auftrag erhalten. Sie wusste, dass sie in der Zukunft nicht so kommen würden; so viel wurde ihnen gestern bei der Orientierung gesagt. Trotzdem war es eine effektive Art ihren ersten Arbeitstag zu beginnen.
Sie hatte bereits am Vorabend ihre Kleidung bereitgelegt und geduscht und alles getan, um sicherzustellen, dass sie an ihrem ersten Tag nicht zu spät kam, zu was auch immer sie erwarteten würde. Sie zog sich an, schnappte sich einen Bagel mit Frischkäse und goss sich eine Thermoskanne Kaffee ein. Gestern Abend hatte sie die Kaffeemaschine auf 5:00 Uhr morgens programmiert. Währenddessen erreichte sie die Textnachricht von Assistant-Director Garcia mit der Adresse in Bethesda. Als Chloe zu ihrem Auto ging, waren seit dem Anruf nur fünfzehn Minuten vergangen.
Sie war schon mehrmals in Bethesda, Maryland, gewesen und wusste deshalb, dass es sich lediglich um eine kurze Fahrt handelte – etwas weniger als eine halbe Stunde, vor allem, weil sie so früh losgefahren war und den elendigen morgendlichen Pendlerverkehr vermied. Sobald sie die Straßen von DC verlassen hatte, gab sie die Adresse in ihr GPS-Gerät ein und sah, dass sie tatsächlich nur zweiundzwanzig Minuten entfernt war.
Sie wollte Danielle anrufen. Sie hatte das Gefühl, auf einen der denkwürdigsten und bedeutungsvollsten Momente in ihrem Leben zuzusteuern und hatte das Bedürfnis, es mit jemandem zu teilen. Aber sie wusste, dass Danielle noch schlafen würde und dass sie ihre Aufregung wahrscheinlich auch nicht verstehen könnte. Und das war für Chloe in Ordnung. Sie hatten verschiedene Interessen und Leidenschaften und keine von ihnen war je besonders gut darin gewesen, ihren Enthusiasmus vorzutäuschen.
Sie erreichte die Adresse zwei Minuten vor dem Zeitpunkt, den ihr das GPS genannt hatte. Es war ein heruntergekommenes, einstöckiges Apartmentgebäude, die Art, wie sie jedes Wochenende mindestens ein Dutzend Mal von der Polizei wegen Gewalt, Drogen, sexuellen Übergriffen und allen anderen nur vorstellbaren Dingen besucht wurde.
Sie hatte erwartet, vor Rhodes da zu sein, aber war ein wenig niedergeschlagen zu sehen, dass die andere Agentin nicht nur bereits dort war, sondern auch schon die Verandatreppe hinauf zum Tatort ging.
Genervt parkte sie am Straßenrand und eilte den Bürgersteig entlang. Sie schaffte es auf die Veranda genau in dem Moment, als Rhodes die Tür öffnete, um hineinzugehen.
„Guten Morgen“, sagte Rhodes, aber es war klar, dass sie es nicht meinte.
„Guten Morgen. Was haben Sie gemacht … sind Sie hierher geflogen?“
Rhodes zuckte nur mit den Schultern. „Ich brauche nicht sehr lange, um mich morgens fertigzumachen. Es ist okay, Agentin Fine. Es ist kein Wettrennen.“
Als sie eintraten, sahen sie einen Mann in der Mitte eines kleinen, vollgestopften Wohnzimmers stehen. Er drehte sich zu ihnen um und seine Augen blieben für einen Moment an Agentin Rhodes hängen. Sie trug eine schlichte schwarze Hose und ein konservatives weißes Oberteil. Ihre Haare waren geglättet worden und obwohl sie behauptet hatte, sie brauche sehr wenig Zeit, um sich fertigzumachen, war es offensichtlich, dass sie an diesem Morgen Make-up aufgelegt hatte.
„Sind Sie vom FBI?“, fragte der Mann.
„Ja“, sagte Chloe schnell, als ob sie sicherstellen wollte, dass der Mann wusste, dass hier zwei Agentinnen anwesend waren, nicht nur eine große Blonde.
„Agentin Rhodes und Fine“, sagte Rhodes. „Und Sie sind?“
„Inspektor Ralph Palace, Mordabteilung Maryland. Ich mache nur ein paar letzte Notizen, denn soweit ich es verstehe, ist dies jetzt Ihr Fall.“
„Was können Sie uns bereits über den Fall sagen?“, fragte Chloe.
„Es ist ziemlich simpel. Ein Mord mit Bandenzusammenhang. MS-13 ist in dieser Gegend weit verbreitet, also denken wir, sie waren es. Die Leichen eines Mannes, seiner Frau und ihres 13-jährigen Sohnes wurden gestern Nachmittag von hier entfernt, ungefähr sieben Stunden nachdem wir den Anruf erhalten hatten. Es gab Berichte über Schüsse und dann sah dieser Ort so aus.“ Er wedelte mit den Armen und deutete auf das Durcheinander in der Wohnung. „Ein paar schlichte polizeiliche Nachforschungen ergaben, dass der Vater einst Verbindungen zu einer rivalisierenden Bande hatte, den Binzos.“
„Wenn die MS-13 involviert ist, warum ist dann die Einwanderungsbehörde nicht alarmiert worden?“, fragte Chloe.
„Weil es noch nicht bewiesen ist“, sagte Palace. „Bei Bandenverbrechen mit Migrationshintergrund müssen wir uns ziemlich sicher sein. Ansonsten können wir Klagen und Missstände wegen der ungerechten Behandlung ethnischer Gruppen erwarten.“ Er schüttelte seinen Kopf und seufzte. „Wenn Sie es also auf die eine oder andere Art beweisen könnten, wäre das großartig.“
Er ging zur Haustür und nahm dabei eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. Es war keine Überraschung, dass er sie direkt an Rhodes reichte. „Rufen Sie mich an, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.“
Rhodes machte sich nicht die Mühe zu antworten, als sie die Karte einsteckte. Chloe nahm an, dass sie die Art Mädchen an der High-School und an der Uni gewesen war, die sich daran gewöhnt hatte, dass sie die ganze Zeit von Jungs angegafft wurde. Diese Begegnung mit Inspektor Palace war zweifellos nur ein weiterer dieser langweiligen Momente gewesen.
Chloe nahm sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen. Der Couchtisch vor dem Sofa war umgestürzt worden. Etwas – es sah aus wie eine dunkle Limonade – war während des Gerangels vom Tisch umgekippt. Die dunkle Flüssigkeit hatte sich mit etwas, das ganz deutlich getrocknetes Blut war, auf dem blassen zotteligen Teppich, der vom Wohnzimmer bis hin zur angrenzenden Küche reichte, vermischt. An den Wänden waren noch mehr Blutspritzer. Auch in der Küche war Blut auf dem Linoleumfußboden verschmiert.
„Wie wollen Sie es aufteilen?“, fragte Rhodes.
„Ich weiß es nicht. Wenn Schüsse abgefeuert wurden, besteht eine gute Chance, dass einer in eine Wand oder den Boden ging. Und der Unordnung nach zu urteilen, war es keine einfache Schießerei. Es gab einen Kampf. Und das sagt mir, dass es auch irgendwo Fingerabdrücke gibt.“
Rhodes nickte. „Wir müssen auch herausfinden, wie der Mörder hereingekommen ist. Haben Sie einen Blick auf die Haustür geworfen? Es gibt keine Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Das bedeutet also, eines der Familienmitglieder hat den Kerl hineingelassen – vielleicht jemand, den sie gut kannten und dem sie vertrauten.“
Chloe stimmte zu und war beeindruckt von Rhodes und der Art, wie sie die Tür bereits geprüft hatte, noch bevor sie hineingegangen waren.
„Warum sehen Sie sich nicht draußen um und suchen nach Anzeichen für gewaltsames Eindringen?“, schlug Rhodes vor. „Ich werde nachsehen, ob ich Anzeichen finden kann, welche Art Waffen hier benutzt wurden … sehen, ob es irgendwelche Kugelfragmente oder ähnliches gibt.“
Chloe nickte zustimmend, konnte aber bereits spüren, dass Rhodes versuchte, sich als Leiterin der Ermittlungen zu positionieren. Aber Chloe nahm es in Kauf. Auf der Grundlage dessen, was Palace ihnen erzählt hatte – und der Tatsache, dass dieser Fall zwei brandneuen Agenten unter Aufsicht eines Vorgesetzten zugewiesen worden war – wusste sie, dass dies nur eine kleine Aufgabe im großen Ganzen sein würde. Wenn Rhodes also bereits jetzt eine Art Machtspiel beginnen wollte, war dies nichts, weshalb sie sich irgendwie verbiegen würde. Zumindest noch nicht.
Chloe ging zurück nach draußen und ließ sich das Szenario durch den Kopf gehen. Wenn der Mörder jemand war, der die Familie kannte, warum gab es dann einen Kampf? Wenn der Mörder eine Waffe benutzt hatte, hätten drei Schüsse direkt hintereinander nicht viel Zeit für irgendeinen Kampf gelassen. Aber an der Tür gab es tatsächlich keine Anzeichen darauf, dass sie aufgedrückt wurde. Also war eine Art gewaltsames Eindringen wahrscheinlicher, als dass der Mörder einfach hereingelassen wurde. Aber wenn nicht an der Haustür, wo dann?
Sie ging langsam um das Gebäude herum und bemerkte, dass man es wirklich kaum als Apartmentgebäude bezeichnen konnte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es mehr so etwas wie sozialer Wohnungsbau war, möglicherweise als staatliche Hilfe angeboten. Das Gebäude befand sich am Rande einer Gruppe von vier identischen Häusern, die durch einen Streifen von überwiegend totem Gras voneinander getrennt wurden.
Auf der linken Seite gab es nichts. Mit Ausnahme eines kleinen Gastanks und eines kaputten Wasserhahns, neben dem ein Wasserschlauch nutzlos auf dem Boden aufgewickelt lag, war sie ohne weitere Merkmale. Aber als sie an die Hinterseite gelangte, sah sie gleich mehrere Möglichkeiten. Zuerst einmal gab es drei Fenster. Eines schaute in die Küche und die anderen beiden in Schlafzimmer. Es gab außerdem ein paar Betonstufen, die zu einer Hintertür hinaufführten. Sie prüfte die Tür und fand sie unverschlossen vor. Sie öffnete sich in einen sehr kleinen Raum, der wie ein Hauswirtschaftsraum aussah. Es gab ein paar dreckige Schuhe auf dem Fußboden und ein zerrissener schmutziger Mantel hing an einem Haken an der Wand. Sie überprüfte die Tür und den Rahmen und stellte fest, dass alles in Ordnung war. Aus ihrer Sicht konnte sie nicht erkennen, dass diese Tür zu irgendeinem Zeitpunkt in jüngster Vergangenheit aufgezwungen worden war.
Sie ging zu jedem Fenster, suchte nach etwas Verdächtigem und wurde nicht enttäuscht. Am dritten Fenster, hinter welchem sie das Hauptschlafzimmer vermutete, waren zwei kleine Holzstückchen aus dem Rahmen entfernt worden. Sie waren grob herausgebrochen, so, als wären sie abgeschlagen worden. Eins befand sich am unteren Rand, dort wo der Rahmen um die Kante der Scheibe lag. Das andere war am oberen Rand des unteren Teils des Rahmens. Was auch immer passiert war, um das Holz herauszubrechen, es hatte außerdem einen Riss im Glas verursacht, der jedoch nicht stark genug war, um es zu zerbrechen.
Sie wollte nichts anfassen, aus Angst, irgendwelche zurückgebliebenen Fingerabdrücke zu beschädigen. Aber als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie sehen, dass aufgrund dieser fehlenden Holzstückchen, jemand von draußen in der Lage gewesen wäre, das Schloss am Fenster zu öffnen.
Sie ging durch die Hintertür zurück ins Haus und begab sich ins Hauptschlafzimmer. Es gab keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass jemand durch das Fenster geklettert war. Sie wusste aber auch, dass gründliches Abstauben eine andere Geschichte erzählen könnte.
„Was machen Sie da?“
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