Читать книгу «Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Александра Иличевского — MyBook.
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XX

Sie mieden die Straße so gut es ging, ganz umgehen konnten sie sie aber nicht: Die Straße war ihre Ernährerin. Von den großen Kellergemeinschaften hielten sie sich allerdings fern. Dort musste man sich wohl oder übel anpassen: Ab einer bestimmten Anzahl Menschen (wie viele, das hing von ihren jeweiligen Eigenschaften ab) verfestigte sich immer die Gewalt der Macht. Wadja aber liebte die Freiheit, für sich und für andere. Er liebte sie nicht intuitiv, nicht einfach so, und eben diese erarbeitete Freiheit, die für Nadja unerreichbar war, schätzte sie an Wadja – und er war für sie die letzte Stütze im Leben[37].

In jeder Gemeinschaftsbehausung fanden sich zwangsläufig ein oder mehrere Bosse, die einen Tribut von den Tageseinnahmen forderten. Das geschah am Ende des Tages, wenn sich alle um den gemeinsamen Pott versammelten und jeder darin versenkte, was er am Tag erbeutet hatte.

Wadja und Nadja konnten kaum etwas beisteuern. Sie bettelten nur selten, wenn sie Geld für eine Reise oder für Medikamente brauchten. Oder Wadja für Hochprozentigen, wenns hart auf hart kam (Nadja trank nicht und schimpfte dann mit Wadja, aber sie half ihm trotzdem). Also dachte sich Wadja wieder Märchen aus, für die er immer Zuhörer fand.

In den Gemeinschaftskellern lebte es sich nicht schlecht: Es gab Sofas, Klappbetten, Teppiche, die Wände waren mit Zeitungen und alten Plakaten beklebt. Aber die Bosse und das Ungeziefer vergällten ihnen die Wärme der Gemeinschaft. Für die meisten war das einzige Ziel des Tages, sich am Abend zu betrinken – oft bis zur Bewusstlosigkeit. Einmal wurde Nadja bei einer ihrer Übernachtungen dort von einem klackernden Geräusch direkt neben ihrem Ohr geweckt. Sie öffnete die Augen. Vor ihr saß eine riesenhafte Ratte: glattglänzend, größer als eine Katze, ohne Augen. Die Ratte putzte sich. Dann setzte sie sich in Bewegung, schabte und klackte mit den Krallen über den Betonboden und zog dabei die Hinterbeine nach. Ganz wie Tjorka vom Sawjolowo- Bahnhof, der fette Invalide ohne Beine, der keinen Rollstuhl hatte.

In der Presnja, besonders in den Georgischen Straßen und im Tischinski-Viertel*, gab es genügend ergiebige Müllplätze. Dort ließen sich gute Anziehsachen finden, manche hatten nur kleine Flecken oder aufgeplatzte Nähte, andere waren sogar noch ganz neu. Mit Kleidung waren sie also versorgt. Einmal entdeckte Wadja in der Tasche eines erbeuteten Jacketts ein schweres Zigarettenetui und eine Sonnenbrille.

Nadja hatte ihn nicht gleich erkannt. Sie klopfte ihm auf die Schulter und sagte lachend:

»Du Künstler!«

Unter den Obdachlosen galt es als das große Los[38], wenn man in einer Mülltonne oder an einer Bushaltestelle von Taschendieben weggeworfene Dokumente fand. Dann konnte man auf einen Finderlohn des Besitzers hoffen, falls dieser sich noch keine neuen Papiere besorgt hatte.

Und einmal fand Nadja einen Sonnenschirm. Sie spazierte damit herum, als hielte sie einen Luftballon an einer Schnur: Sie hob den Ellbogen und schaute immer wieder von der Seite auf das luftige Seidenkonstrukt. Und Wadja sah großtuerisch zu ihr hin.

Die Mutter*

XXI

Vor ihrem Tod war die Mutter aufgelebt. Früher hatte sie immer nur geschimpft. Jetzt gab sie Ratschläge. Seit der Lähmung konnte sie schlecht sprechen, sie nuschelte mit tauber Zunge, und Nadja, die sie nicht immer gleich verstand, lachte manchmal und erklärte dann der Mutter, was falsch war und warum.

»Es ist Oktober, lauf nicht mit offener Jacke herum. Sei nicht so eitel! Bind dir was um den Kopf!«

»Benutz deinen Grips. Lass dir nichts einreden.«

Die Mutter gab eine knappe Anweisung, dann verstummte sie und dachte sich die nächste aus.

»Vergiss nicht: Gute Männer gibt es nicht. Halte dich an die, die nicht böse sind.«

Die Mutter war krank geworden, kaum dass sie ihr neues Zimmer bezogen hatten. Sie waren nach Pskow gezogen, weil dort ihre einzige Verwandte lebte, Mutters Cousine zweiten Grades. Wie sich herausstellte, war die Tante aber selbst in Not: Bei ihrer Scheidung war der Besitz geteilt worden, und so konnte sie ihnen keine Hilfe sein.

Nadja und ihre Mutter waren mit leeren Taschen aus Aserbaidschan gekommen: Ihre Wohnung in einem Vorort von Baku war nichts wert gewesen. Die Gesundheit der Mutter hatte in dieser schweren Zeit sehr gelitten – anfangs hatten sie die Nächte mal im Arbeiterwohnheim verbracht, mal am Bahnhof oder im Kloster, das gerade renoviert wurde. Die Tante kam und weinte sich bei ihnen aus: Sie hatte keine Kinder bekommen, und nach acht Jahren des Wartens war ihr Mann nun unerbittlich.

Die Mutter klapperte die Schulen und Kindergärten ab, aber ohne polizeiliche Anmeldung[39] bekam sie nirgendwo eine Arbeit. Sie wollte schon zurück nach Aserbaidschan. Da herrschte zwar auch Finsternis, aber die eigene, vertraute, man könnte sogar sagen: sonnige. Und da war das Meer. Am Meer ist alles leichter.

Dann startete das Sozialamt endlich ein Programm für Flüchtlinge, und sie zogen in eine Kommunalwohnung.

Obwohl Nadja eine Ausbildung am Technikum gemacht hatte, wollte sie niemand. Ihr Gesicht, das noch die Spuren der Schwachsinnigkeit trug, die die Mutter mit unmenschlicher Kraftanstrengung besiegt hatte, sicherte ihr bereits an der Türschwelle den Ruf der Bekloppten.

In der Wohnung lebten noch zwei weitere Parteien. Direkt neben ihnen hauste eine leise, pingelige Oma mit Papageien, die oft durch die ganze Wohnung flatterten, und einem Raben, der aus ihrem Zimmer stolziert kam, Jaschka hieß und so groß war wie ein Huhn. Die Alte erschien regelmäßig bei ihnen zu Kontrollbesuchen:

»Pardon, sind meine Vögel vielleicht bei Ihnen?«

Der Rabe konnte sprechen. Er hüpfte in der Küche aufs Fensterbrett, pickte auf die Geranie ein und krächzte: »Seid bereit! Immer bereit!«

Das andere Zimmer bewohnten zwei Alte, die täglich laut darüber stritten, ob ihr Sohn sie heute besuchen würde oder nicht. Manchmal hatten ihre Dispute wahre Sprengkraft. War in ihrem Zimmer wieder Ruhe eingekehrt, rollten polternd leere Flaschen über den Fußboden.

Die Mutter erlitt einen Schlaganfall[40], sie war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und verschied.

Vor ihrem Tod wurde sie unruhig. Sie rief ihre Cousine zu sich (Nadja war heulend, mit offener Jacke durch den Schnee gerannt, um sie zu holen), küsste ihr langsam die Hände und bat sie, sich um ihre Tochter zu kümmern.

Die Cousine jammerte, weinte und ging schnell wieder. Die Mutter trocknete sich die Tränen und gab ihrer Tochter zwei Tage lang Anweisungen:

»Lass dich nicht gehen! Dann gehts nur bergab.«

»Rechne! Rechnen ist wichtig. Weißt du noch, was ich dir mal über Pythagoras vorgelesen habe? Er hat auch die ganze Zeit gerechnet.«

»Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«

Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.

Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.

Aus den starren Augen flossen Tränen.

Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

XXII

Sie hatten in der Presnja ein paar regelmäßige Beschäftigungen. Unter anderem sahen sie bei der provisorischen Gedenkstätte für die Toten des Oktoberaufstandes nach dem Rechten[41].

Das kam so. Einmal im Frühling, am Totensamstag, hatten sie sich seit dem frühen Morgen auf dem Wagankowo-Friedhof herumgetrieben. Wadja war von Zeit zu Zeit zum Armenischen Friedhof auf der anderen Straßenseite gelaufen, in der Hoffnung, auch dort irgendeinen Handlangerdienst zu ergattern. Gegen Mittag brach Nadja ein paar Birkenzweige und schlich sich damit zu den verlassenen Gräbern. Sie fegte mit den Zweigen das Laub vom Vorjahr weg, riss das vertrocknete Unkraut aus, ging, mit verschämtem Gesicht leise vor sich hin flüsternd, zu den üppig geschmückten Gräbern und holte von dort Pralinen, Gebäck, Eier und künstliche Blumen.

Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.

»He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.

Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.

Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.

Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:

»Sachla*, Schluss jetzt! Sachla!« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.

Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.

Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.

Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.

Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.

Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.

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