Nadja setzte sich manchmal einfach nur auf einen Stuhl oder auf die bloße Kante – brav, würdevoll, aufrecht, legte die Hände auf die Knie, von Zeit zu Zeit seufzte sie, schaute nach oben, lächelte ein wenig, mit strahlenden Augen, rutschte, ruckelte wieder und wieder auf dem Stuhl herum, holte tief Luft und war von stiller, erwartungsvoller Freude durchdrungen. So saß sie manchmal stundenlang da, die weit geöffneten Augen auf ein unsichtbares Glück gerichtet.
Nadja war nicht von der feigen Sorte, aber ungeschickt. Machte vieles nicht so, wie sie wollte, und wenn sie etwas sagte, dann war es irgendwie komisch oder nicht das Richtige. So liebte sie auch Wadja – unbeholfen: Sagen kann sie nichts, stattdessen bespringt sie ihn, fällt im Spiel über ihn her, spielt, kitzelt: Liebt, lacht und fängt dann plötzlich an zu weinen, weint aus Scham, brummt, lächelt, wimmert, streichelt Wadja – und hat auch Mitleid mit ihm.
Eine Zeit lang träumte Nadja davon, wie sie ein Zimmer mieten, dass sie einen eigenen Haushalt, eine elektrische Herdplatte haben würden; dass sie sich ein Kätzchen zulegen und ihm aus dem abgeschnittenen Boden einer Milchpackung zu fressen geben würde. Die Krönung des Alltags bestand für Nadja im Besitz einer elektrischen Herdplatte.
In Pskow hatten Mama und sie eine besessen: Zwei Schamottesteine mit einer geschlängelten Rille, durch die sich die Heizspirale wand. Über der Platte, ganz verzückt von dem durchsichtigen Glühen, wärmte sich Nadja die Hände und röstete Brot. An frischem Brot würgte die Mutter, an geröstetem zu lutschen, fiel ihr leichter.
Wadja wollte nichts von einem Zimmer wissen, ihm war unklar, warum man für einen leeren Raum Geld zahlen sollte. Er war vollauf zufrieden mit trocken Brot (ihre Verpflegung bestand vornehmlich aus Brot und Kondensmilch) und einem Nachtlager auf Dachböden oder in verlassenen Waggons.
Zwar gab es immer weniger zugängliche Treppenhäuser, aber bis zum Winter würden sie schon etwas finden: Die Presnja war groß, es gab das Strelbischtschenski-Viertel, die alten Arbeiterbaracken am Schmitowski Projezd. Und schlussendlich die warme Toilette auf dem Georgischen Platz, zu deren Aufseherin, Sejnab, Wadja einen besonders guten Draht hatte[45]. Dort lungerte er gern herum, goss sich im Dienstkabuff Heißwasser ein, manchmal auch Kaffee, und hockte unter der Heizung im Warmen (kleine, gut beheizte Räume wurden von den Obdachlosen immer geschätzt).
Nur krank werden durfte man nicht. Krankheit verdammte einen zum Tod; die Straße duldet keine Kranken – man wird verlassen, vergessen.
Trotzdem sparte Nadja heimlich, und damit Wadja ihr das Geld nicht abnahm, trug sie es nicht bei sich, sondern versteckte es. An einem unzugänglichen Ort, bei der Bärin. Dorthin brachte sie auch den Kunstband von Matisse.
Ihr Leben in der Presnja war in vielerlei Hinsicht mit dem Zoo verbunden. Angefangen hatte es damit, dass Nadja eines Sonntags bei Sonnenaufgang vom Dachboden heruntergestiegen und zum Platz des Aufstandes geschlendert war.
Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.
Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war für sie eine Grundfeste im Leben. Den Sonntag sehnte sie herbei, an ihn dachte sie während der leeren und endlosen Woche.
Nur am frühen Sonntagmorgen zeigte Moskau sein wahres Wesen. Bei Sonnenaufgang ging Nadja in den Pawlik- Morosow-Park, schlenderte über die Wiesen, sammelte eifrig Müll, legte ihn neben die überquellenden Mülleimer. Sie trat hinaus auf die Krasnaja Presnja; die weite Straße eröffnete sich vor ihr als riesenhaftes Parallelepiped von rosa Luft; die Häuser – Reihen gerippter Fassaden, wie der raue Rand einer Muschel – stützten die schwebende luftige Weite. Die helle Pyramide des Hochhauses* ließ die Ferne gewaltig nahekommen. Der Asphalt erholte sich von den tagsüber dahinjagenden, drängelnden Autos. Ein Sprengwagen kroch am Straßenrand entlang und wirbelte mit seinem spritzenden Schnurrhaar Staub und kleinen Müll auf.
Nadja nahm die Abkürzung durch die Höfe, überquerte den Wolkow Pereulok und setzte sich auf eine Bank. Ein hoher Betonzaun umgrenzte eine felsige Insel. Gekrönt wurde sie von einem Berg, der mit zapfenförmigen Lehmhütten, Bienenstöcken und schwarz gähnenden Höhlen übersät war, mit Pfählen und dazwischen gespanntem Tauwerk: Stricken, Hängebrücken, Motorradreifen und an Rohrstücken aufgehängten Tarzanseilen.
Langsam erwachten die Makaken. Sie krochen aus den Hütten, setzten sich an den Eingang, putzten und kratzten sich, erstarrten. Das verschlafene, breite Gepräge ihrer Körper empfing dankbar die ersten Sonnenstrahlen.
Unten in den Gehegen erwachten die Orang-Utans. Langgezogene jaulende Uh-uh-uhs erfüllten die Umgebung.
In den oberen Etagen wurden die Lüftungsfenster zugeschlagen.
Der Pfau schrie, Hyänen gackerten, Gänse schnatterten, Schwäne knarzten, Raubvögel kreischten, Singvögel schmetterten.
Der morgendliche Lärm weckte Nadjas Fantasie. Der kakophone Vielklang durchdrang die durchsichtigen Freudenballons. Sie wiegte den Kopf und seufzte …
Als sie eine Weile gesessen hatte, stand sie unentschlossen auf, lief langsam los, durchquerte die Grünanlage, schaute lächelnd mal auf ihre Füße, mal nach oben, auf das Band des schaukelnden Himmels, schaute die Häuser an, die Fenster, in jedem hätte sie gerne mal gewohnt. Nicht lange, nur ein bisschen, mal ehrfürchtig hineingehen, sich das Leben betrachten, eine Parzelle seiner Heiligkeit – oder vielleicht nicht einmal hineingehen, sondern nur kurz vorbeischauen, mit angehaltenem Atem, wieder hinausgehen, ausatmen, weiterziehen … Und sie ging, glitt am schwankenden Strom der Schaufenster entlang, ein vorbeifahrender Bus berührte plötzlich als Druckwelle die wankende, tiefe Spiegelung, brachte die Ordnung der Straßenwerdung durcheinander: Himmel, Äste fielen nieder, die Straße wogte, stülpte sich auf zu einem Asphaltsee, Bordsteine, Parkumzäunungen zerschlugen, Autos kippten – und Nadja schauderte (plötzlich drehte sich ihr der Kopf und entschwand langsam und unmerklich: wen soll man bitten, schneller zu machen, hilf uns, Tod, langsamer Schritt) und lief dann, wieder eingerenkt, zurückgeschreckt, weiter, lief vergnügt, warum auch immer, wie Wadja, wenn er dem Hausmeister antwortete: »Wir sind Straßenmenschen, Mann. Straßenmenschen, klar?«
Und wieder strebte ihr Atem als Rinnsal aufwärts, in das leere, blendende Blau; wie sehr wünschte sie sich, dass dieses ungreifbare Ausströmen aufhören und sie mit einer leichten Umkehrbewegung erfüllen würde. Sie wusste nicht, wohin sie floss und was da spurlos in ihr verschwand, dafür gab es keinen Namen, nur ein kaltes Ästlein durchzog sie – von der Schulter durch die Brust zur offenen Hand. Langsam zog sie den Faden der Stadt durch sich hindurch, durch die Augen, bis nichts mehr übrig war.
Einmal setzte sich lärmend ein großer grauer Vogel auf einen Baum. Einer seiner Flügel hing herunter. Der Vogel saß da und schaukelte, dann streckte er den langen Hals in die Höhe, blähte den Kropf, nickte – sein furchtbarer Schrei ließ Nadja aufspringen. Wieder nickte der Vogel, blähte den Hals, brüllte und heulte. Als er genug geschrien hatte, flog er hinunter und klopfte mit dem Flügel auf die Erde.
Nadja nahm ihn in den Arm und trug ihn zum Eingang des Zoos. Der Milizionär holte einen Mann mit Brille und Regenumhang. Der ähnelte einer schmuddeligen rostigen Maschine. Sein Brillenbügel war mit Draht umwickelt. Er zog dem Vogel vorsichtig am Flügel. Der Vogel riss sich los, verschwand unter dem Umhang, der Mann half ihm raus und schnarrte mit schreckverzerrtem Gesicht:
»Was guckst du so? Bring die Gans zu Matwejew!«
Seit Nadja die Rohrdommel hergebracht hatte, war der Zoo ihr Reich.
Der Veterinär Matwejew hatte sie bei den Raubtieren herzlich willkommen geheißen. Ein grimmiger, dicker Trinker, der seinen Hass auf die Menschen durch die Liebe zu den Tieren wettmachte. Von allen Tierpflegern konnte nur er sich im Beisein der Mutter dem Nashornjungen nähern, um es zu untersuchen. Nur er konnte rund um die Uhr bei der Schimpansin wachen, die eine schwierige Schwangerschaft durchmachte. Nadja war er aus irgendeinem Grund zugetan[46].
Im Zoo zog sie orange Arbeitskleidung an und brachte Futterrüben zu den Gehegen. Sie schob einen kleinen Wagen von Futtertrog zu Futtertrog, packte das lange, kräftige Grünzeug und schleuderte die knorrigen rosa Köpfe hinüber. Gnus, Bisons, Yaks, Wisente, langschnauzige Kulane trotteten verschlafen zu den Trögen, schubsten sich gegenseitig mit ihren grässlichen Mäulern, knirschten und knarzten das saftige Grünzeug. Für die Kropfgazellen musste man die Rüben mit einem Handbeil zerteilen. Nadja schaffte das nicht. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, in welcher Hand sie das Beil halten sollte, und wurde starr vor Anspannung.
Wenn sie mit der Fütterung der Paarhufer fertig war, eilte Nadja zur Bärin. Die lief durch die graue Ödnis des leeren, weiten Geheges und zog die linke Hintertatze nach. Die Bärin war vollkommen kahl und sah aus wie eine nackte alte Frau. Sie war grau wie ein Stein. In der glatten Betonebene sah man sie nicht sofort. Auf Anweisung der Direktion wurde dem Publikum der Blick auf das Gehege durch Sperrholzplatten verwehrt. Das abstoßende, armselige Bild der Bärin war nicht für die Besucher bestimmt. Aus irgendeinem Grund hatte Matwejew verboten, sie einzuschläfern. Dem Direktor gesagt, eher würde er eigenhändig das gesamte Personal einschläfern.
Jeden zweiten Tag gab der Doktor Nadja für die Bärin eine Handvoll Undevit und Vitamin C. Sie zählte die Tabletten sorgfältig nach und notierte sich die Zahl auf der Handfläche.
Nadja hatte von sich aus begonnen, zu der Bärin zu gehen, niemand hatte sie darum gebeten. Es waren hungrige Zeiten, und die Raubtiere im Zoo wurden mit eingeweichtem Soja gefüttert; es gab die Idee, zur Fütterung mit Hundekadavern überzugehen. Streunende Hunde gab es – wegen des Hungers – in rauen Mengen. Die Obdachlosen scheuten sie wie das Feuer. Die herrenlosen Hunde wüteten, da die Müllplätze in der Stadt leer waren. Es gab Gerüchte von Rudeln, die in verfallenen Lagerhallen im Südhafen hausten. Diese Meuten umringten Menschen auf der Straße, drängten sie in die Ecke. Einige Besitzer hatten sich von ihren Rassezöglingen losgesagt. Zuweilen konnte man in den Rudeln bis zur Unkenntlichkeit abgemagerte Rottweiler, Moskauer Wachhunde, sogar Bernhardiner entdecken. Die Abdeckerei auf der Junnatow-Straße, aus der es nach giftigem Chlor roch, hatte dem Zoo angeboten, Hundefleisch zu liefern. Matwejew hatte das Angebot abgelehnt.
Die Bärin aß kein Fleisch. Ohne Schmeicheleien trottete sie auf Nadja zu und schaute ihr in die Augen. Sie hatte keine Zähne, schlürfte und leckte mit vorgestreckten Lippen lustlos das Soja-Gemisch, das Nadja ihr mit einem Holzklötzchen zermalmte.
Wegen des Geldmangels war der Zoo verwaist. Einen Großteil der Tiere hatte man auf Tierzuchtfarmen im Moskauer Umland untergebracht und auf Grasfutter gesetzt. Besucher gab es fast keine – der Anblick leerer Gehege machte keinen Spaß. Nur am Wochenende trafen sich Jugendliche vom Stadtrand im Zoo, setzten sich auf die Bänke und tranken Bier.
Die kahle Bärin streifte durch das Betonbecken. Die herabhängenden Falten, die runzelige Haut, der schmale Kopf, die runden, ledernen Ohren weckten Mitleid, doch der Ekel überwog. Als die Bärin vollends geschwächt war, scheuchte Nadja sie nachts in den hinteren Teil des Geheges, auf einen Zwischenboden, der mit Heu ausgelegt war. Warf ihren Mantel über sie und legte sich daneben. Die Bärin ruckelte herum, näher zu ihr hin. So wärmten sie einander.
Morgens schob Nadja ein Brett zur Seite und schaute nach ihren Ersparnissen. Zählte sie nach, steckte sie wieder zurück und saß dann noch lange verlegen mit rotem Kopf da.
Nachts war es im Zoo unheimlich. Die Bärin schnarchte immer wieder laut auf, wälzte ihren großen schlaffen Körper von einer Seite auf die andere, ihr stinkender Atem streifte über Nadjas Hals. Es war, als würden überall Amphibien aus den Terrarien herumkriechen. Nadja hatte gesehen, wie eng zusammengedrängt die Schlangen lebten – in Pappkartons mit Glühbirnen. Klar, dass sie ins Freie krochen, wenn es dunkel war. Schakale heulten, Yaks keuchten und stießen Dampfwolken aus, die den Nebel, der ihnen bis zu den Knien stand, in Wallung brachten. Zebras rannten trappelnd von einer Ecke in die andere und donnerten gegen die Stangen der Einzäunung. Enten rackerten wie bekloppt am Wasser. Otter spritzten herum. Walrosse schnauften. In den Futtertrögen raschelten und schmatzten Hamster – Hamster gab es im Zoo überall, Ratten gar nicht.
Bei ihrer letzten Übernachtung im Zoo überfiel Nadja in der Morgendämmerung Schüttelfrost. Sie öffnete die Augen. Es war still. Durch die Ritzen glomm dämmernd der graue Himmel.
Sie schlug den Mantel zurück und schaute sich um. Den ganzen ungestalten kahlen Körper entblößt, lag die Bärin mit starren feuchten Äuglein ausgestreckt auf dem Rücken.
Die Lippen waren nach oben gereckt, als suchten sie den Futternapf. Mit der Zeit erschlafften sie und öffneten sich zu einem Lächeln.
Matwejew zerlegte die Bärin als Futter für die Wölfe und Hyänen.
Der Tierpfleger Poliwanow – der Mann mit der kaputten Brille – verteilte das Bärenfleisch.
Nadja lief von Gehege zu Gehege. Sie schwenkte irgendwie seltsam den Arm, wiegte sich vor und zurück, und ihre Lippen tanzten, geräuschlos, als würde sie von etwas kosten – nicht die Luft, aber irgendetwas darin, weit weg.
Der Asiatische Wildhund rührte das Bärenfleisch nicht an.
Also warf Poliwanow die Portion zu den Geiern rüber.
Als Nadja sich daranmachte, die Knochen aufzulesen, gingen die Hyänen auf sie los.
Matwejew verband ihr den Knöchel und sammelte die restlichen Knochen selbst auf.
Den stinkenden Sack mit den Knochen schleppte sie auf den Dachboden im Strelbischtschenski Pereulok. Wadja sprang auf, wirbelte herum, stieß den Sack durch die Luke, so dass er auf den obersten Treppenabsatz polterte. Nadja stand verheult da, packte ihn an der Schulter, zog ihn runter und stampfte mit dem Fuß auf.
»Biste jetzt völlig übergeschnappt oder was?« Wadja versetzte ihr einen Hieb gegen die Brust.
Nadja schlug kraftlos zurück, blökte los.
Wadja schubste sie vom Dachboden hinunter. Stieg selbst hinterher. Zündete sich eine Zigarette an, lud sich den polternden Sack auf den Rücken und schleppte ihn, Rauch durch die Nase ausatmend, schnell zur Mantulinskaja, in den Park. Nadja lief ihm schaukelnd hinterher. Dann ging sie schneller, holte ihn ein und berührte den Sack.
Im Park wartete Wadja, bis ein paar Spaziergänger vorbeigegangen waren, dann warf er den Sack in den Teich.
Das Geld, das im Gehege versteckt war, hatte Nadja vergessen. Aber Matisse hatte sie noch.
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