Georg hatte in dem Fenster, wohin er sich zurückgezogen hatte, nicht so entfernt gestanden, daß er nicht jedes Wort der Streitenden gehört hätte. Er freute sich der warmen Teilnahme, mit welcher Frondsberg sich des unberühmten, verwaisten Jünglings angenommen hatte, zugleich aber konnte er sich nicht verbergen, daß sein erster Schritt in die kriegerische Laufbahn ihm einen mächtigen, erbitterten Feind zugezogen hatte. Der Truchseß war zu bekannt im Heer wegen seines unbeugsamen Stolzes, als daß Georg hätte glauben dürfen, Huttens vermittelnde und besänftigende Worte hätten jede Erinnerung an diesen Streit verlöscht, und daß Männer von Gewicht, wie Waldburg, in solchen Fällen der vielleicht unschuldigen Ursache ihres Zornes die Schuld nicht erlassen, war ihm aus manchen Fallen wohl bekannt. Ein leichter Schlag auf seine Schulter unterbrach seine Gedanken, und er sah, als er sich umwandte, seinen freundlichen Nebensitzer, den Schreiber des großen Rates, vor sich.
"Ich wette, Ihr habt Euch noch nach keinem Quartier umgesehen", sprach Dietrich von Kraft, "und es möchte Euch auch jetzt etwas schwer werden, denn es ist bereits dunkel, und die Stadt ist überfüllt."
Georg gestand, daß er noch nicht daran gedacht habe, er hoffe aber, in einer der öffentlichen Herbergen noch ein Plätzchen zu bekommen.
"Darauf möchte ich doch nicht so sicher bauen", entgegnete jener, "und gesetzt, Ihr fändet auch in einer solchen Schenke einen Winkel, so dürft Ihr doch sicherlich darauf rechnen, daß Ihr schlecht genug bedient seid. Aber wenn Euch meine Wohnung nicht zu gering scheint, so steht sie Euch mit Freude offen."
Der gute Ratsschreiber sprach mit so viel Herzlichkeit, daß Georg nicht Anstand nahm, sein Anerbieten anzunehmen, obgleich er beinahe fürchtete, die gastfreundliche Einladung möchte seinen Wirt gereuen, wenn die gute Laune zugleich mit den Dünsten des Weines verflogen sein werde. Jener aber schien über die Bereitwilligkeit seines Gastes hoch erfreut; er nahm mit einem herzlichen Handschlag seinen Arm und führte ihn aus dem Saal.
Der Platz vor dem Rathaus bot indes einen ganz eigenen Anblick dar. Die Tage waren noch kurz, und die Abenddämmerung war während der Tafel unbemerkt hereingebrochen, man hatte daher Fackeln und Windlichter angezündet; ihr dunkelroter Schein erhellte den großen Raum nur sparsam und spielte in zitternden Reflexen an den Fenstern der gegenüberstehenden Häuser und auf den blanken Helmen und Brustharnischen der Ritter. Wildes Rufen nach Pferden und Knechten scholl aus der Halle des Rathauses, das Klirren der nachschleppenden Schwerter, das Hin- und Herrennen der vielen Menschen mischte sich in das Gebell der Hunde, in das Wiehern und Stampfen der ungeduldigen Rosse, eine Szene, die mehr einem in der Nacht vom Feind überfallenen Posten, als dem Aufbruch von einem friedlichen Mahl glich.
Überrascht blieb Georg unter der Halle stehen. Der Anblick so vieler fröhlicher Gesichter, der kräftigen Gestalten, die in jugendlichem Mut ansprengten, kühne Reiterkünste übten und dann singend und jubelnd in kleinen Haufen abzogen und in der Nacht verschwanden.
Unwillkürlich streifte sein Auge nach jener Seite hin, wo er seinen Kampfpreis wußte. Er sah dort viele Leute an den Fenstern stehen, aber der schwärzliche Rauch der Fackeln, der wie eine Wolke über den Platz hinzog, verhüllte die Gegenstände wie mit einem Schleier und ließ sie nur wie ungewisse Schatten sehen; unbefriedigt wandte er sein Auge ab. "So ist auch meine Zukunft", sagte er zu sich, "das Jetzt ist hell, aber wie dunkel, wie ungewiß das Ziel!"
Sein freundlicher Wirt riß ihn aus diesem düsteren Sinnen mit der Frage, wo seine Knechte mit seinen Pferden seien? Wenn der Platz, worauf sie standen, heller erleuchtet gewesen wäre, so hätte vielleicht der gute Kraft eine flüchtige, aber brennende Röte, die bei dieser Frage über Georgs Wangen zog, bemerken können. "Ein junger Kriegsmann", antwortete er schnell gefaßt, "muß sich so viel als möglich selbst zu helfen wissen, daher habe ich keine Diener bei mir. Mein Pferd aber habe ich Breitensteins Knechten übergeben."
Der Ratsschreiber lobte im Weiterschreiten die Strenge des jungen Mannes gegen sich selbst, gestand aber, daß er, wenn er einmal zu Feld ziehe, den Dienst nicht so streng lernen werde. Ein Blick auf sein zierlich geordnetes Haar und den fein gekräuselten Bart überzeugten Georg, daß sein Begleiter aus voller Seele spreche, und die zierliche bequeme Wohnung, in welcher sie bald darauf anlangten, widersprach diesem Glauben nicht.
Das Hauswesen des Herrn von Kraft war eine sogenannte Junggesellenwirtschaft, denn Herrn Dietrichs Eltern waren längst abgeschieden, als er in das Mannesalter und zugleich in seinen Posten beim großen Rat eintrat. Er würde sich vielleicht längst um eine Genossin seiner Herrlichkeit umgesehen haben, wenn nicht die Anmut des Junggesellenlebens, der nicht zu verachtende Vorteil, von allen jungen Damen der Stadt als eine gute Partie angesehen und honoriert zu werden, vor allem aber, wie man sich ins Ohr flüsterte, die entschiedene Abneigung, die seine alte Amme und Haushälterin vor einer jungen Gebieterin hegte, ihn immer von diesem Schritt abgehalten hätte.
Herr Dietrich hatte ein großes Haus, nicht weit vom Münster, einen schönen Garten am Michelsberg, sein Hausgerät war im besten Stand, die großen eichenen Kasten voll des köstlichsten Linnenzeuges, das die Kraftinnen und ihre Zofen seit vielen Generationen in den langen Winterabenden zusammengesponnen hatten; die eiserne Truhe im Schlafzimmer enthielt eine erkleckliche Anzahl von Goldgulden, Herr Dietrich selbst war ein hübscher, solider Herr, ging immer geschniegelt und gebügelt, mit gesetztem, anständigem Gang in den Rat, hatte einen guten Haus- und Ratsverstand; war aus einer alten Familie: war es ein Wunder, wenn die ganze Stadt sein Leben pries und jedes hübsche Ulmer Stadtkind sich glücklich geschätzt hätte, in diesen bequem ausstaffierten Ehehimmel zu kommen?
Georg kamen übrigens diese Verhältnisse bei näherer Besichtigung nichts weniger als lockend vor. Die einzigen Hausgenossen des Ratsschreibers waren ein alter, grauer Diener, zwei große Katzen und die unförmig dicke Amme. Diese vier Geschöpfe starrten den Gast mit großen, bedenklichen Augen an, die ihm bewiesen, wie ungewohnt ihnen ein solcher Zuwachs der Haushaltung sei. Die Katzen umgingen ihn schnurrend, mit gekrümmten Rücken, die Amme schob unmnutig an der ungeheuren Buckelhaube von Golddraht und fragte, ob sie für zwei Personen das Abendessen zurichten solle? Als sie aber nicht nur ihre Frage bestätigen hörte, sondern auch den Auftrag (man war ungewiß, war es Bitte oder Befehl) bekam, das Eckzimmer im zweiten Stock für den Gast zuzurüsten, da schien ihre Geduld erschöpft; sie ließ einen wütenden Blick auf ihren jungen Gebieter schießen und verließ mit ihrem Schlüsselbund rasselnd das Gemach.
Der graue Diener hatte indessen einen Tisch und zwei große Armstühle an den ungeheuren Ofen gerückt; den Tisch besetzte er mit einem schwarzen Kasten, stellte zu beiden Seiten desselben ein Licht und einen silbernen Becher mit Wein, und entfernte sich dann, nachdem er einige leise Worte mit seinem Herrn gewechselt hatte. Herr Dietrich lud seinen Gast ein, an seiner gewöhnlichen Abendunterhaltung teilzunehmen. Er öffnete den schwarzen Kasten, es war ein Brettspiel.
Georg graute vor dieser Unterhaltung seines Gastfreundes, als er ihm erzählte, daß er seit seinem zehnten Jahr alle Abende mit der Amme an diesem Spiel sich ergötze. Wie öde, wie unheimlich kam ihm das ganze Haus vor. Das Rennen und Laufen der Amme hatte doch noch an Leben und Bewegung erinnert, jetzt aber lag Grabesstille über den weiten Gängen und Gemächern, nur zuweilen vom Knistern der Lichter, vom Ticken des Holzwurmes im schwärzlichen Getäfel und dem eintönigen Rollen der Würfel unterbrochen. Das Spiel hatte nie etwas Anziehendes für ihn gehabt, seine Gedanken waren auch fern davon, und die tiefe Melancholie der öden Gemächer und der Gedanke, nur wenige Straßen von ihr entfernt, doch den langersehnten Anblick der Geliebten entbehren zu müssen, breitete düstere Schatten über seine Seele. Nur die ungeheuchelte Freude Herrn Dietrichs, beinahe alle Spiele zu gewinnen, die seinem gutmütigen Gesicht etwas Angenehmes verlieh entschädigte ihn für den Verlust der langsam hinschleichenden Stunden.
Mit dem Schlag der achten Stunde führte Dietrich seinen Gast zum Abendbrot, das die Amme, trotz ihres Unmutes, trefflich bereitet hatte, denn sie wollte der Ehre des Kraftschen Hauses nichts vergeben. Hier öffnete auch der Ratsschreiber wieder die Schleusen seiner Beredsamkeit, indem er seinem Gast das Mahl durch Gespräch zu würzen suchte. Aber umsonst spähte dieser, ob er nicht von seinem schönen Mühmchen reden werde; nur eine Ausbeute bekam er: Kraft zählte unter den württembergischen Rittern, die in Ulm anwesend seien, auch den Ritter von Lichtenstein auf. Doch schon dieses Wort erweckte dankbare Gefühle gegen die Wendung seines Schicksals in ihm. Jetzt erst freute er sich, einer Partei beigetreten zu sein, die ihm sonst außer den berühmten Namen, die sie an der Spitze trug, ziemlich gleichgültig war. So aber hatte auch ihr Vater sich an dem Sammelplatz des Heeres eingefunden, und durfte er auch nicht hoffen, daß ihm das Glück vergönnen werde, an der Seite des teuren Mannes zu fechten, so trug er doch die Gewißheit in der Brust, ihm beweisen zu können, daß Georg von Sturmfeder nicht der letzte Kämpfer im Heer sei.
Der Hausherr führte ihn nach aufgehobener Tafel in sein Schlafgemach und schied von ihm mit einem herzlichen Glückwunsch für seine Ruhe. Georg besah sich das Gemach, zog die Gardinen vor und ließ die Bilder des vergangenen Tages an seiner Seele vorüberziehen. Geordnet und freundlich kamen sie anfangs vorüber, dann aber verwirrten sie sich, in buntem Gedränge führten sie seine Seele in das Reich der Träume, und nur ein teures Bild ging ihm heller auf, es war das Bild der Geliebten.
Georg wurde am andern Morgen durch ein bescheidenes Pochen an seiner Tür erweckt. Er schlug die Vorhänge seines Bettes zurück und sah, daß die Sonne schon ziemlich hoch stehe. Es wurde wieder stark und stärker gepocht, und sein freundlicher Wirt, schon völlig im Putz, trat ein. Nach den ersten Erkundigungen, wie sein Gast geschlafen habe, kam Herr Dietrich gleich auf die Ursache seines frühen Besuches. Der große Rat hatte gestern abend noch beschlossen, die Ankunft der Bundesgenossen auch durch einen Tanz zu feiern, der am heutigen Abend auf dem Rathaus abgehalten werden sollte. Ihm, als dem Ratsschreiber, kam es zu, alles anzuordnen, was zu dieser Festlichkeit gehörte, er mußte die Stadtpfeifer bestellen, die ersten Familien feierlich und im Namen des Rates dazu einladen, er mußte vor allem zu seinen lieben Mühmchen eilen, um ihnen dieses seltene Glück zu verkündigen.
Er erzählte dies alles mit wichtiger Miene seinem Gast und versicherte ihm, daß er vor dem Drang der Geschäfte nicht wisse, wo ihm der Kopf stehe. Doch Georg hatte nur für eines Sinn; er durfte hoffen, Marie zu sehen und zu sprechen, und darum hätte er gerne Herrn Dietrich für seine gute Botschaft an das freudig pochende Herz gedrückt.
"Ich sehe es Euch an", sagte dieser, "die Nachricht macht Euch Freude, und die Tanzlust leuchtet Euch schon aus den Augen. Doch Ihr sollt ein Paar Tänzerinnen haben, wie Ihr sie nur wünschen könnt; mit meinen Bäschen sollt Ihr mir tanzen, denn ich bin ihr Führer bei solchen Gelegenheiten und werde es schon zu machen wissen, daß Ihr und kein anderer zuerst sie aufziehen sollt; und wie werden sie sich freuen, wenn ich ihnen einen so flinken Tänzer verspreche!" Damit wünschte er seinem Gast einen guten Morgen und ermahnte ihn, wenn er ausgehe, sein Haus zu merken und das Mittagessen nicht zu versäumen.
Herr Dietrich hatte als sehr naher Verwandter schon früh am Tag Zutritt im Hause des Herrn von Besserer, besonders heute, da ihn seine vielen Geschäfte bei diesem Morgenbesuch entschuldigten.
Er fand die Mädchen noch beim Frühstück.
"Ich sehe Dir es an, Vetter", begann Berta, "Du möchtest gar zu gerne von unserer Suppe kosten, weil Dir Deine Amme heute einen Kinderbrei vorgesetzt hat; aber schlage Dir diese Gedanken nur gleich aus dem Sinn; Du hast Strafe verdient und mußt fasten—."
"Ach, wie wir so sehnlich auf Euch gewartet haben", unterbrach sie Marie.
"Jawohl", fiel ihr Berta in die Rede, "aber bilde Dir nur nicht ein, daß wir eigentlich Dich erwarteten; nein, ganz allein Deine Neuigkeiten."
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