Als Kind spielte er Pistonkornett, und das führte zu seiner Karriere als Militär.
Es schüttete im Sommer 1938. Platzregen den dritten Tag. Alle Brigaden saßen zu Hause, und nur die »Trotzkisten« wurden im Regen herausgeführt. Der Begleitposten kroch unter den Pilz, und wir bohrten. Mein Nachbar im Schurfgraben (Poljanskij) schrie los:
»Hör mal! Hör mal! Ich habe begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat. Keinen Sinn.«
Ich schwieg.
Am nächsten Tag legte sich Poljanskij unter einen Förderwagen, der von der Halde den steilen Hang hinabfuhr, der Förderwagen sprang über Poljanskijs Beine und schrammte sie ein wenig. Er stand auf und drohte dem Förderwagen mit der Faust.
Orlow, einer der Referenten Kirows*, mein Partner bei »leichter Arbeit« – Holzsägen für den Boiler.
»Kannst du die Säge schärfen[82]?« Das frage ich Orlow.
»Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung kann eine Quersäge schärfen.«
Kliwanskij zu mir:
»Unsere Brigade hat die Norm zu 40 % erfüllt – Strafration! Außerdem gibt es die Produktions-, die Stoßarbeiter- und die Stachanowration. Und zwei aus unserer Brigade haben die höchste Bewertung erhalten. Das sind die Stachanowarbeiter der Krankheit«, schrie Kliwanskij, »sie haben einen Rabatt.«
Den ganzen Krieg (vier Jahre) gab es amerikanisches Brot aus weißem kanadischen Weizen mit Maismehl. Die Häftlinge liebten dieses üppige Brot, die gewaltigen »Rationen«, aber Skeptiker sagten:
»Was ist das für ein Brot – keinerlei Scheiße, schon den zehnten Tag kann ich nicht austreten.«
Die Verteiler hassten dieses Brot. Das Brot bekamen sie nach Gewicht am Vorabend aus der Bäckerei, und über Nacht trocknete es ein. Wenn sie es nachts zu Rationen schnitten, zu 300, zu 400 Gramm, waren am Morgen, im Moment der Verteilung, 20–30 Gramm in jeder solchen »Ration« verloren. Eine große Tragödie mit Tränen, und manchmal auch mit Blut. Mit Fluchen und Eingaben und Schlägen auf jeden Fall. Nach den vier Jahren seufzten die Verteiler erleichtert.
Der Bauch des Dampfers[83] »Kulu« in Wladiwostok. Serjosha Kliwanskij, Wawilow und ich – möglichst nah ans Licht, möglichst nah an die Treppe. Mit uns lässt sich auch ein älterer, gefängnishaft bleicher Mann nieder, mit grünlichgelbem Gesicht. In der Hand hält er ein Buch, das einzige im Schiffsbauch. Und dazu noch etwas wie die »rothäutige Passportina«*, der Majakowskij-Band im roten Kartoneinband.
»Wir sind die-und-die.«
»Und ich Chrenow. Erinnern Sie sich bei Majakowskij«, er blättert in dem rothäutigen Band, »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«.
»Steht hier die Gartenstadt?« Wawilow lacht laut.
»Genau, genau.«
»Die rothäutige Passportina wird Sie hier nicht retten«, erklärt Kliwanskij.
Chrenow fürchtet sich, er ist schwerer Herzpatient. Doch das Paradox – die Krankheit hat Chrenow gerettet. Er schaffte es, seine Haftzeit zu beenden und als freier Bergwerkschef zu arbeiten, doch aufs »Festland« zurückzukehren schaffte er nicht. Er war »lebenslänglich«* ortsgebunden und starb, glaube ich, bald nach dem Krieg.
Die Brotausgabe im Durchgangslager in Sussuman. Eine Riesenschlange. Die Bude des Brotschneiders steht im Freien. Um sie herum vier Soldaten mit gefälltem Gewehr. Jeder Häftling kommt heran, erhält aus dem Fenster einen »Sechshunderter« und verschlingt ihn gleich, würgend, eilig – wenn er es nicht schafft, ihn aufzuessen, dann rauben, dann entreißen ihn ihm die Ganoven, die unweit sich drängen. Die vier Begleitposten bewachen ebendiesen Stehimbiss. Man hat versucht, das Brot in der Baracke auszuteilen – die Ganoven rauben es. Ohne Begleitposten zu verteilen – sie rauben es. Jetzt schafft es jeder, seine Tagesration hinunterzuschlingen.
Erziehungsarbeit unter den Ganoven. Ein Bergwerk, »Partisan«, 1938, im Winter – Januar – Februar, der Erzieher der Kultur- und Erziehungsabteilung Scharow:
»Der Staat sieht in euch seine Freunde, seine Helfer. Helft uns in unserem Kampf gegen die Faschisten, die Trotzkisten. Diese Volksfeinde wollen nicht arbeiten. Es sind die Leute, die euch in Freiheit verhöhnt haben.«
»Darf ich austreten?«
»Geh!«
Nach einer halben Stunde:
»Darf ich austreten?«
»Geh.«
Der Begleitposten erhebt sich von seinem Platz und kommt hinter die Halde:
»Zeig deine Scheiße vor, Dreckskerl! Ihr drückt euch hier.«
Ich liege im Krankenhaus, 1958, mit einem Neuropathologen. Ich erzähle:
»Vor meinen Augen empfing während des Kriegs ein Begleitposten eine Etappe von fünfundzwanzig Mann, setzte sie in ein Auto, stieg auf die Seitenwand und erschoss mit Salven aus der Maschinenpistole alle bis auf den letzten Mann.«
»Ein typischer epileptischer Anfall.«
Schilow 1942 (?) in Arkagala. Schilow ist ein junger Kerl von 25 Jahren, ehemaliger Häftling.
»Junggesellensteuer[84]? Verstehe ich nicht, das ist ungerecht. Denk doch selbst: hier gibt es überhaupt keine Weiber. Ich quäle mich und leide und soll auch noch Steuer zahlen für meine Quälerei. Auf dem ›Festland‹ ist es was anderes. Da lebt einer mit Frau, legt sich Kinder, eine Familie zu – und zahlt keine Junggesellensteuer. Ich kann mir keine Frau zulegen – und zahle Steuer. Das ist ungerecht.«
Das schrecklichste Jahr an der Kolyma ist 1938. 1939 sagte mir Iwan Bossych (ein Freier, ehemaliger Häftling), der Topograph, in der Kohleerkundung am Schwarzen See:
»Wir beide haben überlebt, weil wir Reporter, Journalisten sind. Verstehst du? Ich werde leben, obwohl ich Dinge gesehen habe, dass man danach nicht mehr leben sollte, aber ich werde leben, ich werde meinen jüngeren Bruder treffen – er glaubt an mich wie an Gott, und ich sage ihm die ganze Wahrheit über Stalin.«
Die Adresse von Iwan Nikolajewitsch Bossych – Ischim, Woroschilow-Str. 16.
Die einzige Möglichkeit zu überleben für einen »Trotzkisten« ist, Brigadier zu werden. Aber wie kann man kommandieren, jemandes Befehle ausführen, über jemandes Willen verfügen und nicht nur den Willen, auch über Leben und Tod von Menschen – es bedeutet, jemand wird sterben, und du bleibst am Leben. Nein, schon 1937 habe ich mir das Wort gegeben, niemals Brigadier zu werden, mich niemals mit Bitten oder Klagen über mein Schicksal an die Chefs zu wenden, nicht zu bitten und Pakete vom Festland abzulehnen – nur auf mich selbst zu zählen, auf mein »Glück«. Der einzige für mich mögliche Posten war die Tätigkeit als Feldscher, doch das erschien neun Jahre lang als Phantasie, und im zehnten wurde es plötzlich Wirklichkeit.
Die drei großen Lagergebote:
Glaube nicht – glaube niemand.
Fürchte nicht – fürchte nichts und niemand.
Bitte nicht – bitte niemanden um irgendetwas. Zähle auf nichts.
Die schreckliche Redensart im Lager »Stirb du heute, und ich morgen«.
1938 und 1937 arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern[85], und uns fehlten die Kräfte, die Schubkarre auf die Förderbrücke hochzubringen. Hilfshaken habe ich erst Ende 1938 gesehen. Über den zentralen Steg rollt man im Laufschritt.
Ich habe gelernt, die Karre zu kippen, auszuschütten und zurückzufahren über den »Leer-«Steg – die Schubkarre mit dem Rad voraus, mit den Griffen nach oben, dass die Arme ausruhen. Ich habe gelernt, mit der Schaufel zu arbeiten, habe irgendwann begriffen, warum der Stiel bis unters Kinn gehen muss, habe gelernt zu hacken, einen Fels abzutragen, zu bohren, aber ein Hauer ist aus mir nicht geworden – ich hungerte damals schon.
Den Winter mochte ich nicht. Ich hasste ihn. Jeden Tag stand ich auf wie zur Hinrichtung. In der Kälte kann man ja auch nicht denken. Du denkst an gar nichts – nur daran, dich zu wärmen. Ich habe gut verstanden, was ein Pferd fühlt. Ich fing an, wie ein Pferd, die Zeit für das Mittagessen ohne Uhr zu erraten – die Pferde in der Grube wiehern nämlich schon fünf Minuten vor dem Signal.
Die ersten Läuse erschienen schon Ende 1937. Die völlig verlauste Wollweste zog man mir von Mai an im Badehaus aus, der Badewärter bedampfte sie und wollte sie für sich nehmen, und ich fing an zu streiten, sie ihm »abzuschreien«, und wieder sammelten sich die Läuse. Es gab keine Desinfektionskammer, und bis in den Januar 1939 hatten wir ununterbrochen Läuse. Als man für einige Tage – ich hatte eine schöne Handschrift, und im März 1938 holte man mich ins MChTsch* (im Bergwerk »Partisan« waren um die dreitausend Häftlinge), die Lebensmittelkarten zu schreiben, da schlugen die Kameraden auf mir Läuse tot und beschwerten sich beim Chef, und der, der auf mein Verbrechen hingewiesen hat, übernahm meinen Platz im MChTsch. Der Platz war ja temporär.
Läuse sind etwas Schreckliches. Besonders viele hatte ich in Dshelgala 1943. Der gestrickte Baumwollschal bewegte sich, so viele waren sie da.
Kolesnikow Gawriil Semjonowitsch, ein Kamerad von Kossarjow, einer der wenigen, die sich das »Menschentum« bewahrt hatten, war in Dshelgala Sanitäter und Barackendienst. Er sagte zu mir:
»Was ist das Wichtigste in unserem Leben? Die Verschiebung der Maßstäbe. ›Etappen‹ und ›Durchgangslager‹ haben mir immer gefallen, weil hier auf ungreifbare Weise der Geist der Freiheit lebte, den es im Lager niemals gibt.«
Jeder ist für sich verantwortlich. Den Kameraden, den Partner nicht belehren, was er tun soll. Alles, was einen fremden Willen betrifft, ist nicht deine Sache – so die schlichten, aber schweren Lagergebote, die Erfahrung, Selbstbeherrschung und Furchtlosigkeit verlangen. Die Lagerchefs nahmen keinerlei kollektive Beschwerden und Proteste an. Jede Eingabe muss persönlich sein. Als aber die Frage der Bekämpfung von Fluchten anstand, da bestätigte die gesamte Brigade kollektiv, dass jeder den anderen beobachten und für Fluchten büßen wird. Und büßen mussten sie in Verhören, oder auch mit einem »Strafmaß«.
Ein beeindruckender Lagerausdruck, einer der geschliffensten: »Das Strafmaß in Gewicht ausgeben«, d. i. in den sieben Gramm der Kugel, erschießen.
Oder: »Das Strafmaß als Trockenration ausgeben«.
In der »Vitaminaußenstelle«. Schewzow, mein Partner:
»Gib mal das Beil.«
Er nahm mir das Beil aus den Händen und ging zu dem Baumstumpf, auf dem wir Brennholz gesägt hatten. Er legte die Hand auf den Stumpf, holte mit dem Beil aus, wurde blass, wurde blau, das Blut spritzte auf den Schnee und erstarrte sofort, ohne einzuziehen[86] – es war sehr kalt —, die drei abgehackten Finger verzogen sich und lagen im Schnee, kaum bemerklich, schmutzigen Holzspänen ähnlich. Schewzow krümmte sich zusammen und verstopfte mit dem Ärmel der Wattejacke das Blut.
Ich hob das weggeworfene Beil auf.
Schewzow wurde zum Krankenhaus geführt. Er wusste natürlich, dass man ihn im Krankenhaus nicht behalten wird, Gliederabhacker im Krankenhaus zu behalten war verboten – aber wenigstens einen Verband werden sie machen, das Blut zum Stillstand bringen.
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen.
»Gute« Kaderakten-Daten sind: Russe, nie im Ausland gewesen, keine Fremdsprachen. Viele hielten ihre Sprachkenntnisse geheim.
Im Lager sagt man nicht: »zur Arbeit geführt« oder »zur Arbeit gegangen«, man sagt: »zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht«[87]. So und nur so sagen alle – die Chefs wie die Hftl./
Hftl.* selbst.
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