Es schüttet. Alle Brigaden sind von der Arbeit entlassen wegen des Regens, alle außer unserer. Ich werfe die Arbeit hin, werfe die Hacke hin, dasselbe tut mein Partner. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Man führt uns durchs Lager zum diensthabenden Kommandanten. Das sind nur Erinnerungen – wahrscheinlich Frühling 1938 … An der Kolyma unterscheidet sich der Frühling nicht vom Herbst. Irgendwie gab es im Mai 1938 in der Zone noch keinen Isolator, es gab nur den diensthabenden Kommandanten. Man führte uns in die Baracke und stellte uns an der Wand auf.
»Sie wollen nicht.«
Ich erklärte, dass alle Brigaden wegen des Regens entlassen wurden und nur …
»Still, du Aas …«
Der Kommandant trat nah an mich heran und streckte … Er schlug nicht, schoss nicht, knuffte nur – und durch die durchnässte Wattejoppe, Feldbluse und Wäsche brach er mir eine Rippe.
»Weg hier.«
Ich hinkte und kroch los in Richtung Baracke. Ich begriff von Anfang an, dass die Gesetze nur Märchen sind, und schonte mich, wie ich konnte, aber konnte mir nichts bewahren. Außerdem ging ich diesen ganzen Sommer jeden Tag Brennholz sägen oder in die Bäckerei, oder irgendwo in die Baracke der bytowiki. Es ist so, dass im Lager jeder Diener seinen Diener haben will. Und diese Rationen, eine Wassersuppe über die Ration hinaus, waren, obwohl wir keine Kräfte hatten, von Bedeutung für die Erhaltung des Lebens. In der Grube arbeitete ich schlecht und rief keinen dazu auf, gut zu arbeiten, ich habe keinem einzigen Menschen an der Kolyma gesagt: los, los.
… Eben hier, in den Einbrüchen des Gedächtnisses[66], verliert sich auch der Mensch. Der Mensch verliert sich nicht sofort. Der Mensch verliert die Kraft, und zusammen mit ihr auch die Moral. Denn das Lager ist der Triumph der physischen Kraft als moralischer Kategorie. Hier ist die Intelligenz von einer doppelten, dreifachen, vierfachen Gefahr umgeben. Iwan Iwanowitsch* wird niemals einen Kameraden unterstützen, und der Kamerad wird zum Ganoven, zum Feind, um sein Schicksal zu retten. Das ist ein Bauer, natürlich. Der Bauer wird sterben, wird ebenfalls sterben, aber nach der Intelligenz. Stirb du heute, und ich morgen. Die Ganoven stehen außerhalb des Moralgesetzes. Ihre Stärke ist die Zerstörung, doch auch bis zu ihnen wird Garanin kommen. Der Ganove, der Liebling Bersins, ist für Garanin ein Verweigerer. Doch es geht nicht darum, ich muss irgendeinen Schritt zu fassen bekommen, einen persönlichen eigenen Schritt, mit dem ein wichtiges Zugeständnis gemacht wurde: Beim Durchgehen im Gedächtnis, diesem Filmstreifen des Gehirns, sieht man, dass es auch kein Zugeständnis gab. Dieser Prozess ist zeitlich sehr kurz – du bist noch nicht einmal zum Zuträger geworden, man bittet dich nicht einmal darum, sondern jagt dich einfach zur Arbeit in die Kälte und in den endlosen Arbeitstag, in den Frost der Kolyma, der keine Schonung kennt.
Jemandes Augen überfliegen dich, wählen, bewerten und bestimmen deine Eignung zum Arbeitsvieh und ob deine letzten Schritte ins Paradies kurz oder lang sein werden. Du denkst nicht ans Paradies, denkst nicht an die Hölle – du spürst einfach jeden Tag Hunger, den nagenden Hunger[67], [unleserl.]. Und dein Kamerad, der stärker ist als du, der schlägt und rempelt[68] dich und weigert sich, mit dir zu arbeiten. Ich habe damals gar nicht begriffen, dass ein Bauer, der sich beim Brigadier und den Chefs über Iwan Iwanowitsch beschwert, einfach seine Haut rettet. All das war mir tief gleichgültig, all diese Sorgen um mein Schicksal als noch lebender Mensch.
Ich denke zurück, versuche an alles zurückzudenken, das im ersten Winter geschah – das heißt von November 1937 bis Mai 1938. Denn die übrigen Winter, es waren viele, habe ich irgendwie auf gleiche Weise aufgenommen – mit Gleichgültigkeit und Erbitterung, mit einer Beschränkung der Mittelressourcen zur Rettung: bei einem Schlag – umfallen, bei einem Fußtritt – sich zum Knäuel ballen[69] und den Bauch stärker schützen als das Gesicht.
Denunzianten sind alle, man denunziert einander gegenseitig von den allerersten Tagen an. Der Bauer aber verpfiff all die, die in den Gruben neben ihm standen und ein paar Tage vor ihm selbst starben.
»Sie sind es, Iwan Iwanowitsch, der uns vernichtet hat, Sie sind der Grund für all unsere Verhaftungen.«
Alles, um den Nachbarn ins Grab zu stoßen – durch ein Wort, mit dem Stock, mit der Schulter, mit einer Denunziation.
In diesem Kampf starben die Intelligenzler stumm, und wer hätte auch auf ihre Schreie gehört unter den erbitterten fuchsteufelswilden Charakteren – keinen Visagen natürlich, sondern ebensolchen dochodjagi. Doch sofern sich an einem Bauern, einem dochodjaga auch nur ein Stückchen Fleisch, ein Nervenfragment gehalten hatte – dann nutzte er es, um zu denunzieren oder seinen Nachbarn Iwan Iwanowitsch zu beleidigen, zu stoßen, zu schlagen, sich abzureagieren. Er selbst wird sterben, aber bevor er tot ist, soll zuerst der Intelligenzler ins Grab gehen.
Einer der Allerersten hat sich im [Gedächtnis] erhalten. Derfel, ein französischer Kommunist, aus Cayenne, ehemaliger TASS*-Mitarbeiter, flink und klein, was sehr günstig war – an der Kolyma ist es günstig, klein zu sein. Derfel hackte, und ich füllte in die Karre.
Derfel:
»In Cayenne, wo ich vor der Kolyma war, gibt es auch solche Steinbrüche, habe ich ebenfalls gehackt, Hacke und Karre, bloß gibt es dort nicht solche Kälte.«
Und es war noch goldener Herbst, darum habe ich mir auch den Tag gemerkt, den grauen Stein und das kleine Figürchen Derfels, der plötzlich mit der Hacke ausholte und umfiel, tot.
In dieser Zeit wurden alle in eine einzige Baracke getrieben, in ein Segeltuchzelt, wo man uns stehen ließ, etwa vierhundert Mann. Sie überprüften irgendetwas und schossen in die Luft. Und ich merkte, dass mein Nachbar, ein holländischer Komintern*-Mann im Samtwestchen, an meiner Schulter schläft, vor Schwäche das Bewusstsein verliert. Ich stieß ihn an, aber Fritz wachte nicht auf, sondern wurde langsam schwach und glitt auf den Boden. Doch da fingen sie an, uns aus dem Zelt hinauszuführen, hinauszustoßen, und er wachte auf und lief zusammen mit mir, und beim Rausgehen fiel er an der Baracke hin, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
All das – Derfel, den Holländer Fritz – hat mein Gedächtnis eingefangen, aber an das Namenlose, das starb, haute, schubste und einen großen Teil meines Wesens füllte, jene Tage und Monate – kann ich mich einfach nicht erinnern.
Was war denn dort?
Als Vertreter der »Intelligenz« fühlte ich keinerlei »Schuld« vor dem Volk. Karrieristen und Geschäftemacher aber wittere ich dafür mit aller Kraft des Spürsinns[70] – und täusche mich nicht.
All das – Derfel wie auch das Festhalten bei der Arbeit der Kljujew-Brigade im Dezember 1937 – all das sind sozusagen die oberen Etagen meines Körpers. Schwer rückrufbar ist das, was das Gedächtnis nicht behielt – der Schmerz des Körpers und allein des Körpers.
Wir hatten keine Zeitungen, und die Korrespondenz wurde mir schon von einem Moskauer Papier* entzogen. Ich hatte keinen Wunsch, irgendetwas von Ereignissen außerhalb unserer Baracke zu wissen. All das war so unendlich unwichtig und auf lange, ein Dutzend oder noch mehr Jahre, aus dem Kreis meiner Interessen verdrängt.
Wie ist denn das passiert an meinem persönlichen Beispiel, dem Beispiel meines Körpers?
Schon die zweimonatige Etappe mit der Hungerration war Vorbereitung auf ernstere Dinge – die Schläge, die Kälte, die unendliche Arbeit, die mich im Dezember 1937 im »Partisan« empfing.
Die Beine wurden schwer, die Haut eiterte, es kamen Läuse, und die Hände erfroren und bekamen Blasen[71]. Doch all das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war der ständige Hunger. Ich lernte schnell, das Brot getrennt von der Suppe zu essen, es später in einer Konservendose aufzukochen und aufzublähen[72] und aus dieser Dose zu schlürfen. Keinerlei Interesse an irgendeinem der Gespräche in der Baracke. Ich wollte meine Wäsche eintauschen gegen Brot, aber kam zu spät – es gab eine Durchsuchung, und alles Überzählige ging als Einnahme an den Staat. Aber auch das war mir egal. In Teilen meines Gehirns empfand ich wohl zwei <Dinge>. Die vollkommene Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Dass der Tod ein Glück wäre. Doch zum Tod konnte ich mich nicht entschließen aus irgendwelchen sonderbaren Gründen – der Schmerz in den Fingern nach der Erfrierung, ins Ambulatorium ging ich nicht, der Krankenhausfeldscher Ljogkoduch würde mich, wie damals alle Feldscher, als Intelligenzler und Trotzkist gleich zu den »Soldaten« geben. So machten es alle Feldscher und Ärzte in den Bergwerken, so machten es Lunin wie auch Mochnatsch. Acht Jahre nach 1937 taten dasselbe auch Winokurow, auch Doktor Doktor, auch Jampolskij – Kontakt mit dem Krankenhaus war gefährlich. Jedoch nicht qua Logik, sondern mit dem Instinkt eines Tiers begriff ich, dass ich nicht hingehen sollte, wo sich die »Stachanowarbeiter der Krankheit« drängen. Und tatsächlich, sie alle wurden in Garanins Tagen erschossen als Ballast. Und wer machte die Erschießungslisten? Für das »Partisan« waren das der Arbeiter Rjabow, Anissimow – der Bergwerkschef, Kowalenko, Chef des Lagerpunkts, und Romanow, der Bevollmächtigte.
Die Schlafstellen neben mir waren leer. Unsere Brigade wurde mal in eine andere Baracke verlegt und mit einer anderen vereinigt, mal aufgelöst, und ich zog von Baracke zu Baracke. Als Arbeiter war ich mies, mein Erscheinen in der Baracke war für den Brigadier keine Freude. Aber mir und vielleicht auch ihnen war es ganz egal. Mir ist nicht mal im Gedächtnis geblieben, wann sie anfingen mich zu schlagen, wann ich zum dochodjaga wurde, den jeder stoßen und schlagen will: der Bauer, um die Aufmerksamkeit der Chefs auf seine politische Ergebenheit gegenüber der Sowjetmacht zu lenken, der Ganove …
Hier kommt es zu einem Zustand, dass du selbst schwach wirst und außerstande bist, Rückgeld zu geben. Und sofort beginnt man dich auch zu stoßen und zu schlagen. Ich bin diesen Weg etwa 1938 gegangen. Aber auch im Dezember 1937 schon wurde ich gestoßen und geschlagen …
Ich kroch über irgendeinen Schneeweg und sammelte Reste von Kohlblättern, um sie in der Konservendose aufzubrühen, abzukochen. Ich kroch eine ganze Ewigkeit, aber sammelte nichts zusammen – es war schon jemand vor mir gekrochen, und aus dem, was ich sammelte, ließ sich keine Suppe kochen. Ich schluckte die Stücke gefroren herunter.
In diesem Moment verlegte man unsere Brigade, die im zweiten Abschnitt arbeitete, in den ersten, und in diesem ersten Abschnitt in Sujews Brigade. Hier fragte Sujew, ein Bauernbursche so um die 30, nach Schreibkundigen, die ihm eine Beschwerde schreiben konnten, und so, dass alle Staatsanwaltsherzen weich werden. Sujew suchte nach einem solchen Autor in der Brigade. Sujew hatte gerade eine Haftstrafe für Bestechlichkeit bekommen – doch er versicherte seine Unschuld. Wichtig war, die Beschwerde gut abzufassen. Als er sah, dass ich neu bin in der Brigade, nahm mich Sujew beiseite und sagte: »Du wirst im Warmen sitzen und mir die Beschwerde schreiben.«
»Gut«, sagte ich. »Gib mir Papier, gleich morgen fangen wir an.«
Nicht mal ein Stück Brot gab mir Sujew für die Beschwerde, doch, so schwer es dem Hirn auch fiel sich zu rühren, ich fasste diese Beschwerde ab.
Am folgenden Tag las sie Sujew den Arbeitsanweisern vor, sie fanden, dass die Beschwerde schlecht geschrieben ist und den Staatsanwälten nicht ins Herz stechen wird. Sujew tat es leid um seine Brotration, noch dazu hatte jemand gesagt, dass er sich um die literarische Hilfe an einen Volksfeind, einen Trotzkisten gewandt hatte.
Am folgenden Tag gab es statt der fortgesetzten Arbeit an der Beschwerde ein Verprügeln des Advokaten. Sujew warf mich mit einem Schlag um und trampelte, trampelte auf mir herum im Schnee. An diese Backpfeife erinnere ich mich gut. Ich bin schon allzu leicht gefallen – war alles, was ich dachte. Und obwohl mir die Zähne blutig geschlagen waren, tat es aus irgendeinem Grund nicht weh.
Die Kampagne zur physischen Vernichtung der Volksfeinde hatte begonnen an der Kolyma, und Sujew teilte dem Bevollmächtigten eilig mit, dass er, der Arbeitsanweiser, ein solch schreckliches Verbrechen vor dem Staat begangen und einen Trotzkisten gebeten hat, ihm eine Beschwerde zu schreiben. Ebendarum ging es im Dezember 1938, als man mich im Bergwerk verhaftete und nach Jagodnoje brachte, zum Chef des örtlichen NKWD, Genosse Smertin*.
»Jurist?«
»Jurist, Bürger Natschalnik.«
»Du hast Beschwerden geschrieben?«
»Ja.«
»Gegen Brot?«
»Gegen Brot und auch so.«
»Ins Gefängnis mit ihm.«
Aber all das war ein Jahr später, und erst heute denke ich, dass sich Sujew beeilt hat, seinen Fehler zu gestehen, als er im Dezember 1937 die Denunziation gegen mich, das Geständnis schrieb.
Ich erinnere mich, all diese Zeit bemühte ich mich, noch irgendwo sonst zu arbeiten: Putzen und Holzsägen gegen eine dünne Brühe oder Brotrinde. Auf so eine Arbeit nach 14 Stunden Grube war mein ganzer Körper, meine ganze Person ausgerichtet, unter Mobilisierung sämtlicher physischen und geistigen Kräfte. Manchmal gelang es – mal in der Bäckerei, mal beim Putzen, obwohl es maßlos schwer war. Anschließend, wenn ich mich zur Schlafstelle schleppte[73], fiel ich auf ein, zwei Stunden in einen Todesschlaf, bis zum nächsten Arbeitstag. Doch auch Sujew – all das ist schon auf den »oberen« Etagen des menschlichen Willens.
Ich arbeitete schlecht vom ersten Tag an. Und damals wie heute halte ich die physische Arbeit für einen Fluch des Menschen, und die erzwungene physische Arbeit auch für die größte Beleidigung des Menschen.
Natürlich waren für einen Trotzkisten alle Anrechnungen von Arbeitstagen und weitere Lager<prämien> gestrichen.
Die totale Schlacht zu erfahren – wer bleibt auf den Beinen und wer stirbt – war jedem gegeben, eben gegeben.
Die Gewalt über einen fremden Willen hielt und halte ich noch heute für das schwerste menschliche Verbrechen. Darum war ich auch niemals Brigadier, denn der Lagerbrigadier ist ein Mörder, ist der Mensch, die physische Person, mithilfe deren der Staat seine Feinde umbringt.
Und die über das Jahr 1938 angehäufte Erfahrung war eine organische Erfahrung, wie ein unbedingter Reflex. Auf die Anweisung »Los!« antwortet der Häftling mit sämtlichen Muskeln – nein. Das ist ein physischer wie auch geistiger Widerstand. Auf dem Pfad in die Goldgrube begegnen sich Staat und Mensch von Angesicht zu Angesicht in der intensivsten, offensten Form, ohne Künstler, Literaten, Philosophen und Ökonomen, ohne Historiker.
Manchmal regt sich ein Gefühl: wie schnell bin ich schwach geworden. Doch genauso schwach geworden waren meine Kameraden rundum, und ich konnte mich mit niemandem vergleichen. Ich erinnere mich, man bringt mich irgendwohin, führt mich raus, stößt mich mit dem Kolben[74] und dem Stiefel, ich krieche irgendwohin, schleppe mich rempelnd dahin unter einer ebensolchen Menge von abgefrorenen, hungrigen Zerlumpten. Das sind Winter und Frühling 1938. Vom Frühjahr 1938 an gab es an der ganzen Kolyma, besonders im Norden, im »Partisan«, Erschießungen.
Eine panische Furcht, uns irgendeine Hilfe zu gewähren, eine Brotrinde hinzuwerfen.
Selbst heute noch schreibt man Bände von Erinnerungen – ich habe jene erschossen und vernichtet, die vom Hauch des tödlichen Windes berührt wurden, der auf Stalins Befehl Trotzkisten vernichtete, die keine Trotzkisten waren, sondern bloß Antistalinisten, und noch nicht einmal Antistalinisten – Tuchatschewskij, Krylenko*. Die Trotzkisten selbst trugen ja keinerlei Schuld.
Wäre ich Trotzkist gewesen, ich wäre längst erschossen, vernichtet worden, doch schon die zeitweilige Berührung hat mir ein ewiges Brandmal[75] beschert. So sehr fürchtete sich Stalin. Wovor fürchtete er sich? Vor dem Verlust der Macht – nichts sonst.
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