Jetzt hatte er Naphta gar "Padre" genannt! Hans Castorp ver-merkte es mit hohen Augenbrauen. Man ließ es geschehen, daß Settembrini den Aufbruch leitete, über die Vettern verfügte und nicht in Frage kommen ließ, ob Naphta vielleicht sich anzu-schließen wünsche. Die jungen Leute verabschiedeten sich, ebenfalls dankend, und wurden wiederzukommen ermutigt. Sie gingen mit dem Italiener, nicht ohne daß Hans Castorp das Buch "De miseria humanae conditionis", einen morschen Papp-band, leihweise mit auf den Weg bekam. Noch immer saß der sauerbärtige Lukaçek auf seinem Tisch, das Ärmelkleid für die Alte fertigend, als sie an seiner offenen Tür vorüberschritten, um die fast leiterartige Stiege zum Dachgeschoß zu gewinnen. Das war übrigens, klar geschaut, gar kein Geschoß. Es war ein-fach der Dachstuhl, mit nacktem Gebälk unter der Innenseite der Schindeln und mit der sommerlichen Atmosphäre des Spei-chers, dem Geruch warmen Holzes. Aber der Dachstuhl enthielt zwei Kammern, und diese bewohnte der republikanische Kapi-talist, sie dienten dem schöngeistigen Mitarbeiter an der "So-ziologie der Leiden" als Studio und Schlafkabinett. Mit Heiter-keit zeigte er sie den jungen Freunden, nannte das Komparti-ment separiert und traulich, um ihnen die richtigen Worte ah die Hand zu geben, deren sie sich zum Lobe bedienen mochten, – was sie denn einstimmig taten. Es sei ganz reizend, fanden sie beide, separiert und traulich, genau wie er sage. Sie taten einen Blick ins Schlafzimmerchen, wo vor der schmalen und kurzen Bettstatt im Mansardenwinkel ein kleiner Flickenteppich lag, und wandten sich dann dem Arbeitsraum wieder zu, der nicht weniger notdürftig ausgestattet war, dabei aber eine gewisse pa-rademäßige und sogar frostige Ordnung aufwies. Plumpe und altmodische Stühle, vier an der Zahl, mit Sitzflächen aus Stroh, waren symmetrisch zu Seiten der Türen aufgestellt, und auch der Diwan war an die Wand gerückt, so daß der grüngedeckte Rundtisch, auf dem zum Schmuck oder zur Erquickung und je-denfalls nüchternerweise eine Wasserflasche mit über den Hals gestülptem Glase stand, einsam die Mitte des Zimmers hielt.
Bücher, gebunden und broschiert, lehnten auf einem kleinen Wandbord schräg aneinander, und bei dem offenen Fensterchen ragte hochbeinig ein leichtgezimmertes Klapp-Pult mit einem kleinen, dicken Bodenbelag aus Filz davor, eben groß genug, um darauf stehen zu können. Hans Castorp nahm einen Augen-blick probeweise hier Aufstellung, – an Herrn Settembrinis Ar-beitsstätte, wo er die schöne Literatur zu enzyklopädischen Zwecken unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Leiden behandelte, – stützte die Ellbogen auf die schräge Platte und ur-teilte, daß es sich hier separiert und traulich stehe. So, meinte er, mochte Lodovicos Vater einst zu Padua an seinem Pulte gestan-den haben, mit seiner Nase so lang und fein, – und erfuhr, daß es wirklich das Arbeitspult des verstorbenen Gelehrten sei, vor dem er stehe, ja, auch die Strohstühle, der Tisch und selbst die Wasserflasche stammten aus dessen Besitz, und mehr noch: die Strohstühle hatten sogar schon dem Großvater Carbonaro ge-hört, zu Mailand hatten sie die Wände seines Advokatenbureaus geschmückt. Das war eindrucksvoll. Die Physiognomie der Stühle gewann etwas politisch Wühlerisches in den Augen der jungen Leute, und Joachim verließ den seinen, auf dem er nichtsahnend mit übergeschlagenem Beine gesessen hatte, be-trachtete ihn mißtrauisch und nahm ihn nicht wieder ein. Hans Castorp aber, am Stehpult Settembrinis des Älteren, bedachte, wie nun der Sohn daran wirke, indem er die Politik des Groß-vaters mit dem Humanismus des Vaters zur schönen Literatur vereinige. Dann gingen sie alle drei. Der Schriftsteller hatte sich erboten, die Vettern heimzugeleiten.
Sie schwiegen ein Stück Weges, aber ihr Schweigen handelte von Naphta, und Hans Castorp konnte warten: er war gewiß, daß Herr Settembrini auf seinen Hausgenossen zu sprechen kommen werde, ja, daß er zu diesem Zweck mit ihnen gegan-gen sei. Er täuschte sich nicht. Nach einem Aufatmen, das einem Anlauf gleichkam, begann der Italiener:
"Meine Herren – ich möchte Sie warnen."
Da er eine Pause eintreten ließ, so fragte Hans Castorp natür-lich mit falscher Verwunderung: "Wovor?" Er hätte wenigstens fragen können: "Vor wem?" aber er faßte sich unpersönlich, um seine ganze Unschuld zu bekunden, während doch sogar Joachim genau Bescheid wußte.
"Vor der Persönlichkeit, deren Gäste wir soeben waren", antwortete Settembrini, "und deren Bekanntschaft ich Ihnen gegen Wunsch und Absicht vermittelt habe. Sie wissen, der Zufall wollte es, und ich konnte nicht umhin; aber ich trage die Ver-antwortung und trage schwer daran. Es ist meine Pflicht, Ihre Jugend wenigstens auf die geistigen Gefahren hinzuweisen, die sie im Umgang mit diesem Manne läuft, und Sie übrigens zu bitten, den Verkehr mit ihm in weisen Grenzen zu halten. Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung."
Na, allerdings, meinte Hans Castorp, so ganz geheuer sei es ja wohl gerade nicht mit Naphta, ein bißchen sonderbar muteten seine Reden wohl manchmal an; es hätte ja geradezu geklungen, als wollte er wahrhaben, daß die Sonne sich um die Erde drehe. Doch schließlich, wie hätten sie, die Vettern, auf den Gedanken kommen sollen, es könne unratsam sein, mit einem Freunde von ihm, Settembrini, in gesellschaftlichen Verkehr zu treten? Er sage es selbst: durch ihn hätten sie Naphta kennengelernt, mit ihm hätten sie ihn getroffen, er gehe mit ihm spazieren, er komme zwanglos zu ihm zum Tee herunter, das beweise doch – .
"Gewiß, Ingenieur, gewiß." Herrn Settembrinis Stimme klang sanft, resigniert und enthielt doch ein leises Beben. "Dies läßt sich mir erwidern, und darum erwidern Sie es mir. Gut, ich verantworte mich bereitwillig. Ich lebe mit diesem Herrn unter einem Dach, Begegnungen sind unvermeidlich, ein Wort gibt das andere, man macht Bekanntschaft. Herr Naphta ist ein Mann von Kopf – das ist selten. Er ist eine diskursive Natur – ich bin es auch. Verurteile mich, wer will, aber ich mache Gebrauch von der Möglichkeit, mit einem immerhin ebenbürtigen Gegner die Klinge der Idee zu kreuzen. Ich habe niemanden weit und breit … Kurz, es ist wahr, ich komme zu ihm, er kommt zu mir, wir promenieren auch miteinander. Wir streiten. Wir streiten uns aufs Blut, fast jeden Tag, aber ich gestehe, die Gegensätz-lichkeit und Feindseligkeit seiner Gedanken bildet einen Reiz mehr für mich, mit ihm zusammenzutreffen. Ich brauche die Friktion. Gesinnungen leben nicht, wenn sie keine Gelegenheit haben, zu kämpfen, und – ich bin in den meinen gefestigt. Wie könnten Sie von sich dasselbe behaupten – Sie, Leutnant, oder auch Sie, Ingenieur? Sie sind ungewappnet gegen intellektuelles Blendwerk, Sie sind der Gefahr ausgesetzt, unter den Einwirkungen dieser halb fanatischen und halb boshaften Rabulistik Schaden zu nehmen an Geist und Seele."
Ja, ja, sagte Hans Castorp, wohl wahr, sein Vetter und er, sie seien wohl mehr oder weniger bedrohte Naturen. Es sei die Ge-schichte mit den Sorgenkindern des Lebens, er verstehe. Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anführen mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon, und hörenswert sei es doch unter allen Umständen, was Naphta so vorbringe: man müsse gerecht sein, das mit der kommunistischen Zeit, für deren Ablauf niemand eine Prämie bekommen dürfe, sei vorzüg-lich gewesen, und dann habe es ihn auch sehr interessiert, eini-ges über Pädagogik zu hören, was er ohne Naphta wohl nie zu hören bekommen hätte …
Herr Settembrini preßte die Lippen zusammen, und so beeil-te sich Hans Castorp hinzuzufügen, daß er selbst sich natürlich jeder Partei – und Stellungnahme enthalte, nur eben hörenswert habe er es gefunden, was Naphta über die Lust der Jugend ge-sagt habe.
"Erklären Sie mir aber nun erst einmal eines!" fuhr er fort. "Da hat nun dieser Herr Naphta – ich sage 'dieser Herr', um an-zudeuten, daß ich durchaus nicht unbedingt mit ihm sympathisiere, sondern mich im Gegenteil innerlich höchst reserviert verhalte –"
"Woran Sie wohltun!" rief Settembrini dankbar.
" – Da hat er nun also eine Menge gegen das Geld geredet, die Seele des Staates, wie er sich ausdrückt, und gegen das Ei-gentum, weil es Diebstahl sei, kurz, gegen den kapitalistischen Reichtum, von dem er, glaube ich, sagte, er sei der Brennstoff des höllischen Feuers – so drückte er sich annähernd einmal aus, wenn ich nicht irre, und lobte das mittelalterliche Zinsverbot in allen Tönen. Und dabei, er selbst… Entschuldigen Sie, aber er muß doch … Es ist ja eine Überraschung sondergleichen, wenn man so bei ihm eintritt. All die Seide …"
"Ei, ja", lächelte Settembrini, "das ist eine charakteristische Geschmacksrichtung."
" … die schönen alten Meubles", erinnerte sich Hans Castorp weiter, "die Pietà aus dem vierzehnten Jahrhundert… Der venezianische Kronleuchter… der kleine Heiduck in Livree … und beliebig viel Schokoladebaumkuchen gab es auch … Er muß doch für seine Person –"
"Herr Naphta", antwortete Settembrini, "ist für seine Person so wenig Kapitalist wie ich."
"Aber?" fragte Hans Castorp … "Es ist nun ein Aber fällig in Ihrer Rede, Herr Settembrini."
"Nun, die dort lassen keinen darben, der zu ihnen gehört."
"Wer, "die dort'?"
"Jene Vater."
"Väter? Vater?"
"Aber, Ingenieur, ich meine die Jesuiten!"
Das gab eine Pause. Die Vettern zeigten größte Betroffenheit. Hans Castorp rief: "Was, Himmel, Kreuz, verflucht nochmal – der Mann ist ein Jesuit?!"
"Sie haben es erraten", sprach Herr Settembrini fein.
"Nein, nie im Leben hätte ich … Wer kommt denn auf so was! Darum also haben Sie ihn Padre tituliert?"
"Das war eine kleine Höflichkeitsübertreibung", entgegnete Settembrini. "Herr Naphta ist nicht Pater. Die Krankheit ist schuld daran, daß er es vorderhand nicht soweit gebracht hat. Aber er hat das Noviziat absolviert und die ersten Gelübde ge-tan. Die Krankheit zwang ihn, seine theologischen Studien zu unterbrechen. Er hat dann noch einige Jahre als Präfekt in ei-nem Ordensinstitut Dienst verrichtet, das heißt: als Aufseher, Präceptor, Gouverneur der jungen Zöglinge. Das kam seinen pädagogischen Neigungen entgegen. Hier kann er ihnen weiter nachhängen, indem er am Fridericianum Lateinisch lehrt. Er ist seit fünf Jahren hier. Es ist unsicher geworden, ob und wann er diesen Ort wird verlassen dürfen. Aber er ist Angehöriger des Ordens, und wäre er ihm selbst lockerer verbunden, es könnte ihm nirgends fehlen. Ich sagte Ihnen, daß er für seine Person arm, will sagen: besitzlos ist. Natürlich, das ist Vorschrift. Aber der Orden verfügt über ungemessene Reichtümer, und er sorgt für die Seinen, wie Sie sahen."
"Donner-keil", murmelte Hans Castorp. "Und ich habe überhaupt nicht gewußt und gedacht, daß es sowas in allem Ernste noch gäbe! Ein Jesuit. Ja so! … Aber sagen Sie mir eins: Wenn er nun also von dorther so wohl versorgt und versehen ist – warum in aller Welt wohnt er dann … Ich will gewiß Ih-rem Logis nicht zu nahe treten, Herr Settembrini, Sie haben es reizend bei Lukaçek, so angenehm separiert und außerdem be-sonders traulich. Ich meine aber: wenn Naphta es nun doch so dicke hat, um mich gewöhnlich auszudrücken – warum nimmt er sich nicht eine andere Wohnung, statiöser, mit ordentlichem Aufgang und großen Zimmern, in einem feinen Haus? Es hat ja direkt was Verstecktes und Abenteuerliches, wie er da in dem Loch mit all seiner Seide …"
Settembrini zuckte die Achseln.
"Es müssen wohl Takt – und Geschmacksgründe sein", sagte er, "die ihn dazu bestimmen. Ich nehme an, er verbessert sein antikapitalistisches Gewissen, indem er die Zimmer eines Ar-men bewohnt, und sich schadlos hält durch die Art, wie er sie bewohnt. Auch Diskretion wird im Spiele sein. Man bindet es den Leuten nicht auf die Nase, wie gut einen der Teufel von hinten versorgt. Man schützt eine recht unscheinbare Fassade vor und entfaltet dahinter seinen seidenen Priestergeschmack …"
"Hochmerkwürdig!" sagte Hans Castorp. "Absolut neu und geradezu aufregend für mich, wie ich gestehe. Nein, wir sind Ihnen wirklich zu Dank verbunden, Herr Settembrini, für diese Bekanntschaft. Wollen Sie glauben, daß wir noch manches liebe Mal hingehen werden und ihn besuchen? Das ist ausgemacht. So ein Umgang erweitert ja den Horizont in ganz unverhoff-tem Grade und gibt Einblick in eine Welt, von deren Existenz man keine blasse Ahnung hatte. Ein richtiger Jesuit! Und wenn ich sage: 'richtig', so gebe ich mir selbst das Stichwort, für das, was mir durch den Kopf geht, und was ich denn doch noch be-merken muß. Ich frage: Ist er denn richtig? Ich weiß wohl, Sie meinen, daß es überhaupt nicht richtig ist mit einem, den der Teufel von hinten versorgt. Was ich aber meine, läuft auf die Fragestellung hinaus: Ist er richtig als Jesuit – das geht mir im Kopf herum. Er hat da Dinge geäußert – Sie wissen, welche ich meine – über den modernen Kommunismus und über den Got-teseifer des Proletariats, das seine Hand nicht zurückhalten soll vom Blute – kurzum, Dinge, ich sage nichts weiter darüber, aber Ihr Großvater mit seiner Bürgerpike war ja das reine Lämmlein dagegen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Geht denn das? Hat das die Zustimmung seiner Vorgesetzten? Verträgt es sich mit der römischen Lehre, für die doch der Orden in aller Welt intrigieren soll, soviel ich weiß? Ist es nicht – wie heißt das Wort – häretisch, abweichend, inkorrekt? Das überlege ich mir bezüglich Naphtas und hörte gern, was Sie denken."
Settembrini lächelte.
"Sehr einfach. Herr Naphta ist allerdings in erster Linie Jesuit, ist es recht und ganz. Zum zweiten aber ist er ein Mann von Geist – ich würde sonst nicht seine Gesellschaft suchen –, und als solcher trachtet er nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen. Sie sahen mich selbst überrascht durch seine Theorien. Er hatte sich mir so weitgehend noch nicht offenbart. Ich benutzte die Anregung, die ihm sichtlich Ihre Gegenwart gewährte, um ihn zu reizen, in gewisser Beziehung sein letztes Wort zu sagen. Es lautete schnurrig genug, gräßlich genug …"
"Ja, ja; aber warum ist er nicht Pater geworden? Er hätte doch wohl das Alter dazu."
"Ich sagte Ihnen ja, daß die Krankheit es war, die ihn vorläufig daran gehindert hat."
"Gut, aber meinen Sie nicht: wenn er erstens Jesuit ist und zweitens ein Mann von Geist, mit Kombinationen – daß dies zweite, Hinzukommende, mit der Krankheit zu tun hat?"
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Nein, nein, Herr Settembrini. Ich meine nur: er hat eine feuchte Stelle, und die hindert ihn, Pater zu werden. Aber seine Kombinationen hätten ihn auch wohl daran gehindert, und in-sofern – gewissermaßen, gehören die Kombinationen und die feuchte Stelle zusammen. Er ist auf seine Art auch so was wie ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jésuite mit einer petite tache humide."
Sie hatten das Sanatorium erreicht. Auf der Plattform vorm Hause blieben sie noch etwas stehen, bevor sie sich trennten, traten zu einer kleinen Gruppe zusammen, während ein paar Pa-tienten, die am Portal herumlungerten, ihrem Gespräche zusa-hen. Herr Settembrini sagte:
"Um es zu wiederholen, meine jungen Freunde, ich warne Sie. Ich kann Ihnen nicht verwehren, die einmal gemachte Be-kanntschaft zu kultivieren, wenn die Neugier Sie dazu treibt. Aber wappnen Sie Herz und Geist dabei mit Mißtrauen, lassen Sie es niemals fehlen an kritischem Widerstand. Ich werde Ihnen diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger."
Die Gesichter der Vettern verzogen sich. Dann fragte Hans Castorp:
"Ein … wie? Erlauben Sie, er ist doch Ordensmann. Da sind ja bestimmte Gelübde zu leisten, soviel ich weiß, und außerdem ist er so miekerig und leibarm …"
"Sie reden töricht, Ingenieur", erwiderte Herr Settembrini. "Das hat mit Leibarmut gar nichts zu tun, und was die Gelübde betrifft, so gibt es da Vorbehalte. Ich sprach jedoch in einem weiteren und geistigeren Sinn, für den ich nachgerade Verständ-nis bei Ihnen sollte voraussetzen dürfen. Erinnern Sie sich wohl noch, wie ich Sie eines Tages auf Ihrem Zimmer besuchte – es ist lange her, furchtbar lange – , Sie absolvierten eben die Bett-ruhe nach erfolgter Aufnahme …"
"Selbstverständlich! Sie traten in der Dämmerung ein und machten Licht, ich weiß es wie heute …"
"Gut, damals kamen wir im Plaudern, wie es gottlob des öf-teren geschieht, auf höhere Gegenstände. Ich glaube gar, wir sprachen von Tod und Leben, von den Würden des Todes, inso-fern er Bedingung und Zubehör des Lebens ist, und von der Fratzenhaftigkeit, der er verfällt, wenn der Geist ihn abscheulicherweise als Prinzip isoliert. Meine Herren!" fuhr Herr Settembrini fort, indem er dicht vor die beiden jungen Leute hin-trat, Daumen und Mittelfinger der Linken gabelförmig gegen sie spreizte, gleichsam, um sie zur Aufmerksamkeit zusammen-zufassen, und den Zeigefinger der Rechten mahnend erhob … "Prägen Sie sich ein, daß der Geist souverän ist, sein Wille ist frei, er bestimmt die sittliche Welt. Isoliert er dualistisch den Tod, so wird derselbe durch diesen geistigen Willen wirklich und in der Tat, actu, Sie verstehen mich, zur eigenen, dem Leben entgegengesetzten Macht, zum widersacherischen Prinzip, zur großen Verführung, und sein Reich ist das der Wollust. Sie fragen mich, warum der Wollust? Ich antworte Ihnen: weil er löst und erlöst, weil er die Erlösung ist, aber nicht die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung. Er löst Sitte und Sittlich-keit, er erlöst von Zucht und Haltung, er macht frei zur Wollust. Wenn ich Sie warne vor dem Manne, dessen Bekanntschaft ich Ihnen ungern vermittelte, wenn ich Sie auffordere, im Verkehr und Diskurs mit ihm Ihre Herzen dreimal mit Kritik zu umgürten, so geschieht es, weil alle seine Gedanken wollüstiger Art sind, denn sie stehen unter dem Schutze des Todes, – einer höchst liederlichen Macht, wie ich Ihnen damals sagte, Inge-nieur, – ich erinnere mich wohl meines Ausdrucks, ich behalte tüchtige und treffliche Äußerungen, die zu tun ich Gelegenheit fand, stets im Gedächtnis – , einer gegen Gesittung, Fortschritt, Arbeit und Leben gerichteten Macht, vor deren mephitischem Hauch junge Seelen zu. schützen des Erziehers vornehmste Pflicht ist."
Man konnte nicht besser sprechen als Herr Settembrini, nicht klarer und gerundeter. Hans Castorp und Joachim Ziemßen be-dankten sich recht schön bei ihm für das Gehörte, empfahlen sich und erstiegen das Berghofportal, während Herr Settembrini, eine Treppe über Naphtas seidene Zelle hinaus, an sein Hu-manistenpult zurückkehrte.
Es war der erste Besuch der Vettern bei Naphta, dessen Verwir hier festhielten. Seither waren demselben zwei oder drei weitere gefolgt, einer sogar in Abwesenheit Herrn Settembrinis; und auch sie lieferten dem jungen Hans Castorp Stoff zur Betrachtung, wenn er, indes das Hochgebild, genannt Homo Dei, seinem inneren Auge vorschwebte, an dem blaublühenden Ort seiner Zurückgezogenheit saß und "regierte".
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