Endlich, im Herbst 1924, erschienen die beiden Bände, die aus der Konzeption der short story entstanden waren, und die mich alles in allem nicht sieben, sondern zwölf Jahre in ihrem Bann gehalten hatten, und seine Aufnahme hätte viel ungünstiger sein dürfen, um meine Erwartungen bis zur Verblüffung zu übertreffen. Ich bin gewohnt, eine vollendete Arbeit in achsel-zuckender Resignation, ohne die geringste Zuversicht in ihre Weltmöglichkeit aus der Hand zu geben. Die Reize, die einst von ihr auf mich, ihren Betreuer, ausgegangen, haben sich längst schon abgenutzt, das Fertigmachen war eine Sache produktions-ethischer Bravheit, des Eigensinns im Grund, und vom Eigen-sinn überhaupt scheint mir die jahrelange Verbissenheit darein viel zu sehr bestimmt, sie erscheint mir in viel zu hohem Grade als problematisches Privatvergnügen, als daß ich mit der Teil-nahme Vieler an der Spur meiner sonderbaren Vormittage im geringsten zu rechnen mich getraute. Ich "falle aus den Wol-ken", wenn, wie mehrmals in meinem Leben, diese Teilnahme sich dennoch in fast turbulentem Maße einstellt, und dieser freundliche Sturz war im Falle des "Zauberbergs" besonders tief und überraschend. War zu glauben gewesen, daß ein wirtschaft-lich bedrängtes und gehetztes Publikum aufgelegt sein werde, den träumerischen Verknüpfungen dieser in zwölfhundert Seiten ausgebreiteten Gedankenkomposition zu folgen? ("Seines Liedes Riesenteppich – zweimalhunderttausend Verse": diese Wendung aus Heines "Firdusi" war mein Lieblingszitat während der Arbeit gewesen und dann jenes Goethesche "Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß".) Würden unter den heuti-gen Umständen mehr als ein paar tausend Leute sich bereit fin-den, für eine so wunderliche Unterhaltung, die mit Romanlek-türe in irgendeinem gewohnten Sinne fast nichts zu tun hätte, den Preis von sechzehn oder zwanzig Mark zu erlegen? Sicher war, daß die beiden Bände auch nur zehn Jahre früher weder hätten geschrieben werden noch Leser finden können. Es waren dazu Erlebnisse nötig gewesen, die der Autor mit seiner Nation gemeinsam hatte, und die er beizeiten in sich hatte kunstreif machen müssen, um mit seinem gewagten Produkt, wie einmal schon, im günstigen Augenblick hervorzutreten. Die Probleme des "Zauberbergs" waren von Natur nicht massengerecht, aber sie brannten der gebildeten Masse auf den Nägeln, und die all-gemeine Not hatte die Rezeptivität des breiten Publikums ge-nau jene alchimistische "Steigerung" erfahren lassen, die das ei-gentliche Abenteuer des kleinen Hans Castorp ausgemacht hatte. Ja, gewiß, der deutsche Leser erkannte sich wieder in dem schlichten aber "verschmitzten" Helden des Romans; er konnte und mochte ihm folgen.
In der Tat ist der "Zauberberg" ein sehr deutsches Buch, er ist es in dem Grade, daß fremdländische Beurteiler seine Welt-möglichkeit vollkommen unterschätzten. Ein hervorragender schwedischer Kritiker erklärte öffentlich mit aller Entschieden,-heit, daß man niemals eine Übertragung dieses Buches in eine fremde Sprache wagen werde, weil es absolut untauglich dazu sei. Das war eine falsche Prophezeiung. Der "Zauberberg" ist in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden, und soweit ich darüber urteilen kann, hat keines meiner Bücher in der Welt überhaupt und, ich konstatiere es mit Freude, besonders in Amerika so viel Interesse erregt wie dieses.
Was soll ich nun über das Buch selbst sagen und darüber, wie es etwa zu lesen sei? Der Beginn ist eine sehr arrogante Forde-rung, nämlich die, daß man es zweimal lesen soll. Diese Forde-rung wird natürlich sofort zurückgezogen für den Fall, daß man sich das erste Mal dabei gelangweilt hat. Kunst soll keine Schul-aufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden. Wer aber mit dem "Zauberberg" überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik schon kennen muß, um sie richtig zu genießen. Nicht zufällig gebrauchte ich das Wort Komposition, das man gewöhnlich der Musik vorbehält. Die Musik hat von jeher stark stilbildend in meine Arbeit hin-eingewirkt. Dichter sind meistens "eigentlich" etwas anderes, sie sind versetzte Maler oder Graphiker oder Bildhauer oder Ar-chitekten oder was weiß ich. Was mich betrifft, muß ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen. Der Roman war mir immer eine Symphonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen. Man hat wohl gelegentlich – ich selbst habe das ge-tan – auf den Einfluß hingewiesen, den die Kunst Richard Wagners auf meine Produktion ausgeübt hat. Ich verleugne diesen Einfluß gewiß nicht, und besonders folgte ich Wagner auch in der Benützung des Leitmotivs, das ich in die Erzählung über-trug, und zwar nicht, wie es noch bei Tolstoi und Zola, auch noch in meinem eigenen Jugendroman "Buddenbrooks", der Fall ist, auf eine bloß naturalistisch-charakterisierende, sozusagen mechanische Weise, sondern in der symbolischen Art der Musik. Hierin versuchte ich mich zunächst im "Tonio Kröger". Die Technik, die ich dort übte, ist im "Zauberberg" in einem viel weiteren Rahmen auf die komplizierteste und alles durch-dringende Art angewandt. Und eben damit hängt meine anma-ßende Forderung zusammen, den "Zauberberg" zweimal zu lesen. Man kann den musikalisch-ideellen Beziehungs-Komplex, den er bildet, erst richtig durchschauen und genießen, wenn man seine Thematik schon kennt und imstande ist, das symbo-lisch anspielende Formelwort nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts zu deuten.
Damit komme ich auf etwas schon Berührtes zurück, nämlich auf das Mysterium der Zeit, mit dem der Roman auf mehrfache Weise sich abgibt. Er ist ein Zeitroman in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn in-dem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch, der musikalisch-ideellen Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augen-blick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches "nunc stans" herzustellen. Sein Ehrgeiz aber, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung zu voller Kongruenz zu bringen und immer zu-gleich das zu sein, wovon es handelt und spricht, dieser Ehrgeiz geht weiter. Er bezieht sich noch auf ein anderes Grundthema, auf das der Steigerung, welcher oft das Beiwort "alchimistisch" gegeben wird. Sie erinnern sich: der junge Hans Castorp ist ein simpler Held, ein Hamburger Familien-Söhnchen und Durchschnitts-Ingenieur. In der fieberhaften Hermetik des Zauberber-ges aber erfährt dieser schlichte Stoff eine Steigerung, die ihn zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig macht, von denen er sich in der Welt, die immer ironisch als das Flach-land bezeichnet wird, nie hätte etwas träumen lassen. Seine Ge-schichte ist die Geschichte einer Steigerung, aber sie ist Steigerung auch in sich selbst, als Geschichte und Erzählung. Sie ar-beitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romanes, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert und transparent macht für das Geistige und Ideelle. Schon in der Behandlung ihrer Figuren tut sie das, die für das Gefühl des Lesers alle mehr sind als sie scheinen: sie sind lauter Exponenten, Repräsentanten und Send-boten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten. Ich hoffe, sie sind deswegen keine Schatten und wandelnde Allegorien. Im Gegenteil bin ich durch die Erfahrung beruhigt, daß der Leser diese Personen, Joachim, Clawdia Chauchat, Peeperkorn, Set-tembrini und wie sie heißen, als wirkliche Menschen erlebt, de-ren er sich wie wirklich gemachter Bekanntschaften erinnert.
Dies Buch also ist räumlich und geistig auf dem Wege der Steigerung weit über das hinausgewachsen, was der Autor ur-sprünglich mit ihm vorhatte. Aus der short story wurde der zweibändige Wälzer – ein Malheur, das sich nicht ereignet hätte, wenn der "Zauberberg" das geblieben wäre, was viele Leute anfangs in ihm sahen und noch heute in ihm sehen: eine Satire auf das Lungen-Sanatoriums-Leben. Er machte seinerzeit nicht geringes Aufsehen in der medizinischen Welt, erregte darin teils Zustimmung, teils Entrüstung, einen kleinen Sturm in den Fachblättern. Aber die Kritik der Sanatoriumstherapie ist sein Vordergrund, einer der Vordergründe des Buches, dessen Wesen Hintergründigkeit ist. Die lehrhafte Warnung vor den moralischen Gefahren der Liegekur und des ganzen unheimlichen Milieus bleibt recht eigentlich Herrn Settembrini, dem redneri-schen Rationalisten und Humanisten, überlassen, der eine Figur ist unter anderen, eine humoristisch-sympathische Figur, zuwei-len auch das Mundstück des Autors, aber keineswegs der Autor selbst. Für diesen sind Tod und Krankheit und alle makabren Abenteuer, die er seinen Helden durchlaufen läßt, ja gerade das pädagogische Mittel, durch das eine gewaltige "Steigerung" und I orderung des schlichten Helden über seine ursprüngliche Ver-fassung hinaus erzielt wird. Sie sind, eben als Erziehungsmittel, weitgehend positiv gewertet, wenn auch Hans Castorp im Laufe seines Erlebens hinausgelangt über die ihm angeborene Devotion vor dem Tode und eine Menschlichkeit begreift, die die Todesidee und alles Dunkle, Geheimnisvolle des Lebens zwar nicht rationalistisch übersieht und verschmäht, aber sie einbezieht, ohne sich geistig von ihr beherrschen zu lassen.
Was er begreifen lernt, ist, daß alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muß, sowie die Kenntnis der Sünde eine Vorbedin-gung der Erlösung ist. "Zum Leben", sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chauchat, "zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod und das ist der geniale Weg." Diese Auf-lassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durch-gangs zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben, macht den "Zauberberg" zu einem Initiations-Roman (initiation story).
Ich habe diese Bezeichnung nicht aus mir selbst. Die Kritik hat sie mir nachträglich an die Hand gegeben, und ich mache Gebrauch von ihr, da ich zu Ihnen über den Zauberberg sprechen soll. Ich lasse mir gern dabei von fremder Kritik helfen, denn es ist ja ein Irrtum, zu glauben, der Autor selbst sei der be-ste Kenner und Kommentator seines eigenen Werkes. Er ist das vielleicht, solange er noch daran wirkt und darin verweilt. Aber ein abgetanes, zurückliegendes Werk wird mehr und mehr zuetwas von ihm Abgelöstem, Fremdem, worin und worüber an-dere mit der Zeit viel besser Bescheid wissen als er, so daß sie ihn an vieles erinnern können, was er vergessen oder vielleicht sogar nie klar gewußt hat. Man hat überhaupt nötig, an sich er-innert zu werden. Man ist keineswegs immer im Besitz seiner selbst, unser Selbstbewußtsein ist insofern schwach, als wir das Unsere durchaus nicht immer gegenwärtig beisammen haben. Nur in Augenblicken seltener Klarheit, Sammlung und Über-sicht wissen wir wahrhaft von uns, und die Bescheidenheit be-deutender Menschen, die oft überrascht, mag zum guten Teil darauf beruhen: daß sie gemeinhin wenig von sich wissen, sich nicht gegenwärtig sind und sich mit Recht als gewöhnliche Menschen fühlen.
Wie dem auch sei, es hat seine Reize, sich von der Kritik über sich selbst aufklären, sich über zurückliegende Werke belehren und sich in sie zurückversetzen zu lassen, wobei es selten an dem Gefühle fehlen wird, das sich am treffendsten in die fran-zösischen Worte zusammenfassen läßt: "Possible que j'ai eu tant d'esprit?" Meine stehende Dankesformel für solche Liebesdien-ste lautet: "Ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie mich so freundlich an mich selbst erinnert haben." Das habe ich gewiß auch an Professor Hermann I. Weigand von der Yale University geschrieben, als er mir sein Buch über den "Zauberberg" sandte, die umfassendste und gründlichste kritische Studie, die überhaupt diesem Roman gewidmet worden ist. Denjenigen unter Ihnen, die sich intimer für ihn interessieren, möchte ich diesen wirklich geistvollen Kommentar wärmstens empfehlen.
Nun gelangte vor kurzem ein englisches Manuskript an mich, das einen jungen Gelehrten der Harvard University zum Ver-fasser hat. Es heißt: "The Quester Hero. Myth as Universal Symbol in the Works of Th. M.", und die Lektüre hat mir Erin-nerung und Bewußtsein meiner selbst nicht wenig aufgefrischt. Der Verfasser stellt den "Magic Mountain" und seinen schlich-ten Helden in eine große Tradition hinein, – nicht nur in eine deutsche, sondern in eine Welttradition; er subsumiert ihn ei-nem Typus von Dichtung, den er "The Quester Legend" nennt und der weit im Schrifttum der Völker zurückreicht. Seine be-rühmteste deutsche Erscheinungsform ist Goethes Faust. Aber hinter Faust, dem ewigen Sucher, steht die Gruppe von Dich-tungen, die den allgemeinen Namen von Sangraal – oder Holy Grail romances tragen. Ihr Held, ob er nun Gawain, Galahad oder Perceval heißt, ist eben der Quester, der Suchende und Fragende, der Himmel und Hölle durchstreift, es mit Himmel und Hölle aufnimmt und einen Pakt macht mit dem Geheim-nis, mit der Krankheit, dem Bösen, dem Tode, mit der anderen Welt, dem Okkulten, der Welt, die im Zauberberg als "fragwür-dig" gekennzeichnet ist – auf der Suche nach dem "Gral", will sagen nach dem Höchsten, nach Wissen, Erkenntnis, Einwei-hung, nach dem Stein der Weisen, dem aurum potabile, dem Trunk des Lebens.
Ein solcher Quester-Held, erklärt der Verfasser – und erklärt er es nicht mit Recht? – ist auch Hans Castorp. Der Gral-Quester insbesondere, Perceval, wird im Beginn seiner Wanderun-gen gern als "Fool", "Great Fool", "Guilless fool" bezeichnet. Das entspricht der "Einfachheit", Simplizität und Schlichtheit, die dem Helden meines Romanes beständig zugeschrieben wird – so als ob ein dunkles Überlieferungsgefühl mich gezwungen hätte, auf dieser Eigenschaft zu bestehen. Ist nicht auch Goethes Wilhelm Meister ein guilles fool, zwar in hohem Maße iden-tisch mit dem Autor, dabei aber stets das Objekt seiner Ironie? Man sieht hier Goethes großen Roman, der zu der hohen As-zendenz des "Zauberbergs" gehört, ebenfalls in der Traditions-reihe der Questerlegends. Und was ist denn wirklich der deutsche Bildungsroman, zu dessen Typ der "Wilhelm Meister" so-wohl wie der "Zauberberg" gehören, anderes, als die Sublimie-rung und Vergeistigung des Abenteuerromans? Der Gral-Quester muß sich, bevor er den heiligen Berg erreicht, einer Reihe von schrecklichen und geheimnisvollen Proben unterziehen in einer Kapelle am Wege, die der "Atre Périlleux" heißt. Wahr-scheinlich waren diese abenteuerlichen Prüfungen ursprünglich luitiations-Riten, Bedingungen der Annäherung an das esoteri-sche Geheimnis, und immer ist die Idee des Wissens, der Erkenntnis verbunden mit der "other world", mit Tod und Nacht. Viel ist im "Zauberberg" von einer alchimistisch-hermetischen Pädagogik, von "Transsubstantiation" die Rede; und wieder war ich, ein guilles fool ich selber, von einer geheimen Tradition geleitet, denn das sind dieselben Worte, die im Zusammenhang mit den Gral-Mysterien immer wieder angewandt werden. Nicht umsonst auch spielen die Freimaurerei und ihre Myste-rien so stark in den "Zauberberg" hinein, denn die Maurerei ist der direkte Abkömmling der alten Initiationsriten. Mit einem Worte, der "Zauberberg" ist eine Abwandlung des Tempels der Initiation, eine Stätte gefährlicher Forschung nach dem Geheim-nis des Lebens, und Hans Castorp, der "Bildungsreisende", hat eine gar vornehme, mystisch-ritterliche Ahnenschaft: er ist der typische, im höchsten Sinne neugierige Neophyt, der freiwillig, nur zu freiwillig, Krankheit und Tod umarmt, weil gleich seine erste Berührung mit ihnen ihm das Versprechen außeror-dentlichen Verstehens, abenteuerlicher Förderung geben – verbunden natürlich mit einem entsprechend hohen Risiko.
Es ist ein sehr hübscher und gescheiter Kommentar, den ich da zu Hilfe genommen habe, um Sie (und mich) über meinen Roman zu belehren, – dies späte, modernverzwickte, bewußte und auch wieder unbewußte Glied in einer großen Überliefe-rungsreihe. Hans Castorp als Gralssucher – Sie werden das nicht gedacht haben, als Sie seine Geschichte lasen, und wenn ich selbst es gedacht habe, so war es mehr und weniger als Denken. Vielleicht lesen Sie das Buch noch einmal unter diesem Ge-sichtspunkt. Sie werden dann auch finden, was der Gral ist, das Wissen, die Einweihung, jenes Höchste, wonach nicht nur der tumbe Held, sondern das Buch selbst auf der Suche ist. Sie werden es namentlich finden in dem "Schnee" betitelten Kapitel, wo der in tödlichen Höhen verirrte Hans Castorp sein Traum-gedicht vom Menschen träumt. Der Gral, den er, wenn nicht findet, so doch im todesnahen Traum erahnt, bevor er von seiner Höhe herab in die europäische Katastrophe gerissen wird, das ist die Idee des Menschen, die Konzeption einer zukünfti-gen, durch tiefstes Wissen um Krankheit und Tod hindurchge-gangenen Humanität. Der Gral ist ein Geheimnis, aber auch die Humanität ist das. Denn der Mensch selbst ist ein Geheimnis, und alle Humanität beruht auf Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen.
Princeton, Mai 1939
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