Читать книгу «Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Стефана Цвейга — MyBook.
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Während sie dies in fliegender Eile erzählte, ließ nicht für einen Augenblick ihre Hand jene des Geliebten. Unverwandt, gleichsam noch immer ungewiss seiner Gegenwart, drängte sie immer wieder von neuem in seine Umfangung zurück, und dieser rührende Anblick jugendlicher Innigkeit erschütterte auf wunderbare Weise ihre Schicksalsgenossen. Eben noch lethargisch, müde, gleichgültig und jeder Empfindung verschlossen, umdrängten sie nun auf einmal das so sonderbar vereinigte Paar mit leidenschaftlicher Lebhaftigkeit. Jeder vergaß über diesem außerordentlichen sein eigenes Geschick, jeder gab willig dem strömenden Bedürfnis nach, ihnen ein Wort der Teilnahme, der Zustimmung oder auch des Mitleids zu sagen, aber in einer Art rauschhaftem Stolz wehrte das feurige Mädchen jedes Bedauern ab. Nein, sie sei glücklich, restlos glücklich, da sie nun wisse, dass sie zu gleicher Stunde mit ihrem Geliebten sterbe und keiner den ändern betrauern müsse. Und nur eines mindere ihr Glück, dass sie mit noch fremdem Namen und nicht als seine angetraute Frau gemeinsam mit ihm vor Gott hintreten könne.

Sie hatte dies ausgesprochen, vollkommen arglos und absichtslos und beinahe des Gesprochenen schon vergessen, immer wieder sich der Umfangung des Geliebten hingebend; deshalb wurde sie auch nicht gewahr, dass, von diesem ihrem Wunsche tiefbewegt, unterdessen ein Kriegskamerad Roberts vorsichtig zur Seite schlich und mit einem älteren Mann leise zu flüstern begann. Jenen aber schienen die zugeflüsterten Worte sehr zu erschüttern, denn sofort raffte er sich empor und mühte sich zu den beiden hin. Er wäre, wandte er sich ihnen zu, was seine bäuerliche Kleidung wohl nicht erkennen lasse, ein eidverweigernder Priester aus Toulon und sei erst hier infolge einer Denunziation[7] festgenommen worden. Aber wenn das priesterliche Gewand ihm jetzt fehle, so fühle er doch unverändert in sich sein Amt und seine priesterliche Macht. Und da der beiden Aufgebot längst erfolgt sei, andererseits das Urteil einen Aufschub nicht verstatte, so wolle er sich gerne unterfangen, ihr durchaus redliches Begehren sofort zu erfüllen und sie hier vor der Zeugenschaft ihrer Mitgefährten und jenes allerorts gegenwärtigen Gottes ehelich zu vereinigen.

Erstaunt von dieser nochmaligen und nie erhofften Wunscherfüllung blickte das junge Mädchen fragend ihren Verlobten an. Der antwortete nur mit einem strahlenden Blick. Da beugte das junge Mädchen ihre Knie auf die harten Fliesen, küsste die Hand des Priesters und bat, auch in diesem unwürdigen Räume die Vermählung zu vollziehen, denn sie fühle sich reines Sinnes und ganz von der Heiligkeit der Stunde erfüllt. Die ändern, tieferschüttert, dass dieser dumpfe Todesraum für einen Augenblick zur Kirche werden sollte, wurden unwillkürlich von der Erregung der Braut berührt und verdeckten sie mühsam durch vielfältige und hastige Tätigkeit. Die Männer reihten die wenigen Sessel heran, stellten die Wachslichter in gerader Reihe um ein eisernes Kruzifix[8] und näherten so den Tisch einem Altar an, die Frauen flochten indes hastig die wenigen Blumen, die ihnen mitleidige Hände auf den Weg gegeben hatten, zu einem schmalen Kranz, den sie dem Mädchen auf das Haupt drückten; unterdessen war der Priester mit dem ihr zubestimmten Gatten in den Nebenraum getreten und hatte erst ihm und dann ihr die Beichte abgenommen, und wie die beiden nun vor den improvisierten Altar traten, entstand für einige Minuten eine so erfüllte und so auffällige Stille, dass plötzlich der Wachsoldat, irgendein Verdächtiges vermutetend, die Tür aufriss und eintrat. Als er die sonderbare Vorbereitung bemerkte, wurde unwillkürlich sein dunkles Bauerngesicht ernst und ehrfürchtig. Er blieb, ohne zu stören, an der Tür stehen und ward so selber schweigsamer Zeuge der ungewöhnlichen Vermählung.

Der Priester trat vor den Tisch und erklärte in wenigen Worten, dass überall eine Kirche und ein Altar sei, wo Menschen sich in Demut Gott verbinden wollten. Dann kniete er hin, und alle Anwesenden mit ihm; es blieb so still, dass keine der schmalen Flammen sich bewegte. Dann fragte der Priester in das Schweigen hinein, ob die beiden sich in Leben und Tod vereinen wollten. Mit fester Stimme antworteten sie: „In Leben und Tod“, und dieses Wort Tod – eben noch als ein Grauen gefühlt – schwang hell und klar und von keiner Furcht mehr durchzittert quer in den schweigenden Raum. Da einte der Priester ihre Hände und sprach die bindenden Worte: „Ego auctoritate sanctae matris Ecclesiae qua fungor, conjungo vos in matrimoniam in nomine Patris et Filü et Spiritus sancti.“ Damit war die Zeremonie beendet. Die Neuvermählten küssten dem Priester die Hand, und jeder von den Verurteilten drängte einzeln zu, ein besonderes Wort der Herzlichkeit ihnen zu sagen. Niemand dachte in dieser Sekunde an den Tod, und die ihn fühlten, empfanden seine Schrecknis nicht mehr. Unterdessen hatte jener Freund, der bei der Vermählung als Zeuge gedient, mit einigen ändern leise geflüstert, und bald merkte man neuerdings eine sonderbare Geschäftigkeit beginnen. Die Männer trugen die Strohsäcke aus dem kleinen Nebengemach, und noch hatten die Neuverbundenen, ganz dem traumhaften Geschehen hingegeben, nichts von den Vorbereitungen bemerkt, als jener zu ihnen trat und lächelnd mitteilte, gerne hätten er und seine Schicksalsgenossen dem Paare ein Geschenk zu ihrem bräutlichen Tage geboten, doch welche irdische Gabe gelte noch jenen, die ihr eigenes Leben nicht zu halten vermöchten. So wollten sie das einzige bieten, was Neuvermählten erfreulich und kostbar sein könnte: die abgesonderte Stille einer bräutlichen und letzten Nacht, und lieber selber etwas gedrängter im äußeren Raum zusammenrücken, damit jenen das kleinere Gemach vollkommen gehöre. „Nützt die wenigen Stunden“, fugte er bei, „kein Atemzug Leben wird uns nochmal zurückgegeben, und wem in solchem Augenblicke noch Liebe gegönnt ist, der soll sie genießen.“

Das junge Mädchen errötete bis tief ins Haar, ihr Gatte[9] aber sah frank dem Freunde in die Augen und schüttelte ergriffen die brüderliche Hand. Sie sprachen kein Wort, blickten einander nur an. Und so geschah es, dass ohne eine laute Anordnung unwillkürlich die Männer sich um den Bräutigam, die Frauen um die Braut reihten und mit feierlich erhobenen Lichtern sie hineingeleiteten in das vom Tode geliehene Gelass, unbewusst derart uralten Hochzeitsbrauch wie der erfindend aus dem Übermaß teilnehmenden Gefühls. Leise lehnten sie die Tür dann zu hinter den Vermählten, keiner aber wagte ein unziemliches oder unsauber scherzendes Wort über dies nahe und bräutliche Zusammensein, denn ein sonderbar feierliches Empfinden faltete stumme Flügel über sie alle, seit sie, ohnmächtig selber gegen das Schicksal, ändern eine Handvoll Glück noch hatten zuteilen können. Und im geheimen war jeder dankbar für die wohltätige Ablenkung von dem eigenen unvermeidlichen Los. So lagen, im Dunkel verstreut, wach oder träumend, die Verurteilten auf ihren Strohsäcken bis zur Frühe, und selten nur durchwogte ein Seufzer den vom verlorenen Atem dicht erfüllten Raum. Als dann am nächsten Morgen die Soldaten eintraten, um die vierundachtzig Verurteilten zur Richterstatt zu führen, fanden sie alle schon wach und völlig bereit. Nur im Nebenraum, wo die Vermählten weilten, blieb es still: selbst der harte Stoß der Kolben hatte die Ermüdeten nicht geweckt. So eilte der Brautführer leise hinüber, damit nicht der Henker es sei, der die Glücklichen gewaltsam erwecke. Sie lagen locker umschlungen, ihre Hand wie vergessen unter seinem rücklings geneigten Nakken; selbst in der weichen Erstarrung des Schlafes glänzten ihre Gesichter so selig entspannt, dass es dem Mitfühlenden schwer ward, solchen Frieden zu stören. Aber er durfte nicht zögern und rührte mit drängender Mahnung erst ihn an, der taumelnd aufblickte, mit einem Riss aber die Lage besann und zärtlich die Gefährtin vom Lager aufhob. Sie blickte empor, kindhaft erschreckt, doch nur von dem allzu jähen Auftauchen in die eisige Wirklichkeit: dann lächelte sie ihm einverständlich zu: „Ich bin bereit.“

Unwillkürlich machten alle, als die beiden Hand in Hand eintraten, ihnen Platz, und so ergab es sich ohne Absicht, dass die Neuvermählten den Todesgang der Verurteilten eröffneten. Obwohl den täglichen Anblick jener traurigen Trupps schon gewohnt, blickten diesmal die Leute doch staunend dem sonderbaren Zuge nach, denn von diesen beiden Menschen, die ihn eröffneten, dem jungen Offizier und der mit bräutlichem Kranze geschmückten Frau, strahlte eine so ungewohnte Heiterkeit und fast selige Sicherheit aus, dass selbst dumpfe Seelen hier ein hohes Geheimnis ehrfürchtig fühlten. Aber auch die ändern Verurteilten stapften nicht den sonst schlürfenden Trott der zum Tode Geführten, sondern jeder von ihnen starrte auf die beiden, denen dreimal so unvermutete Wunscherfüllung geworden war, brennenden Blicks und mit dem verzweifelt angekrallten Vertrauen, noch einmal müsse, noch einmal werde an diesen beiden Glücklichen ein letztes Wunder sich ereignen und sie alle damit vom sichern Tode erretten. Aber das Leben liebt nur das Wunderbare und spart mit dem wirklichen Wunder: einzig das in Lyon damals Tagtägliche geschah. Der Zug wurde über die Brücke auf die sumpfigen Felder von Brotteaux geführt, dort erwarteten ihn zwölf Pelotons Infanterie, je drei Flintenläufe für den einzelnen Mann. Man stellte sie in Reih und Glied: eine einzige Salve krachte alle nieder. Dann warfen die Soldaten die noch blutenden Leichen in die Rhone, deren rasche Strömung Antlitz und Schicksal dieser Unbekannten gleichgültig in sich hinunternahm. Nur der hochzeitliche Kranz, der sich vom Haupte der Sinkenden leichter gelöst hatte, schwamm einige Zeit noch sinnlos und fremd auf den weiterwandernden Wellen. Schließlich entschwand auch er und mit ihm für lange Zeit das Gedächtnis jener von den Lippen des Todes gelösten und darum denkwürdigen Liebesnacht.