Als Keira am nächsten Morgen aufwachte, wurde sie von einem Gefühl der Demütigung erfasst. Erinnerungen an die Party kamen zu ihr zurück, an die Tequila Shots mit ihren Freunden und die ganze unangenehme Erfahrung mit Rob, der sie geküsst hatte und wie sie ihm dann den Wein ins Gesicht geschüttet hatte. Aber das war nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste, was passiert war, war, dass sie Cristiano eine Nachricht geschrieben hatte.
Sie schob ihre Decke weg, verhedderte sich jedoch darin, als sie eilig versuchte, ihr Handy zu finden und fiel schnurstracks hinunter auf ihr Hinterteil. Vom harten Fußboden aus stöhnte sie und griff nach dem Kaffeetisch, um sich daran hochzuziehen.
Als sie endlich ihr Handy in der Hand hielt, hatte sie zu viel Panik um nachzusehen. Sie zögerte mit ihrem Daumen über dem Knopf, bevor sie endlich ihre Angst überwand und den Daumen hinunterdrückte.
Sofort sah sie, dass sie mehrere Benachrichtigungen über SMS Nachrichten hatte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Könnte eine von ihnen von Cristiano sein? Sie drückte auf das Symbol.
Die erste Nachricht war von Maxine, die fragte, ob sie okay war. Die nächste; nochmal Maxine, in der sie bat, sie wissen zu lassen, ob sie gut nach Hause gekommen war. Dann mehrere von Shelby, mit einem Strom von nicht miteinander verbundenen Worten mit Rechtschreibfehlern, noch eine von Maxine von heute Morgen, in der sie schrieb, wenn Keira sich bis Mittag nicht gemeldet hatte, würde sie die Polizei rufen und schlussendlich eine Nachricht von ihrer Mom, die fragte, ob sie jemals Kokosnussmilch in ihrem Milchkaffee probiert hatte. Aber nichts von Cristiano.
Ihr Herz sank und Enttäuschung machte sich tief in ihrer Brust breit. Aber sie wurde schnell von einem anderen Gefühl ersetzt: Erleichterung. Sie hatte den ersten Schritt getan und die Wand der Stille zwischen ihnen eingerissen und Cristiano hatte gewählt, ihr nicht zu antworten. Wenigstens wusste sie jetzt, wo sie stand. Sie musste sich nicht mehr fragen. So schwer es auch war zu wissen, dass es wirklich vorbei war, war sie doch froh, dass sie es nun mit Sicherheit wusste.
Sie sah wieder auf Maxines Nachrichten und nun, nicht länger von den Gedanken an Cristiano abgelenkt, schenkte sie ihrer Freundin die Aufmerksamkeit, die sie verdiente.
Bist du okay, Süße? Die Sache mit Rob tut mir so leid! Was für ein Trottel. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dir wahrscheinlich peinlich ist, aber du bist jetzt gerade buchstäblich meine Heldin!
Sie lächelte zu sich selbst, ihre Demütigung und das Gefühl, dass sie einen Narren aus sich gemacht hatte, lösten sich langsam auf. Sie tippte eine Antwort.
Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Ich muss sofort eingeschlafen sein, als ich nach Hause kam. Natürlich ist es mir peinlich, aber wenigstens bist du stolz auf mich.
Sie schickte die Nachricht ab und wollte ihr Handy zur Seite legen, änderte dann aber ihrer Meinung und schickte noch eine Nachricht an ihre Mom, Mallory. Ja. Und es schmeckt lecker.
Sie hörte das Geräusch eines Schlüssels in der Tür und sprang vor Überraschung auf. Als sie sich umdrehte, um über ihre Schulter zu gucken, sah sie, wie Bryn in die Wohnung kam, gekleidet in Sportsachen, pink gefärbte Wangen, verschwitzter Haaransatz und ein breites Grinsen im Gesicht. Dann bemerkte Keira, dass sie nicht alleine war. Felix war im Schlepptau. Für einen älteren Herren sah er auf jeden Fall ziemlich gut aus in seiner Sportbekleidung. Er erinnerte sie ein wenig an ein ‚Vorher Modell’ für eine Werbung für Haarfarbe für Männer.
„Du bist wach“, sagte Bryn zu Keira und lächelte. „Wie war die Party?“
„Hätte besser sein können“, murmelte Keira als Antwort. „Wo wart ihr beiden denn?“
Bryn ging hinüber zur Spüle, um ihre leere Wasserflasche wieder aufzufüllen. Es war Felix, der Keiras Frage beantwortete.
„Wir waren gerade joggen“, sagte er.
Keira musste sich selbst stoppen zu fragen: „In deinem Alter?“ Stattdessen schaffte sie es, sich zurückzuhalten und fragte: „Zu dieser Zeit am Morgen?“
„Es ist die beste Zeit dafür“, antwortete Felix. Er hob eines seiner Beine, lehnte es auf einen der Hocker in der Küche und dehnte sich, um seine Zehen zu erreichen.
Er war fitter als Keira, so viel war offensichtlich. Sie hatte sich diesbezüglich komplett gehen lassen und ihre Hüfte begann langsam darunter zu leiden. Es war alles schön und gut nach Herzenslust zu essen und zu trinken, als sie noch die italienischen Berge hinauf und hinunter gewandert war, aber jetzt, da ihre Abende aus Dauerfernsehen und Brezeln bestanden, war das keine so gute Idee. Sie kniff sich in den Bauch. Der war definitiv weicher als früher. Sie würde bald etwas dagegen unternehmen müssen.
Bryn drehte sich um und nahm einen großen Schluck Wasser aus ihrer Flasche. „Hast du von Mom gehört?“
„Nur eine unwichtige Nachricht über Kokosnussmilch im Milchkaffee“, antwortete Keira.
Bryn lachte: „Sie verliert ihren Verstand. Sie sollte dir wegen des Abendessens heute Abend Bescheid geben.“
„Oh“, antwortete Keira.
„Also?“, fragte Bryn. „Was sagst du? Swanson Mädels Verabredung zum Abendessen?“
„Ist Felix nicht eingeladen?“, fragte Keira neugierig. Mallory schien Felix zu lieben; entweder das oder sie war einfach nur sehr erleichtert, dass Bryn endlich eine feste Beziehung eingegangen war.
Felix wechselte die Position, um sein anderes Bein zu dehnen. Er blickte Keira an, seine Hände waren ausgestreckt und hielten die Spitze seiner Turnschuhe fest. „Ich habe heute Abend Pläne mit meiner eigenen Familie. Meine Eltern haben ihren Hochzeitstag.“
Und erneut musste Keira sich auf die Zunge beißen, um sich zu stoppen, nicht etwas Gemeines herauszuprusten. Aber sie war wirklich überrascht, dass Felix Eltern gesund und munter waren. Sie mussten weit über achtzig sein, das gleiche Alter in dem Keiras Großeltern wären, wären sie noch am Leben.
„Das ist wunderbar“, brachte sie zustande zu sagen.
„Was soll ich Mom sagen?“, fragte Bryn.
„Sag ihr, okay“, antwortete Keira.
Vielleicht würde ein bisschen verhätschelt zu werden, ihr helfen, sich aus ihrem Trott zu befreien. Es gab nichts Besseres, als Mallorys mütterliche Rührseligkeit, um Keira daran zu erinnern, wie wichtig ihr ihre Unabhängigkeit war. Bryn und Felix nickten sich zu und gingen dann in Richtung Tür.
„Wohin geht ihr?“, fragte Keira.
„Die zweiten fünf Kilometer“, antwortete Bryn.
„Zehn vorm Frühstück war schon immer mein Motto“, fügte Felix hinzu.
Sie winkten und wirbelten zur Tür hinaus. Keira war überrascht. Es war schwer zu glauben, dass überhaupt jemand so körperlich aktiv sein konnte, ganz zu schweigen von einem Mann über sechzig. Sie fragte sich, wie lange das Training dauern würde, bis man zehn Kilometer rennen konnte und stellte fest, dass es wahrscheinlich überhaupt nicht sehr lange dauerte. Mit Sicherheit weniger, als ein Jahr. Felix könnte sein Fitnessprogramm nach seinem sechzigsten Geburtstag begonnen haben, soweit sie wusste. Es war niemals zu spät für Veränderungen.
Plötzlich realisierte sie, dass sie aufhören musste herumzusitzen und sich selbst zu bemitleiden.
Von einer Welle der Motivation beflügelt, griff Keira nach ihrer Arbeitstasche und holte ihr Notizbuch heraus. Sie schrieb eine schnelle Liste von all den Dingen, die sie in ihrem Leben verändern musste, einschließlich des Vorhabens, ein paar überflüssige Pfunde zu verlieren und ihren Haaransatz nachzufärben. Sie überflog die Liste und realisierte, dass es eine besonders wichtige Veränderung gab, die sie schnellstmöglich umsetzen musste, um ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Das war, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Je länger sie auf Bryns Couch schlief, desto schwieriger wurde es, sich vorzustellen, dass sie je wieder unabhängig auf ihren eigenen zwei Beinen stehen würde.
Sie griff nach ihrem Laptop und ging auf eine Immobilien Webseite. Sie hatte seit bestimmt zwei Jahren keine Wohnungspreise mehr studiert, da sie so lange mit Zach zusammen gewohnt hatte und die aktuellen Preise trieben ihr die Tränen in die Augen. Aber wenn sie ihre Arbeitsboni und die paar Tausend Dollar zusammenrechnete, die sie in den letzten Monaten gespart hatte, einfach nur deshalb, weil sie keine eigene Miete und für kein Essen zahlen musste, könnte sie vielleicht geradezu in der Lage sein, genug für eine Mietkaution zusammenzukratzen. Auf Papier sah sie wie eine sichere Sache aus, da sie eine sichere Anstellung mit gutem Einkommen nachweisen konnte. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie einen Funken der Hoffnung.
Sie durchforstete die gesamte Liste der Wohnungen auf der Suche nach einer, die in ihrer Preisklasse lag. Die meisten von ihnen sahen ziemlich abgenutzt aus, aber sie mochte Heimwerkerprojekte und hatte kein Problem damit, wenn die Wohnung etwas renovierungsbedürftig war. Sie wollte nur etwas, das ihre eigenen vier Wände waren, einen Ort, den sie zu Hause nennen konnte, nachdem sie endlose Wochen in Hotelzimmern verbracht hatte.
Endlich fiel ihr eine Wohnung ins Auge. Eine Einzimmerwohnung mit Badezimmer weiter westlich von Manhattan, als sie sich normalerweise aufhielt. Nach den Fotos zu urteilen, sah sie so aus, als wäre sie die traurige, verkleinerte Mietwohnung eines Scheidungsopfers gewesen, aber Keira konnte an der faden, lieblosen Einrichtung vorbeischauen. Die Fenster waren riesig, die Decken hoch. Und ohne den grauen Teppich würde der Raum sogar noch größer wirken. Das Gebäude hatte eine Waschküche im Untergeschoss und war weniger als eine Meile von der U-Bahn-Station entfernt.
Es fühlte sich an, als sollte es sein.
Keira griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer des Immobilienmaklers. Nachdem es ein paarmal geklingelt hatte, meldete sich die krächzende Stimme einer älteren Frau, mit einem wahrscheinlich über Jahrzehnte entwickelten, kratzigen Raucherhusten.
„Ich rufe an, um mich nach der Wohnung auf ihrer Webseite zu erkundigen“, sagte sie und erklärte, welche Wohnung sie interessierte.
„Oh ja, die ist ein Prachtstück“, antwortete die Frau. „Großartige Lage. Wie groß bist du?“
Keira war etwas überrascht über diese Frage. „Warum?“
„Weil die letzten zwei Typen, denen ich diese Wohnung gezeigt habe, so groß wie Basketballspieler waren und sie wollten mehr Platz. Eine Zeitverschwendung für alle Beteiligten. Und Zeit ist Geld, Kind. Also? Wie groß?“
„Ein Meter achtundfünfzig“, antwortete Keira.
„Perfekt“, krächzte die Frau. „Wann willst du sie dir angucken?“
Keira dachte an ihre Arbeit und die vielen Überstunden, die sie oftmals bei Viatorum arbeiten musste. „Ein Wochenende wäre am besten.“
„Was machst du heute?“, kam die Antwort der Frau. „Ich hatte eine Absage, also kann ich dich dazwischen schieben.“
„Heute?“, wiederholte Keira überrascht. Es war nicht so, dass sie irgendetwas anderes zu tun hätte. „Okay, ja. Heute passt gut!“
Sie besprachen die benötigten Details und als Keira auflegte, fühlte sie sich fast ein wenig schwindelig von dem Tempo, in dem alles passiert war. Es fühlte sich wirklich wie Schicksal an.
*
Keira kam aus der U-Bahn-Station und fand sich in einem ihr unbekannten, aber überaus angenehmen Teil von New York wieder. Das war eines der Dinge über die Stadt, die sie so sehr liebte. Wie sie sich veränderte, wie Neues entstand und wie sie sich kontinuierlich immer weiterentwickelte, sodass sie sich immer wieder selbst neu erfand. Vor nicht allzu langer Zeit musste diese Gegend etwas heruntergekommen gewesen sein und die meisten Menschen haben die Neuentwicklung noch nicht mitbekommen, denn ansonsten gäbe es keinerlei Chance, dass sie in der Lage wäre, sich in dieser Gegend eine Mietwohnung leisten zu können!
Sie eilte den Gehsteig entlang und suchte mit den Augen, während sie lief, die Hausnummern ab, um das richtige Gebäude zu finden. Als sie der richtigen Hausnummer näher kam, bemerkte sie eine Frau, die in einiger Entfernung vor ihr stand. Sie trug einen pinkfarbenen Zweiteiler mit passenden Absatzschuhen und rauchte eine Zigarette. Das musste die Immobilienmaklerin sein, mit der sie am Telefon gesprochen hatte.
Die Frau drehte sich um, wahrscheinlich da sie Keiras Schritte hinter sich gehört hatte und warf ihre Zigarette auf den Boden. Sie drückte sie mit der Spitze ihres Schuhs aus und eilte sogleich in Richtung Tür. Sie gestikulierte in Keiras Richtung ihr zu folgen und blies, während sie lief, seitlich den Zigarettenrauch aus.
„Lass uns hineingehen“, rief sie Keira zu, die noch einige Schritte entfernt war. „Ich friere mir hier draußen das Hinterteil ab.“
Keira zwinkerte wieder überrascht darüber, wie schnell sich die Dinge scheinbar entwickelten. Ohne sich vorzustellen, folgte sie der Frau in das Wohnhaus.
Drinnen war es düster, genau wie Keira es erwartet hatte, aber die Treppen waren in einem Stück und der Fahrstuhl roch okay. Sie fuhren hinauf zur dreizehnten Etage und Keira war positiv überrascht darüber, dass an keiner der Wände des Flures, den sie nun betraten, irgendwelches Graffiti gesprüht war.
Die Immobilienmaklerin steckte einen Schlüssel in das Schlüsselloch einer einfachen weißen Tür und drückte sie auf.
Der Geruch von Staub kam ihnen entgegen. Es roch, als wäre die Wohnung seit Jahren nicht gesaugt worden. Sie gingen hinein.
„Der Eigentümer hat hier für eine Weile gewohnt, bevor er woanders eingezogen ist. Er möchte diese hier jetzt vermieten. Er ist alleinstehend“, sagte die Maklerin, während sie mit ihrem Finger die Balustrade entlangstrich und dabei Staub aufwirbelte, „wie du sicherlich sehen kannst.“
Aber Keira kümmerte die Staubschicht nicht. Es kümmerte sie auch nicht, wie viel kleiner die Wohnung in Wirklichkeit und verglichen mit den Fotos war oder dass die Tapete voll von verschmierten Fingerabdrücken war. Sie konnte über all das hinwegsehen. Die Wohnung bedeutete für sie Freiheit, Unabhängigkeit, der Beginn ihres neuen Lebens. Ein Neustart. Ein Anker.
„Ich liebe sie!“, rief sie aus und klatschte in die Hände.
Die Maklerin schien von ihrem Ausbruch der Begeisterung unbeeindruckt. „Gut“, sagte sie nur. „Das Schlafzimmer ist hier drüben. Das ist der Grund, warum sie so billig ist. Es ist nicht genug Platz, um ein richtiges Doppelbett darin unterzubringen, nur für eins von denen in europäischer Größe. Aber da du klein bist, wirst du gut reinpassen.“
Keira sah ins Schlafzimmer. Es war wirklich nicht viel größer als ein Abstellraum. Aber was sonst würde sie von einem Schlafzimmer brauchen, als einen Platz zum Schlafen? Es war ja nicht so, als hätte sie einen Partner, mit dem sie ihr Bett teilen würde. Es würde ja nur sie selbst sein. Sie und vielleicht noch eine Katze...
„Sieht groß genug für mich aus“, sagte sie. „Ich besitze ehrlich gesagt noch kein Bett, also ist es nur ein Fall, etwas zu finden, was hineinpasst.“
Die Immobilienmaklerin nickte in ihrer charakteristischen, gelangweilten Art. „Großartig. Willst du sie mieten?“
Keira brauchte einen Moment zum Nachdenken. Alles passierte so schnell. Sie ging zurück aus dem Schlafzimmer in den Wohnbereich und lief hinüber zu den großen Fenstern und schaute sich die Aussicht an. Sie konnte von hier sogar den Central Park sehen.
Plötzlich konnte sie sich selbst hier vorstellen, wie sie an diesem Fenster saß, auf die Straßen hinaus blickte, Kaffee trank und schrieb. Es war, wie ihr eigenes Pariser Hotelfenster. Es war perfekt für sie. Sie brauchte nichts Anderes, nicht, wenn sie sich beruflich so oft im Ausland aufhielt. Alles, was sie brauchte, war ein Ort, den sie ihren eigenen nennen konnte. Einen neuen Anfang.
Sie drehte sich zu der in pink gekleideten Immobilienmaklerin um. „Ja, ich nehme sie.“
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