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Orin schaute sie vielsagend an. „Doch, tust du, solange du im County Clare bist, Mädchen. Hier kannst du ganz locker sein, wie jeder andere auch. Und außerdem müssen wir auf deine sichere Reise anstoßen! Dank sei der Jungfrau Maria.“ Er bekreuzigte sich.

Keira fühlte sich ein wenig überrumpelt, als sie das Guinness nahm und an dem starken Gebräu nippte. Sie hatte noch nie vorher Guinness getrunken und der Geschmack sagte ihr nicht gerade zu. Nach dem kleinen Schluck war sie sich ziemlich sicher, das nicht austrinken zu können.

„Hört mal alle!“, rief Orin den anderen Besuchern des Pubs zu. „Das ist die amerikanische Journalistin!“

Keira wollte sich verkriechen, als sich plötzlich alle zu ihr umdrehten, applaudierten und jubelten, als sei sie eine prominente Persönlichkeit.

„Wir freuen uns ja so, dass du da bist!“, sagte eine Frau mit krausen Haaren. Für Keiras Geschmack kam sie ihr etwas zu nahe und lächelte etwas zu breit. Dann fügte sie etwas leiser hinzu: „Du solltest vielleicht den Guinnessbart von der Lippe wischen.“

Rot vor Scham, tat Keira genau das. Gleich darauf hatte sich eine andere Besucherin mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge gebahnt, was niemanden zu stören schien. Sie verkleckerte ein wenig von ihrem Getränk unterwegs. „Ich kann es nicht erwarten, den Artikel zu lesen.“

„Oh, danke“, sagte Keira. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass die Leute hier lesen würden, was man über sie schrieb. Das würde es vielleicht doch deutlich schwieriger machen, den zynischen Blickwinkel beizubehalten.

„Wieso bist du Journalistin geworden?“, fragte ein Mann neben ihr.

„Ich bin einfach nur eine Autorin. Keine Reporterin“, antwortete sie errötend.

„Nur eine Autorin?“, rief der Mann laut und Aufmerksamkeit heischend. „Habt ihr das gehört? Sie sagt, sie ist nur eine Autorin. Also, ich kann mal gerade so einen Stift festhalten. Da musst du wohl ein wahres Genie sein.“

Alle lachten. Nervös nahm Keira noch ein paar kleine Schlucke vom Guinness. Die irische Gastfreundschaft war ihr durchaus recht, aber es war auch ein ziemlicher Kulturschock. Es gab so viele Möglichkeiten, diesen Ort in ihrem Artikel niederzumachen, das wurde ihr unangenehm bewusst.

„Ich zeige dir dein Zimmer“, sagte Orin schließlich, als sie wenigstens die Hälfte ihres Biers ausgetrunken hatte.

Sie folgte ihm eine schmale, knarzende Treppe hinauf, einen Korridor entlang, der mit einem fadenscheinigen Teppich ausgelegt war und arg staubig roch. Keira folgte ihm schweigend, nahm alles in sich auf und entwarf im Geiste ein paar scharfe Formulierungen über die veraltete Einrichtung. An den Wänden hingen gerahmte, verblasste Fotografien von örtlichen Fußballmannschaften der Vergangenheit. Keira musste schmunzeln, als sie sah, dass viele der Spieler denselben Nachnamen trugen: O'Sullivan. Sie machte heimlich ein Foto von einem der Schwarzweißbilder und schickte es an Zachary mit dem Kommentar: Mr. O'Sullivan muss ein fruchtbares Zuchttier gewesen sein.

„So, da sind wir“, sagte Orin, öffnete eine Tür und ließ sie eintreten.

Das Zimmer war grauenvoll. Obwohl groß, mit einem Doppelbett und großem Fenster, war es schrecklich eingerichtet. Die Tapete war pfirsichfarben, mit Flecken, die viele Generationen von Händen hinterlassen hatten. Auf dem Bett lag eine dünne Steppdecke, aber nicht hübsch gemustert, sondern eher wie aus einem Notlager.

„Das ist das Zimmer mit dem Tisch“, sagte Orin und grinste stolz. Er deutete auf einen kleinen Holztisch am Fenster. „Zum Schreiben.“

Keira errötete. Sie war innerlich entsetzt von der Vorstellung, einen ganzen Monat in diesem schmierigen Zimmer wohnen zu müssen. Aber sie quetschte ein „Danke schön“ hervor. So viel zu dem Thema, sie würde locker einen Monat rustikal leben können.

„Willst du dich erst einmal etwas eingewöhnen, bevor du Shane kennenlernst?“, fragte Orin.

Keira runzelte verwirrt die Stirn. „Wer ist Shane?“

„Shane Lawder. Dein Führer für das Festival“, erklärte Orin.

„Natürlich“, sagte Keira und erinnerte sich an Heathers Notizen. Da war die Rede von einem Tourführer gewesen. „Ja, danke, ich würde Shane gern kennenlernen.“ Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, auch nur eine einzige Minute länger in diesem Zimmer zu bleiben. Sie warf ihre Tasche auf das Bett und ging die knarzende Treppe wieder hinunter.

„Shane!“, rief Orin, nachdem er seinen Platz hinter dem Tresen wieder eingenommen hatte.

Zu Keiras Überraschung war es der Geigenspieler, der antwortete. Er legte das Instrument beiseite und kam zu ihnen herüber, während die anderen Musiker einfach weiterspielten, als wäre nichts gewesen.

Keira konnte erkennen, dass sich unter seinem Zottelbart ein kantiger Kiefer verbarg. Tatsächlich war es so, dass er durchaus gutaussehend gewesen wäre, wenn er sich nur die Haare geschnitten und weniger schlabberige Kleidung getragen hätte. Keira hatte ein schlechtes Gewissen, an so etwas zu denken, zumal es mit Zachary im Augenblick so ungünstig lief. Aber da fiel ihr Bryns Motto ein: Gucken darf man immer.

„Du siehst nicht gerade aus wie ein Joshua“, sagte Shane, als er ihr die Hand schüttelte.

„Oh, hat dir keiner Bescheid gesagt?“, fragte Keira. „Es kam etwas dazwischen, daher bin ich nun hier. Tut mir leid.“

Shane musterte sie feixend. „Was gibt es da zu entschuldigen? Ich verbringe lieber dreißig Tage mit einer hübschen Lady wie dir. Nichts gegen diesen Joshua, ich bin sicher, er sieht gut aus, aber er klingt nicht, als wäre er mein Typ. Du weißt schon, so als Mann und so.“

Keira schluckte. Sie hatte nicht erwartet, dass irische Männer so direkt sein würden. Sie dachte an Zach und wiederholte im Geiste das Mantra, dass Gucken erlaubt war.

Während Shane sich neben ihr auf einen Barhocker setzte, stellte Orin ihnen beiden ein Guinness hin. Leira stöhnte innerlich. So viel Alkohol würde sie nicht verkraften.

Shane nahm einen kräftigen Schluck, dann breitete er ein paar Dokumente auf dem Tresen aus.

„Das Festival der Liebe geht über dreißig Tage“, erklärte er. Die meisten Aktivitäten fangen nie vor dem Abend an. Daher habe ich einen Plan erstellt, was du dir angucken kannst, während deines Aufenthaltes, damit du einen besseren Eindruck von Land und Leuten bekommst. Wir fangen mit dem Burren an, damit du eine Kalksteinlandschaft siehst. Dann die Klippen von Moher für den Blick über das Meer. Dann springen wir rüber ins nächste County, nach Kerry, zu dem alten, stattlichen Killarny, von da geht’s nach Dingle.“

„Ich dachte, du bist nur mein Führer für das Festival“, sagte Keira, „nicht für das ganze Land!“

„Du drehst durch, wenn du tagsüber nicht mal aus Lisdoonvarna rauskommst“, erklärte Shane. „Die Masse an Menschen, die kommen und gehen, das ist ein bisschen viel.“

Keira lachte innerlich. Sie bezweifelte ernsthaft, dass Lisdoonvarna während des Festivals hektischer sein könnte als New York an jedem normalen Tag.

„Es wird viel getrunken“, fuhr Shane fort. „Manche der Partys gehen bis in die frühen Morgenstunden. Ach, was sage ich, manche, denn eigentlich sind es fast alle.“

Keira dachte an den lärmenden Junggesellenabschied im Flugzeug und fragte sich, ob sie in den nächsten vier Wochen überhaupt Schlaf kriegen würde.

„Das sieht gut aus“, sagte sie und schaute sich den Plan an. „Aber ich werde jeden Tag ein wenig Zeit brauchen, um zu schreiben. Es ist eben nicht nur alles reines Vergnügen.“

Shane schmunzelte. „Du bist gerade erst angekommen und denkst schon über Arbeit nach?“

„Ich muss“, erklärte Keira. „Der Auftrag ist wichtig für mich. Ich will ihn nicht versauen.“

„Und ihn nicht zu versauen, ist gleichbedeutend damit, sich nicht entspannen zu können?“

Keira war nicht in der Stimmung, jetzt über ihre Lebensentscheidungen zu diskutieren. Darüber hatte sie von Zach und ihrer Mutter gestern wahrlich genug gehört.

„Es bedeutet lediglich, dass ich jeden Tag ein wenig Zeit zum Schreiben brauche“, gab sie ein wenig eingeschnappt zurück.

Shanes Gesichtsausdruck behielt sein amüsiertes Schmunzeln. Er nahm noch einen großen Schluck Guinness. „Du bist einer von diesen puritanischen Typen, oder? Nur Arbeit, kein Vergnügen.“

Keira blickte ihn unbeeindruckt an. „Ich weiß nicht, wie du annehmen kannst, irgendetwas über mich zu wissen“, sagte sie. „Wir kennen uns gerade erst seit fünf Minuten.“

Shane grinste immer noch. Er antwortete nicht, als wäre das Thema bereits erledigt. Keira verkrampfte sich. Er sah gut aus, das stimmte wohl, aber wenn er so weitermachte, würde er ihr schon sehr bald fürchterlich auf die Nerven gehen. Sie wusste nicht, ob sie dreißig Tage lang Hänseleien und Trinkgelage aushalten würde, ohne einen anständigen Platz zum Schreiben.

Vielleicht war dieser Auftrag schwieriger, als sie erwartet hatte.

*

Keira schaffte es schließlich, sich zur Nacht zu verabschieden. Sie hatte irgendwann aufgehört, zu zählen, wie viele Guinness Orin und Shane getrunken hatten. Immerhin hatten sie beizeiten aufgehört, sie ebenfalls zum Trinken zu animieren. Dennoch schwirrte ihr der Kopf, als sie die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufstieg.

Sie schloss die Tür hinter sich, aber die Musik und das Stimmengewirr von unten waren dadurch nicht weniger hörbar. Keira fühlte sich völlig überdreht und aufgekratzt. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, aber da war noch immer keine Nachricht von Zachary. Er hatte auf jeden Fall genug Zeit gehabt, sie zu lesen. Was bedeutete, dass er sie mit Schweigen strafte. Wie erwachsen, dachte Keira.

Immerhin hatte sie Nachrichten von Nina und Bryn, die sie mit Fragen bombardierten. Sie schrieb Nina, die den Artikel editieren würde, um ihr zu sagen, dass ihr Zeitplan randvoll war und an Schreiben erst einmal nicht zu denken war. An Bryn schickte sie eine kurze optische Beschreibung von Shane und ein paar Feuer-Emojis.

Er ist aber ziemlich anstrengend. Einer dieser arroganten Typen, die meinen, es wäre reizvoll, wenn sie einen die ganze Zeit auf den Arm nehmen.

Bryns Antwort kam sofort. Es IST reizvoll.

Keira lachte und legte das Handy beiseite. Die Musik unten würde sie sicher noch eine Weile vom Schlafen abhalten, also konnte sie genauso gut schon mal ein wenig arbeiten. Sie holte den Laptop aus der Tasche und schrieb eine E-Mail an Elliot, mit einigen Ideen, wie man den Artikel angehen könnte. Dank der paar Guinness konnte sie sogar einen noch bissigeren Ton finden als sie gedacht hatte.

Falls du dich je gefragt hast, wie über Jahrzehnte verkleckerte Guinnessflecken im Teppich riechen, brauchst du bloß nach Lisdoonvarna ins St. Paddy's Inn zu kommen. Als exotische Amerikanerin wurde ich gleich nach meiner Ankunft mit einem Übermaß an irischer Gastfreundschaft erstickt. Ich sage erstickt, denn es war schier unmöglich, die Angebote, reichlich Alkohol zu trinken, abzulehnen. Daher riecht es hier überall in dem dunklen Schuppen nach abgestandenem Guinness. Man hat geradezu das Gefühl, alles, Teppiche, Gardinen, Tapeten, wirklich alles klebt vom Bier. Sagen wir mal so, es würde mich nicht wundern, wenn morgen früh aus der Dusche in meinem veralteten, winzigen Bad dunkelbraune, schäumende Flüssigkeit käme.

In dieser Art setzte sie ihren Bericht fort. Sie wusste, dass es gemein war, das B&B auf diese Weise niederzumachen und erst recht die netten Menschen, die sie bisher getroffen hatte, aber sie konnte einfach nicht anders.

Sie endete den Bericht und schickte ihn ab. Elliot antwortete beinahe sofort mit lobenden Worten.

Weiter so, Keira. Das ist goldrichtig!

Im nächsten Moment klingelte ihr Telefon. Es war Bryn. Keira seufzte, denn das bedeutete, dass es mit der Arbeit für heute vorbei war. Sie klappte den Laptop zu und nahm das Gespräch an, während sie ins Bett krabbelte.

„Was ist los?“, fragte sie ihre Schwester.

„Ich hatte gerade ein misslungenes Date“, erklärte Bryn. „Also dachte ich, ich rufe dich an, um mehr über diesen stattlichen Tourguide zu erfahren.“

Keira lachte. „Also, er hat zu viele Haare. Und sein Modebewusstsein ist fragwürdig.Aber mit ein bisschen Mühe würde er schon etwas hermachen.“

„An deiner Stelle würde ich ihn mir schnappen“, sagte Bryn.

Keira schnappte nach Luft. Selbst für Bryns Verhältnisse war das schon sehr direkt. „Aber was ist mit Zach?“, fragte sie lachend.

„Was ist mit ihm?“, fragte Bryn abfällig zurück.

Keira stöhnte auf. „Er ist mein Freund“, erinnerte sie Bryn. „Und selbst wenn Shane zum Friseur gehen würde und sich neu einkleidete, dann könnte ich immer noch keine fünf Minuten in seiner Gegenwart verbringen, ohne ihm den Hals umdrehen zu wollen.“

Bryn lachte. „Das wird die nächsten paar Wochen irgendwie anstrengend machen, oder nicht?“

„Das und die Tatsache, dass sich mein Zimmer direkt über einem Pub ohne Sperrstunde befindet, und wo eine Folkband drin zu wohnen scheint.“

„Klingt großartig“, gab Bryn zurück. „Mann, Keira, du arbeitest so hart, dass du nicht einmal merkst, in welch aufregender Situation du dich befindest! Du hast gerade gesagt, dass die Party nie aufhört und dabei gestöhnt.“

„Du hörst dich an wie Shane“, antwortete Keira. „Wenn ich nicht trinken, tanzen oder fröhlich sein will, dann muss ich das auch nicht!“

Sie und Bryn beendeten das Gespräch. Keira stellte fest, dass sie trotz des Lärms von unten die Augen kaum noch aufhalten konnte. Also krabbelte sie unter die dünne Decke und legte den Kopf auf das verbeulte Kissen. Noch immer hatte Zach auf keine ihrer lustigen Nachrichten reagiert. Sie versuchte, ihn anzurufen, aber er ging nicht dran.

Sie ging auf Instagram und sah Fotos von Zach auf Ruths Hochzeit. Er sah großartig aus in seinem Anzug, aber er wirkte so einsam. Er schien immer etwas abseits und allein zu stehen, was ihr ein schlechtes Gefühl gab, nicht bei ihm zu sein. Vielleicht hatte ihre Mutter doch nicht ganz unrecht gehabt. Allein auf eine Hochzeit zu gehen, war schon etwas peinlich.

Schon fast im Halbschlaf, sah sie sich selbst mit Zach auf der Hochzeit. Allerdings war es gar nicht Zach, sondern Shane, rasiert, im maßgeschneiderten Anzug. Er sah noch besser aus, als sie gedacht hatte.

Keira erwachte mit einem Schrecken. Die Lage war schon kompliziert genug, da musste sie nicht auch noch ein Auge auf ihren Reisebegleiter werfen!

Sie schob alle weiteren Gedanken beiseite und verfiel endlich in einen tiefen Schlaf.

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