Hinter dem Garten befand sich ein großer Wald, der von dem unternehmenden Verwalter bisher noch verschont geblieben war; vielleicht weil der Lärm des Fällens leicht bis zu den Ohren Pulcheria Iwanownas dringen konnte. Dieser Wald war sehr verwildert und verwahrlost; die alten Baumstämme waren mit wilden Haselnußsträuchern bewachsen und sahen wie befiederte Taubenfüße aus. In diesem Walde hausten auch wilde Waldkater. Diese wilden Waldkater darf man jedoch nicht mit jenen kühnen Helden verwechseln, die auf den Häuserdächern herumlaufen; sie sind in der Stadt trotz ihrer schlechten Manieren weit zivilisierter als im Walde. Die Waldkatzen sind dagegen ein finsteres und wildes Volk; sie sind immer elend und mager, und miauen mit einer groben, unartikulierten Stimme. Manchmal dringen sie durch unterirdische Gänge in die Speicher ein und stehlen Speck, oder sie springen durch das Küchenfenster, wenn sie merken, daß der Koch ins Feld gegangen ist. Überhaupt fehlt es ihnen an allen edleren Regungen, sie leben nur von Raub und würgen die jungen Sperlinge in den eigenen Nestern. Diese Kater hatten seit längerer Zeit ein Liebesverhältnis mit dem schüchternen Kätzchen Pulcheria Iwanownas angeknüpft, sie beschnüffelten es durch ein Loch im Speicher und lockten es endlich zu sich, so wie wohl ein Trupp Soldaten eine dumme Bauerndirne verführt. Pulcheria Iwanowna bemerkte bald das Verschwinden der Katze und schickte Leute aus, um sie zu suchen; aber die Katze konnte nicht aufgespürt werden. So vergingen drei Tage, Pulcheria Iwanowna bedauerte den Verlust der Katze, aber bald war sie ganz vergessen. Eines Tages, als Pulcheria Iwanowna eben ihren Gemüsegarten revidiert hatte und mit einer Menge eigenhändig gepflückter frischer Gurken für Afanassji Iwanowitsch zurückkehrte, vernahm sie zu ihrer Überraschung ein jämmerliches Miauen. Unwillkürlich lockte sie das Kätzchen, rief „Ksch, ksch“, und plötzlich kam eine graue, magere, elende Katze aus dem Steppengras hervorgekrochen, der man es deutlich ansah, daß sie schon einige Tage nichts zu fressen bekommen hatte. Pulcheria Iwanowna ließ nicht nach, sie zu rufen, aber die Katze blieb stehen, miaute und wagte es nicht, näher zu kommen; sie war augenscheinlich in der Zwischenzeit sehr verwildert. Pulcheria Iwanowna ging voraus und hörte nicht auf, die Katze zu locken, die ihr allmählich ängstlich bis zum Speicher nachschlich. Als die Katze jedoch die alten Plätze wiedererkannte, folgte sie ihrer Herrin bis ins Zimmer. Pulcheria Iwanowna befahl sogleich, ihr Milch und Fleisch zu bringen, setzte sich vor ihr nieder und freute sich über die Gier, mit der ihr Liebling ein Stück nach dem andern verschlang und die Milch ausleckte. Die graue Vagabundin wurde zusehends dicker und fraß schon nicht mehr so gierig. Pulcheria Iwanowna streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, aber die Undankbare hatte sich offenbar schon zu sehr an die wilden Kater gewöhnt, oder sie hatte den Kopf voll romantischer Ideen und glaubte wohl, Armut und Liebe sei besser als ein Palast (und die Kater waren arm wie Kirchenmäuse), kurzum, sie sprang aus dem Fenster und keiner von den Knechten und Mägden vermochte sie einzufangen.
Die alte Frau wurde nachdenklich. „Der Tod ist zu mir gekommen,“ murmelte sie vor sich hin, und hinfort konnte sie nichts mehr zerstreuen.
Den ganzen Tag war sie traurig. Vergeblich scherzte Afanassji Iwanowitsch und wollte wissen, warum sie plötzlich so melancholisch geworden sei, Pulcheria Iwanowna schwieg, oder sie gab Antworten, die Afanassji Iwanowitsch unmöglich befriedigen konnten. Am nächsten Tage sah sie ganz verändert aus.
„Was fehlt Ihnen, Pulcheria Iwanowna? Am Ende sind Sie gar krank?“ „Nein, ich bin nicht krank, Afanassji Iwanowitsch! Ich muß Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mitteilen. Ich weiß, daß ich diesen Sommer sterben werde: der Tod ist schon bei mir gewesen, um mich zu holen.“ Afanassji Iwanowitschs Mund verzog sich schmerzlich, aber er suchte das in seiner Seele aufsteigende traurige Gefühl zu überwinden und sagte lächelnd: „Gott weiß, was Sie reden, Pulcheria Iwanowna. Sie haben gewiß statt des üblichen Kräutertranks ein Gläschen Pfirsichschnaps getrunken!“
„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich habe keinen Pfirsichschnaps getrunken,“ antwortete Pulcheria Iwanowna.
Afanassji Iwanowitsch bereute, daß er Pulcheria Iwanowna geneckt hatte: er sah sie an, und eine Träne hing an seiner Wimper.
„Ich bitte Sie, Afanassji Iwanowitsch, erfüllen Sie meinen Wunsch,“ sagte Pulcheria Iwanowna, „und lassen Sie mich wenn ich sterbe, an der Kirchhofsmauer beerdigen. Ziehen Sie mir das graue Kleid an, wissen Sie – das mit den kleinen Blümchen auf dem braunen Saum. Ziehen Sie mir nicht das Atlaskleid mit dem himbeerroten Streifen an – Tote brauchen keine Kleider – was sollte ich auch damit? Aber Ihnen kann es noch von Nutzen sein, Sie können sich einen schönen Schlafrock daraus machen lassen: wenn Gäste kommen, können Sie sich doch sehen lassen, und sie würdig empfangen.“
„Gott weiß, was Sie da schwatzen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji, „wer kann denn wissen, wann er sterben wird, und Sie erschrecken mich jetzt mit solchen Worten.“
„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich weiß schon, wann ich sterben werde. Aber Sie dürfen nicht um mich trauern. Ich bin schon alt, wir werden uns bald im Jenseits wiedersehen.“
Aber Afanassji Iwanowitsch schluchzte wie ein Kind.
„Afanassji Iwanowitsch, es ist eine Sünde, so zu weinen. Versündigen Sie sich nicht an Gott, erzürnen Sie ihn nicht mit Ihrem Schmerz. Ich bedaure nicht, daß ich sterben soll, nur das eine tut mir leid (ein tiefer Seufzer unterbrach für einen Augenblick ihre Rede), es tut mir leid, daß ich nicht weiß, wem ich Sie anvertrauen soll. Wer wird für Sie sorgen, wenn ich sterbe? Sie sind ja wie ein kleines Kind – wer für Sie sorgen will, müßte Sie lieb haben!“ Und bei diesen Worten lag ein solch tiefes, herzinniges Mitleid in ihren Zügen, daß ich nicht weiß, ob ihr jemand in diesem Augenblick ohne Bedauern hätte in die Augen sehen können.
Hierauf wandte sie sich an die Wirtschafterin, die sie hatte rufen lassen, und sagte: „Paß mir auf, Jawdocha, und sorge für den Herrn, wenn ich sterbe, hüte ihn wie deinen Augapfel, und wie dein eigenes Kind. Achte darauf, daß man in der Küche stets seine Lieblingsgerichte kocht, und daß Du ihm immer reine Wäsche und reine Kleider gibst, achte darauf daß er anständig angezogen ist, wenn Gäste kommen: sonst kann es noch am Ende passieren, daß er im einen alten Schlafrock herauskommt, er vergißt doch jetzt schon manchmal, ob es Feiertag oder ein Wochentag ist. Laß ihn nicht aus den Augen, Jawdocha, ich werde in jener Welt für dich beten, und Gott wird dich belohnen. Vergiß nicht, Jawdocha, du bist schon alt, und hast auch nicht mehr lange zu leben, häufe keine Sünde auf deine Seele. Wenn du nicht auf den Herren acht gibst, so wirst du nie wieder glücklich werden auf dieser Erde, ich werde Gott selbst bitten, dir kein seliges Ende zu gewähren. Du selbst wirst unglücklich sein, deine Kinder werden unglücklich werden, und dein ganzes Geschlecht wird ohne Gottes Segen sein.“
Die arme Alte! In diesem Moment dachte sie nicht an den gewaltigen Augenblick, der ihrer harrte, nicht an ihre eigene Seele, noch an das zukünftige Leben – sie dachte nur an ihren armen Kameraden, mit dem sie ihr Leben geteilt und den sie nun verwaist und hilflos zurücklassen mußte. Mit der größten Geschäftigkeit und Eile richtete sie alles so ein, daß Afanassji Iwanowitsch nach ihrem Tode ihre Abwesenheit nicht merken sollte. Ihre Überzeugung von der Nähe ihres Todes war so stark, ihre Seele war so davon erfüllt, daß sie wirklich nach einigen Tagen bettlägerig wurde und keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen vermochte. Afanassji Iwanowitsch war die Aufmerksamkeit selbst, er wich keinen Augenblick von ihrem Bette. „Vielleicht sollten Sie doch etwas essen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte er, und sah ihr ängstlich in die Augen. Aber Pulcheria Iwanowna sprach kein Wort. Endlich, nach langem Schweigen, schien es, als wollte sie etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich, und – ihre Seele war entflohen.
Afanassji Iwanowitsch war aufs höchste betroffen. Das alles erschien ihm so unsinnig und schrecklich, daß er nicht einmal zu weinen vermochte. Trüben Auges blickte er auf die Tote, wie wenn er nicht verstünde, was dieser kalte Leichnam zu bedeuten hätte.
Man legte die Verstorbene auf den Tisch, zog ihr das Kleid an, welches sie sich selbst ausgesucht hatte, und gab ihr eine Wachskerze in die gefalteten Hände. Teilnahmslos sah er allem zu. Eine große Volksmenge aus den verschiedensten Ständen erfüllte den Hof; eine große Anzahl Gäste war zur Beerdigung gekommen; im Hofe wurden lange Tische gedeckt, Gebäck aus Reis und Rosinen (das russische Gericht, das bei keinem Totenmahl fehlen darf), Schnäpse und Kuchen standen in großen Massen umher, die Gäste weinten, betrachteten die Tote, unterhielten sich über ihren Charakter und sahen Afanassji Iwanowitsch an: er aber ging wie abwesend herum. Endlich trug man die Verstorbene hinaus, das Volk strömte hinterher, und auch er folgte mechanisch nach. Die Geistlichkeit erschien in vollem Ornat, die Sonne stand leuchtend am Himmel, die Säuglinge schrien auf den Armen ihrer Mütter, die Lerchen sangen, und eine Unzahl nur mit einem Hemde bekleideter Kinder lief durcheinander und tollte am Wege herum. Endlich stellte man den Sarg neben dem Grabe nieder, und bat ihn heranzutreten und die Verstorbene zum letztenmal zu küssen. Er trat hinzu und küßte sie, Tränen füllten seine Augen, aber es waren kalte, gefühllose Tränen. Der Sarg wurde hinabgelassen, der Priester ergriff als erster die Schaufel und warf eine Handvoll Erde hinunter: unter dem wolkenlosen Himmel stimmte der volle, langgezogene Chor des Vorsängers und zweier Kirchendiener das Lied vom ewigen Gedenken an. Die Totengräber ergriffen den Spaten, und bald füllte Erde das Grab und machte es dem Boden gleich. Da drängte Afanassji Iwanowitsch sich vor, und alle wichen zurück und machten ihm Platz, um zu sehen, was er tun würde. Er aber hob die Augen empor, blickte verstört um sich und sagte: „So also, ihr habt sie schon begraben! Warum …? …“ Er stockte und brachte den Satz nicht zu Ende. Aber als er nach Hause kam, und sah, daß sein Zimmer leer war, und daß sogar der Stuhl, auf dem Pulcheria Iwanowna zu sitzen pflegte, fehlte: da weinte er, da weinte er trostlos und bitterlich – und Tränenströme stürzten aus seinen trüben Augen.
Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Welches Leid stillt nicht die Zeit? Welche Leidenschaft hält stand im ungleichen Kampfe mit der Zeit? Ich kannte einen jungen blühenden Mann in voller Jugendkraft, erfüllt von Edelmut und herrlichen Gaben, ich kannte ihn damals, als er leidenschaftlich verliebt war: seine Liebe war zärtlich, glühend, wahnsinnig, brutal und schüchtern zugleich; und in meiner Gegenwart, fast vor meinen Augen, raffte der unersättliche Tod den Gegenstand seiner Liebe, – ein zartes, engelgleiches Mädchen dahin. Ich habe nie solch’ furchtbare Ausbrüche des Seelenschmerzes, eines wahnsinnigen, verzehrenden Jammers, und einer so brennenden Verzweiflung gesehen wie die, die den unglücklichen Liebenden durchrasten. Ich hätte nie gedacht, daß der Mensch selbst sich eine solche Hölle schaffen könnte, in der kein Schatten, kein Bild, – nichts vorhanden ist, was auch nur im entferntesten einer Hoffnung ähnlich sieht … Man gab sich Mühe, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Man versteckte alle Waffen, mit denen er sich vielleicht hätte ein Leid antun können. Nach zwei Wochen aber hatte er plötzlich die Herrschaft über sich selbst wiedergewonnen, er begann wieder zu lachen und zu scherzen; man gab ihm die Freiheit, und das erste, wozu er sie benutzte, war – sich einen Revolver zu kaufen. Eines Tages wurden seine Verwandten durch einen plötzlichen Schuß aufgeschreckt: sie liefen hinzu und fanden ihn mit zerschmettertem Schädel. Der schnell herbeigerufene Arzt, dessen Kunst damals in aller Munde war, fand noch einige Lebenszeichen bei ihm, auch war die Wunde nicht unbedingt tödlich; und zu aller Erstaunen wurde er wieder hergestellt. Die Aufsicht über ihn wurde noch verschärft, sogar bei Tisch legte man nie ein Messer in seine Nähe. Man versuchte alles von ihm fern zu halten, womit er sich hätte töten können. Aber nur zu bald fand er wieder eine Gelegenheit und warf sich unter die Räder eines Wagens. Arme und Beine wurden ihm zerquetscht: aber auch diesmal genas er wieder. Ein Jahr später sah ich ihn in einer großen Gesellschaft. Er saß auf einem Stuhl und sagte fröhlich: „petit ouvert“, indem er eine Karte verdeckte; und hinter ihm, auf die Stuhllehne gestützt, stand seine junge Frau und spielte mit seinen Marken.
Fünf Jahre waren seit dem Tode Pulcheria Iwanownas vergangen, als ich wieder in diese Gegend kam. Ich fuhr nach dem Gut Afanassji Iwanowitschs, um meinen alten Nachbar zu besuchen, bei dem ich so manchen frohen Tag verbracht und mir so oft an den schmackhaften Erzeugnissen der liebenswürdigen Hausfrau den Magen verdorben hatte. Als ich in den Hof einfuhr, erschien mir das Haus um zehn Jahre älter: die Bauernhütten hatten sich zur Seite geneigt und ihre Bewohner wahrscheinlich auch; Zaun und Flechtwerk im Hofe waren ganz zerstört, und ich sah selbst, wie die Köchin einen Pfahl herauszog, um den Ofen anzuheizen, obwohl sie nur zwei Schritte hätte machen brauchen, um das dort aufgeschichtete Reisig zu erreichen. Melancholisch fuhr ich bei der Treppe vor; dieselben schwarzen und braunen Hunde, die aber jetzt schon blind waren oder verkrüppelte Beine hatten, schlugen an und wedelten mit ihren zottigen Schwänzen, die voller Kletten waren. Der Alte kam mir entgegen. Ja das war er! Ich erkannte ihn sofort, aber er war doppelt so tief zusammengesunken wie früher. Er erkannte und begrüßte mich mit dem wohlbekannten Lächeln. Ich trat nach ihm ins Zimmer. Es schien, als sei hier noch alles unverändert, aber ich entdeckte überall eine schreckliche Unordnung, – überall machte sich ein empfindlicher Mangel von etwas bemerkbar – mit einem Wort, ich empfand jenes Gefühl, das uns beschleicht, wenn wir zum erstenmal die Wohnung eines Witwers betreten, den wir nie anders, als an der Seite seiner Lebensgefährtin gesehen haben, von der er sich nie trennte: Ein Gefühl, jenem gleich, das wir empfinden, wenn wir einen Menschen ohne Beine sehen, den wir nie anders als völlig gesund kannten. An allem merkte ich die Abwesenheit der sorgsamen Pulcheria Iwanowna; bei Tisch legte man ein Messer ohne Griff auf; die Speisen waren nicht mehr mit der gleichen Kunstfertigkeit zubereitet. Und nach der Wirtschaft wagte ich gar nicht erst zu fragen; ich fürchtete mich sogar, einen Blick in die Wirtschaftsräume zu werfen.
Als wir uns zu Tisch setzten, band das Mädchen Afanassji Iwanowitsch die Serviette vor; und es war gut, daß sie es tat, sonst hätte er seinen Schlafrock ganz mit Sauce begossen. Ich versuchte es, ihn ein wenig zu zerstreuen und erzählte ihm allerlei Neuigkeiten. Er hörte mir mit dem gleichen Lächeln zu, aber mitunter war sein Blick völlig abwesend; kein Gedanke leuchtete aus ihm hervor, und er war ganz leer. Häufig erhob er den Löffel mit dem Brei, aber statt ihn zum Munde zu führen, führte er ihn zur Nase; statt mit seiner Gabel ein Stück Hühnchen aufzuspießen, stieß er mit ihr gegen die Karaffe, und dann nahm das Mädchen seine Hand und führte sie zum Huhn. Manchmal mußten wir einige Minuten lang warten, bis das nächste Gericht aufgetragen wurde. Afanassji Iwanowitsch bemerkte es auch und sagte: „Warum bringt man uns denn so lange nichts zu essen?“ Aber ich sah durch den Spalt, daß der Junge, welcher uns bediente, garnicht darauf achtete, sondern den Kopf auf die Bank gelehnt, dalag und schlief.
„Diese Speise,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, als man uns eine sogenannte Nonne mit saurer Sahne vorsetzte, „diese Speise,“ fuhr er fort, und ich spürte wie seine Stimme zu zittern begann und Tränen seine bleischweren Augen erfüllten, – aber er nahm alle Kraft zusammen, versuchte sich zu beherrschen – „diese Speise, welche die Ver – Ver – Verstorb …“ und plötzlich schluchzte er laut auf, die Hand sank auf den Teller, der Teller fiel zu Boden und zerbrach, und die Sauce ergoß sich über ihn. Er saß wie leblos da, steif hielt er den Löffel in der Hand, und Tränenbäche flossen, wie ein nie versiegender Quell in Strömen auf die vorgebundene Serviette.
Ich sah ihn an und dachte: „Mein Gott, fünf Jahre der alles verschlingenden Zeit – und nun ist er ein Greis, ein stumpfsinniger Greis, er, dessen Leben scheinbar nie durch eine starke Gemütsbewegung erschüttert worden war, dessen ganzes Leben darin bestand, auf einem hohen Stuhl zu sitzen, und getrocknete Fische oder Beeren zu verzehren, – oder harmlose Geschichten anzuhören: und nun dieser heiße, nie endende Gram! Was ist denn das Stärkere in uns: die Leidenschaft oder die Gewohnheit? Sind unsere heftigen Ausbrüche, ist der Sturm unserer Wünsche nur eine Folge der glühenden Jugend, und scheinen sie uns nur deshalb so schrecklich und verwirrend, weil wir jung sind?“ Wie dem auch sein mag, in jenem Augenblick schienen mir all unsere Leidenschaften so kindisch im Vergleich zu dieser allmählichen, fast unbewußten Gewöhnung. Wiederholt versuchte er den Namen der Verstorbenen auszusprechen: aber schon bei der ersten Hälfte des Wortes verzerrte sich sein sonst so ruhiges, indifferentes Gesicht, und sein kindliches Weinen drückte mir das Herz ab. Nein, das waren andere Tränen als die, die alte Leute so leicht bei der Hand haben, wenn sie uns von ihrer trüben Lage und ihrem Unglück vorjammern; das waren auch nicht jene Tränen, die sie so leicht bei einem Glas Punsch vergießen: nein das waren Tränen, die ungewünscht und ungerufen hervorströmten, gehäuft durch das schneidende Weh eines schon erkalteten Herzens.
Er lebte nicht mehr lange. Vor kurzem hörte ich, daß er gestorben sei. Und ist es nicht seltsam, daß die Art seines Todes eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Pulcheria Iwanownas hatte. Eines Tages sollte Afanassji Iwanowitsch ein wenig im Garten spazieren gehen. Als er langsam und gedankenlos in seiner gewöhnlichen Sorglosigkeit des Weges einherschritt, da ereignete sich ein merkwürdiger Zufall. Er vernahm plötzlich, wie jemand hinter ihm mit klarer Stimme seinen Namen rief: „Afanassji Iwanowitsch!“ Er drehte sich um, aber es war niemand da. Er spähte nach allen Seiten, blickte hinter die Büsche, – aber er konnte niemand entdecken. Der Tag war still, und die Sonne strahlte am Himmel. Einen Augenblick versank er in Nachdenken, dann belebten sich seine Züge, und endlich sagte er. „Das ist Pulcheria Iwanowna – sie ruft mich!“
Sicherlich hat schon so mancher Leser einmal eine Stimme gehört, die ihn beim Namen ruft; der Volksmund erklärt das so, daß eine Seele sich vor Sehnsucht nach einem Menschen verzehrt und ihn ruft: die Folge aber sei unbedingt der Tod. Ich muß gestehn, mir war solch ein geheimnisvolles Rufen immer unheimlich. Ich erinnere mich, es in meiner Kindheit recht oft gehört zu haben: manchmal sprach plötzlich hinter mir jemand meinen Namen aus. Gewöhnlich war es ein besonders klarer und sonniger Tag, im Garten regte sich kein Blatt an den Bäumen; überall herrschte eine beklemmende Stille, selbst die Grille verstummte um diese Tageszeit, und keine Menschenseele war im Garten. Und doch muß ich sagen: hätte mich die fürchterlichste, stürmischste Nacht mit der ganzen Hölle der entfesselten Natur im einsamen Urwalde überfallen: ich wäre nicht so erschrocken gewesen, wie bei dieser schauervollen Stille mitten an diesem wolkenlosen Tag! Gewöhnlich lief ich dann, halb wahnsinnig vor Schreck, atemlos aus dem Garten und beruhigte mich erst, wenn irgend ein Mensch mir entgegenkam, dessen Anblick die furchtbare Öde aus meinem Herzen verjagte. – Er gab sich ganz der Überzeugung hin, daß Pulcheria Iwanowna ihn gerufen habe. Er unterwarf sich wie ein Kind, magerte ab, hüstelte und schmolz dahin, wie eine Kerze und verlöschte endlich wie diese, wenn nichts mehr vorhanden ist, was ihre Flamme speist.
„Legt mich neben Pulcheria Iwanowna“ – das war alles, was er vor seinem Tode zu sagen vermochte.
Man erfüllte seinen Willen und beerdigte ihn neben der Kirche, ganz in der Nähe von Pulcheria Iwanownas Grab. Diesmal waren weniger Gäste zur Beerdigung erschienen, dafür aber zahlreiche arme Leute und Bettler. Das Herrenhaus wurde jetzt ganz leer. Der unternehmende Verwalter und der Dorfälteste trugen all die altertümlichen Gegenstände und alles Hausgerät, was die Wirtschafterin übrig gelassen hatte, mit sich fort.
Bald erschien, Gott weiß woher, irgend ein entfernter Verwandter, der Erbe des Gutes; er war ein großer Reformer, und hatte, ich weiß nicht mehr, in welchem Regiment als Leutnant gedient. Er bemerkte sofort die große Unordnung und Verwahrlosung in der Wirtschaft und beschloß dies alles mit Stumpf und Stil auszurotten, zu reformieren und eine neue Ordnung einzuführen. Er schaffte sich sechs prachtvolle englische Sicheln an, ließ an jeder Hütte eine Nummer befestigen und richtete alles so vortrefflich ein, daß das Landgut nach sechs Monaten unter Kuratel gestellt wurde. Die wohlweise Vormundschaft (welche aus einem ehemaligen Assessor und irgend einem Stabsoffizier in einer verblichenen Uniform bestand), vertilgte in kürzester Zeit alle Hühner und Eier. Die Hütten, welche schon fast auf der Erde lagen, stürzten jetzt völlig ein, die Bauern ergaben sich dem Trunk und machten sich zum größten Teil aus dem Staube. Der Besitzer, der im übrigen mit seinen Vormündern auf freundschaftlichem Fuße lebte und mit ihnen Punsch trank, kam nur höchst selten auf sein Gut und verweilte nie lange dort. Er fährt bis heute auf allen Jahrmärkten Kleinrußlands umher und erkundigte sich genau nach den Preisen für die Erzeugnisse: als da sind: Mehl, Hanf, Honig usw., die en gros verkauft werden, aber er selbst kauft nur Kleinigkeiten: wie Feuersteine, einen Nagel zum Reinigen der Pfeife und überhaupt alles, was im Gesamtpreis den Wert eines Rubels nicht übersteigt.
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