Nerra spazierte alleine durch den Wald, schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch und genoss die wärmende Sonne auf ihrem Gesicht. Sie stellte sich vor, dass inzwischen jeder im Schloss bemerkt hatte, dass sie sich hinausgeschlichen hatte, aber sie vermutete auch, dass es sie nicht so sehr kümmern würde. Sie würde die Hochzeitsvorbereitungen mit ihrer Anwesenheit nur erschweren.
Hier, in die freie Natur, passte sie besser hinein. Sie flocht Blumen in ihr dunkles Haar, passend zu ihren Zöpfen. Sie zog ihre Stiefel aus und band sie über ihrer Schulter zusammen, damit sie die Erde unter ihren Füßen fühlen konnte. Ihre schlanke Gestalt bewegte sich zwischen den Bäumen, leichtfüßig, in einem Kleid in herbstlichen Farben. Die Ärmel waren selbstverständlich lang. Ihre Mutter hatte das Bedürfnis, ihre Arme zu verhüllen, schon vor langer Zeit fest in ihr verankert. Ihre Familie wusste vielleicht von ihrer Krankheit aber sonst sollte es niemand tun.
Sie liebte die Natur. Sie liebte es, die Pflanzen zu betrachten und sich ihre Namen in Erinnerung zu rufen, Glockenblume und Bärenklau, Eiche und Ulme, Lavendel und Pilz. Sie wusste auch mehr darüber als nur ihre Namen, denn jede hatte ihre eigenen Eigenschaften, Dinge, bei denen sie helfen oder Schaden, den sie verursachen konnte. Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte ihr ganzes Leben hier draußen frei und in Frieden verbringen. Vielleicht konnte sie es; vielleicht könnte sie ihren Vater überreden, ein Haus im Wald bauen zu lassen, und ihr Wissen darüber sinnvoll einsetzen, um Kranke und Verletzte zu heilen.
Nerra lächelte traurig dabei, denn obwohl sie wusste, dass es ein guter Traum war, würde ihr Vater niemals mitmachen, und selbst wenn …… Nerra hielt den Gedanken für einen Moment zurück, konnte es aber nicht für immer. In jedem Fall würde sie wahrscheinlich nicht lange genug leben, um sich ein Leben aufzubauen. Die Krankheit tötete – oder veränderte – den Leidenden dafür zu schnell.
Nerra pflückte an einem Strang der schmerzlindernden Weidenrinde und steckte Streifen davon in ihre Gürteltasche.
Ich werde es wahrscheinlich bald genug brauchen, vermutete sie. Heute hatte sie keine Schmerzen, aber wenn nicht sie, dann vielleicht der Junge von Witwe Merril in der Stadt. Sie hatte gehört, dass er Fieber hatte und Nerra wusste viel mehr über den Umgang mit Kranken als die meisten.
Ich will nur einen Tag erleben, ohne darüber nachdenken zu müssen, dachte Nerra bei sich.
Fast, als würde der Gedanke daran es herbeiführen, fühlte Nerra sich plötzlich schwindelig und griff Halt suchend nach einem der Bäume. Sie klammerte sich daran fest und wartete darauf, dass der Schwindel vorüberging. Sie spürte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel. Sie konnte auch das Pulsieren in ihrem rechten Arm spüren, es juckte und pochte, als wollte sich etwas unter der Haut lösen.
Nerra setzte sich, und hier, in der Einsamkeit des Waldes, tat sie, was sie im Schloss nie tun würde: Sie krempelte den Ärmel hoch und hoffte, dass die Kühle der Waldluft etwas Gutes tun würde, wo sonst nichts geholfen hatte.
Die Spuren auf ihrem Arm waren inzwischen vertraut, schwarz und venenartig, und hoben sich von der fast durchscheinenden Blässe ihrer Haut ab. Waren die Spuren gewachsen, seit sie sie das letzte Mal angeschaut hatte? Es war schwer zu sagen, weil Nerra es in der Regel vermied, sie anzusehen, und es nicht wagte, sie jemand anderem zu zeigen. Selbst ihre Brüder und Schwestern kannten nicht die volle Wahrheit, sie wussten nur über die Ohnmachtsanfälle Bescheid, nicht über den Rest. Davon wussten nur sie, ihre Eltern und Meister Grey, sowie der einzige Arzt, den ihr Vater ins Vertrauen gezogen hatte.
Nerra wusste, warum. Jene, die die Spuren der Schuppen trugen, wurden verbannt oder Schlimmeres, aus Angst davor, dass sich der Zustand verbreitete und aus Angst vor dem, was es mit sich bringen könnte. Diejenigen mit der Schuppenkrankheit, so sagten die Geschichten, verwandelten sich schließlich in Dinge, die alles andere als menschlich waren und tödlich für jene, die zurückblieben.
„Und so muss ich allein bleiben“, sagte sie laut und zog ihren Ärmel wieder herunter, weil sie den Anblick dessen, was sie dort sah, nicht länger ertragen konnte.
Der Gedanke, alleine zu sein, störte sie fast genauso. So sehr sie den Wald mochte, der Mangel an Menschen tat weh. Schon als Kind hatte sie keine engen Freunde haben können, hatte nicht die vielen Dienstmädchen und jungen adligen Damen um sich herum gehabt, wie Lenore, weil eine von ihnen vielleicht etwas gesehen hätte. Die Aussicht auf Liebhaber und Verehrer für ein Mädchen, das offensichtlich krank war, waren noch weniger wahrscheinlich. Ein Teil von Nerra wünschte sich, sie hätte das alles gehabt und stellte sich ein Leben vor, in dem sie normal, gesund und sicher gewesen wäre. Ihre Eltern hätten einen jungen Adligen finden können, der sie heiratete, so wie sie es für Lenore getan hatten. Sie hätten ein Zuhause und eine Familie haben können. Nerra hätte Freunde haben und Menschen helfen können. Stattdessen …… gab es nur dies.
Jetzt habe ich sogar den Wald traurig gemacht, dachte Nerra mit einem schwachen Lächeln.
Sie stand auf und ging weiter, entschlossen, wenigstens die Schönheit dieses Tages zu genießen. Morgen würde eine Jagd stattfinden, aber das waren zu viele Leute, um wirklich die Natur genießen zu können. Von ihr würde erwartet, sich daran zu erinnern, wie man mit jenen plauderte, die es als Tapferkeit betrachteten, die Tiere des Waldes zu töten, und das Geräusch der Jagdhörner würde ohrenbetäubend sein.
In diesem Moment hörte Nerra etwas anderes. Es war kein Jagdhorn, aber es klang immer noch, als wäre jemand in der Nähe. Sie meinte, sie hätte einen Blick auf jemanden in den Bäumen erhascht, vielleicht einen kleinen Jungen, obwohl es schwer zu sagen war. Dann begann sie, sich zu sorgen. Wie viel hatte er gesehen?
Vielleicht war es ja nichts. Nerra wusste, dass es an anderen Stellen im Wald Menschen geben musste. Vielleicht waren es Holzkohlebrenner oder Förster; vielleicht waren sie Wilderer. Wer auch immer sie waren, Nerra würde ihnen wahrscheinlich begegnen, wenn sie weiterlief. Dieser Gedanke behagte ihr nicht, das Risiko, dass sie mehr sahen, als sie sollten, gefiel ihr nicht. Also schlug sie sich in eine neue Richtung, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Sie kannte den Wald gut, sodass sie sich keine Sorgen machte, sich zu verlaufen. Sie ging einfach weiter – und nun entdeckte sie Stechpalme und Birke, Schöllkraut und wilde Rosen.
Und etwas anderes.
Nerra hielt inne, als sie eine Lichtung erblickte, die aussah, als wäre etwas Großes hier entlang gezogen, Äste waren abgebrochen, der Boden zertrampelt. War es ein Eber gewesen oder gar ein ganzes Rudel? Gab es irgendwo einen Bären, der groß genug war, sodass eine Jagd Sinn machte? Nerra konnte jedoch keine Bärenspuren zwischen den Bäumen sehen oder überhaupt irgendetwas, was darauf hindeutete, dass etwas zu Fuß durchgekommen war.
Mitten in der Lichtung konnte sie ein Ei sehen, das seitlich im Gras lag.
Sie erstarrte und musterte es erstaunt.
Das kann nicht sein.
Selbstverständlich gab es Geschichten und die Galerien des Schlosses hatten einige versteinerte Exemplare, denen kein Leben mehr innewohnte.
Aber das … es konnte nicht wirklich sein …
Sie ging näher heran, und jetzt begann sie, die schiere Größe des Eis in sich aufzunehmen. Es war riesig, so groß, dass Nerras Arme kaum ausreichen würden, hätte sie versucht, es zu umarmen. Groß genug, dass kein Vogel es hätte legen können.
Es war ein sattes, tiefes Blau, fast schwarz,und mit goldenen Adern, die wie Blitze über einen Nachthimmel liefen. Als Nerra ganz vorsichtig versuchte, es zu berühren, fühlte sie, dass die Oberfläche seltsam warm war, so wie es kein Ei hätte sein sollen. Das bestätigte, genau wie alles andere, was sie sah, was sie gefunden hatte.
Ein Drachenei.
Das war unmöglich Wie lange war es her, dass jemand einen Drachen gesehen hatte? Und selbst in den Geschichten, die man hörte, erzählte es von großen geflügelten Tieren, die über den Himmel flogen, nicht von Eiern. Drachen waren niemals hilflose, kleine Dinge. Sie waren riesig und schrecklich und unmöglich. Aber Nerra konnte sich nicht vorstellen, was das sonst sein könnte.
Und jetzt liegt die Wahl bei mir.
Sie wusste, dass sie jetzt nicht einfach weggehen konnte, da sie das Ei hier gesehen hatte, verlassen, ohne Anzeichen eines Nestes, wie ein Vogel sein Gelege legen würde. Wenn sie das tat, bestand die Chance, dass irgendetwas einfach kommen und das Ei essen und die Kreatur darin zerstören würde. Das, oder es würde Leute geben, und sie hatte keinen Zweifel daran, die es verkaufen würden. Oder aus Angst zermalmen. Die Leute konnten manchmal grausam sein.
Sie konnte es auch nicht mit nach Hause nehmen. Man stelle sich vor, sie ginge mit einem Drachenei in der Hand durch die Tore des Schlosses. Ihr Vater würde es ihr sofort abnehmen lassen, wahrscheinlich, damit Meister Grey es studieren konnte. Bestenfalls würde man die Kreatur in einen Käfig sperren und an ihr herumexperimentieren. Im schlimmsten Fall … Nerra schauderte bei dem Gedanken, dass das Ei von Gelehrten des Hauses des Wissens zerlegt wurde. Sogar Medicus Jarran würde es wahrscheinlich auseinandernehmen wollen, um es zu studieren.
Wo dann?
Nerra versuchte nachzudenken.
Sie kannte den Wald so gut wie den Weg zu ihren Gemächern. Es musste einen Ort geben, der besser wäre, als das Ei einfach im Freien zu lassen …
Ja, sie kannte genau den Ort.
Sie schlang die Arme um das Ei, die Hitze drückte sich seltsam gegen ihren Körper, als sie es anhob. Es war schwer und für einen Moment befürchtete Nerra, sie könnte es fallen lassen, aber sie schaffte es, ihre Hände zusammenzuklammern und begann, durch den Wald zu laufen.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Stelle gefunden hatte, sie hielt nach den Espen Ausschau, die den kleinen Ort markierten, an dem sich die alte Höhle befand, umgeben von den vor langer Zeit schon von Moos überwucherten Steinen. Inmitten des Waldes war die Höhlenöffnung, an der Seite eines kleinen Hügels. Nerra konnte vom Boden aus erkennen, dass nichts beschlossen hatte, die Höhle als Lager zu nutzen. Das war gut; Sie wollte ihr kostbares Mitbringsel nicht an einen Ort bringen, wo es in ganz neuer Gefahr wäre.
Die Lichtung ließ die Vermutung zu, dass Drachen keine Nester bauten, aber Nerra baute dennoch eines für das Ei, sammelte Zweige und Äste, Unterholz und Gras und verwob dann alles langsam zu einem einfachen Oval, auf dem sie das Ei zur Ruhe legen konnte. Sie schob das ganze Gebilde zurück in die dunkle Hälfte der Höhle und vertraute darauf, dass es von außen nicht entdeckt werden konnte.
„Da“, sagte sie zu ihm. „Du bist jetzt in Sicherheit, zumindest bis ich herausgefunden habe, was ich mit Dir machen soll.“
Sie suchte Äste und Blätter zusammen, die den Eingang bedecken sollten. Sie nahm Steine und rollte sie vor den Eingang, jeder von ihnen war so groß, dass sie ihn kaum bewegen konnte. Sie hoffte, es würde ausreichen, um all die Dinge fernzuhalten, die versuchen könnten, hineinzukommen.
Sie war gerade fertig, als sie ein Geräusch hörte, erschrocken drehte sie sich um. Dort zwischen den Bäumen war der Junge, den sie zuvor gesehen hatte. Er stand da und starrte sie an, als versuche er, zu verstehen, was er gesehen hatte.
„Warte“, rief Nerra ihm zu, aber der Schrei genügte, um ihn zu verschrecken. Er drehte sich um und rannte weg. Nerra fragte sich, was genau er gesehen hatte und wem er es erzählen würde.
Sie hatte das bange Gefühl, dass es zu spät war.
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