Kyra stand mitten auf der Brücke, die voller Menschen war, und spürte alle Blicke, die auf sie gerichtet waren und auf ihre Entscheidung über das Schicksal des Ebers warteten. Ihre Wangen brannten; sie war nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie liebte ihren Vater dafür, dass er ihr Anerkennung gab, und sie war ausgesprochen stolz, besonders dafür, dass er ihr die Entscheidung überließ.
Doch gleichzeitig spürte sie auch die Last der Verantwortung. Sie wusste, welche Entscheidung auch immer sie treffen sollte, das Schicksal ihrer Leute bestimmen würde. So sehr sie die Pandesier auch verabscheute, sie wollte nicht die Verantwortung dafür tragen, ihr Volk in einen Krieg zu stürzen, den es nicht gewinnen konnte. Doch sie wollte auch nicht klein beigeben, um die Männer des Lords zu ermutigen, ihr Volk zu triezen. Sie wollte nicht, dass sie schwach erschienen, besonders nachdem Anvin und die anderen so mutig Widerstand geleistet hatten.
Sie erkannte, dass ihr Vater weise war: indem er die Entscheidung in ihre Hände legte, erweckte er den Eindruck, dass es ihre Entscheidung war und nicht die der Männer des Lords – und das alleine wahrte das Gesicht seiner Leute.
Sie erkannte auch, dass er einen guten Grund gehabt hatte, die Entscheidung in ihre Hände zu legen: er musste gewusst haben, dass die Situation eine Stimme von außen nötig gehabt hatte, um zu gewährleisten, dass niemand das Gesicht verlor. Er hatte sie gewählt, weil sie die einfache Wahl war, und weil er wusste, dass sie keine überstürzten Entscheidungen treffen würde – sie war eine Stimme der Mäßigung. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr erkannte sie, warum er sie gewählt hatte: nicht um einen Krieg anzuzetteln – dafür hätte er Anvin wählen können – sondern um seinen Leuten einen Krieg zu ersparen.
Sie fällte eine Entscheidung.
„Das Biest ist verflucht“, sagte sie abfällig. „Es hätte beinahe meine Brüder getötet. Es kam aus dem Dornenwald und ist am Vorabend des Wintermondes getötet worden, an einem Tag, an dem wir nicht jagen dürfen. Es war ein Fehler, ihn hierher zu bringen – er hätte in der Wildnis verrotten sollen, dort, wo er hingehört.“
Sie sah die Männer des Lords mit höhnischem Blick an.
„Bringt das Tier zu eurem Lord Regenten“, sagte sie lächelnd. „Ihr tut uns einen Gefallen.“
Die Männer des Lords sahen zwischen ihr und dem Tier hin und her, und ihre Mienen veränderten sich; plötzlich sahen sie aus, als hätten sie etwas Schlechtes gegessen, als wollten sie es nicht mehr.
Kyra sah, wie Anvin und die anderen sie zustimmend und dankbar ansehen – am meisten von allen ihr Vater. Sie hatte es geschafft – sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Volk das Gesicht wahren konnte, und hatte ihnen einen Krieg erspart; noch dazu hatte sie einen ordentlichen Seitenhieb gegen Pandesia ausgeteilt.
Ihre Brüder ließen das Wildschwein fallen und es landete mit einem dumpfen Schlag im Schnee. Mit offensichtlich schmerzenden Schultern traten demütig sie einen Schritt zurück.
Die Blicke fielen nun auf die Männer des Lords, die unentschlossen dastanden und nicht wussten, was sie tun sollten. Kyras Worte hatten sie tief getroffen; nun sahen sie das Tier an, als wäre es etwas Böses, das aus den Eingeweiden der Erde gekrochen war. Jetzt, wo es ihnen gehörte, wollten sie es offensichtlich nicht mehr haben.
Nach einer langen, angespannten Stille bedeutete ihr Anführer seinen Männern, das Tier aufzuheben, dann drehte e sich mit bitterer Miene um und zog verärgert ab – er wusste, das er überlistet worden war.
Die Menge verstreute sich, die Anspannung löste sich auf und die Erleichterung war deutlich spürbar. Viele der Männer ihres Vaters legten ihr zustimmend die Hände auf die Schultern.
„Gut gemacht“, sagte Anvin beifällig. „Eines Tages wirst du eine gute Herrscherin sein.“
Die Dorfbewohner gingen wieder ihren Arbeiten nach, das bunte Treiben kehrte zurück, und Kyra sah ihren Vater an. Er erwiderte ihren Blick, nur wenige Meter von ihr Entfernt. Vor seinen Männern war er immer reserviert, was sie anging, und auch diesmal war es nicht anders. Seine Miene war unbewegt, doch er nicke kaum merklich – das war seine Art der Zustimmung.
Kyra sah sich um und sah Anvin und Vidar, die ihre Speere fest umklammert hielten, und ihr Herz schlug schneller.
„Kann ich mit euch kommen?“, fragte sie Anvin, denn sie wusste, dass er mit den anderen auf dem Weg zum Trainingsgelände war.
Anvin warf ihrem Vater einen nervösen Blick zu, denn er wusste, dass er es missbilligen würde.
„Der Schnee wird immer dichter“, antwortete Anvin schließlich zögernd, „und es wird schon dunkel.“
„Das hält dich nicht davon ab…“, gab Kyra zurück.
Er grinste sie an.
„Nein, das tut es nicht“, gab er zu.
Anvin warf ihrem Vater einen Blick zu und sie drehte sich um und sah, wie er mit dem Kopf schüttelte, bevor er sich seinerseits umdrehte und zurück nach drinnen ging.
Anvin seufzte.
„Sie bereiten ein großes Festmahl vor“, sagte er. „Du solltest nach drinnen gehen.“
Kyra konnte es riechen, die Luft war schwanger vom Duft des Fleischs, das über dem Feuer röstete, und sie sah ihre Brüder und ein paar Dutzend Dorfbewohner hineingehen, um sich auf die Festlichkeiten vorzubereiten.
Doch Kyra wandte sich um und blickte sehnsüchtig in Richtung der Felder zum Trainingsgelände.
„Ein Mahl kann warten“, sagte sie. „Training nicht. Lass mich mitkommen. Bitte.“
Vidar lächelte und schüttelte den Kopf.
„Du bist sicher, dass du ein Mädchen und kein Krieger bist?“, fragte er.
„Kann ich nicht beides sein?“, antwortete sie.
Anvin seufzte, und schüttelte den Kopf.
„Dein Vater würde mir das Fell über die Ohren ziehen“, sagte er.
Dann, endlich, nickte er.
„Ein nein wirst du ohnehin nicht akzeptieren“, sagte er. „Und du hast mehr Mut als ein guter Teil meiner Männer. Ich schätze, einer mehr schadet nicht.“
*
Kyra rannte über die verschneite Landschaft Anvin, Vidar und einigen anderen Männern ihres Vaters hinterher, Leo wie immer an ihrer Seite. Der Schneefall wurde dichter und es war ihr egal. Sie spürte ein Gefühl der Freiheit, der Ausgelassenheit, wie immer, wenn sie durch das Tor ging, ein niedriger Bogen, der ins Innere der steinernen Mauern führte, die das Trainingsgelände umgaben.
Sie atmete tief durch, als der Himmel aufriss und sie über die sanften Hügel lief, die nun von Schnee bedeckt waren, umgeben von einer weitläufigen Steinmauer – vielleicht eine Vierteilmeile lang und breit. Sie spürte, dass alles so war, wie es sein sollte, als sie die Männer trainieren sah, wie sie auf ihren Pferden umherritten mit ihren Lanzen, mit Bögen auf ferne Ziele schossen und immer besser wurden. Für sie war das das wahre Leben.
Dieses Trainingsgelände war den Männern ihres Vaters vorbehalten; Frauen und Jungen, die noch keine 18 waren, waren hier nicht willkommen – genauso wie alle, die nicht eingeladen waren. Braxton und Brandon warteten jeden Tag ungeduldig auf ihre Einladung, doch Kyra vermutete, dass sie nie eine bekommen würden. Fighter’s Gate, so hieß die Trainingsanlage, war etwas für ehrenhafte schlachterprobte Krieger, nicht für Aufschneider wie ihre Brüder.
Kyra rannte durch die Felder, und fühlte sich glücklicher und lebendiger als an jedem anderen Ort. Die Energie war intensiv, da Dutzende der besten Krieger ihres Vaters umherritten; jeder von ihnen trug ein leicht andere Rüstungen, Krieger aus allen Regionen Escalons, die alle mit der Zeit zum Fort ihres Vaters gekommen waren. Da waren Männer aus dem Süden, aus Thebus und Leptis; aus den Midlands, meist aus der Hauptstadt, Andros, doch manche auch aus den Bergen von Kos; Leute aus dem Westen aus Ur; Flussmänner aus Thusis und ihre Nachbarn aus Ephesus. Da waren Männer, die am Ufer des Ire-Sees gelebt hatten und Männer, die sogar von den Wasserfällen bei Everfall angereist waren. Alle trugen unterschiedliche Farben, Rüstungen, Waffen. Alle waren sie Männer aus Escalon, doch jeder von ihnen vertrat seine eigene Festung – es war eine unglaubliche Vielfalt an Macht.
Ihr Vater, der Recke des ehemaligen Königs, ein Mann, der großen Respekt verlangte, war der einzige Mann in diesen Zeiten, in diesem zerbrochenen Königreich, um den sich die Männer sammeln konnten. Als der alte König das Königreich kampflos aufgegeben hatte, war es ihr Vater gewesen, den die Menschen gedrängt hatten, den Thron zu besteigen und den Kampf zu führen. Mit der Zeit waren die besten Krieger des Reiches zu ihm gekommen, und nun, wo seine Macht von Tag zu Tag wuchs, erreichte Volis eine Stärke, die es beinahe mit der Hauptstadt aufnehmen konnte. Vielleicht war das der Grund, warum die Männer des Lords sie nur zu gerne demütigten.
Nirgendwo sonst in Escalon ließen die Lord Regenten von Pandesia es nicht zu, dass die Ritter sich versammelten, aus Angst vor einem Aufstand. Doch hier, in Volis, war es anders. Hier hatten sie keine andere Wahl: sie brauchten die besten Männer, um die Flammen zu schützen.
Kyra drehte sich um und ließ den Blick schweifen, über die Mauern und die weißen Hügel hinweg. In der Ferne, selbst durch den dichten Schnee, konnte sie das sanfte Leuchten der Flammen sehen. Die Wand aus Feuer, die die östliche Grenze von Escalon beschützte, die Flammen, war gut 15 Meter breit und gut 100 Meter hoch, und brannte so hell wie immer. Über eine Strecke von fast 50 Meilen erstreckte sie sich und war das einzige, was zwischen Escalon und dem Volk der wilden Trolle im Osten stand.
Und trotzdem gelang es jedes Jahr genug Trollen, sie zu überwinden, und Chaos und Zerstörung zu verbreiten, und wenn die Hüter nicht wären, die tapferen Männer ihres Vaters, die die Flammen warteten, wäre Escalon schon lange von den Trollen unterworfen worden. Die Trolle, die sich vor dem Wasser fürchteten, konnten Escalon nur zu Land angreifen, und die Flammen waren das einzige, was sie zurückhielt. Die Hüter standen Wache und Patrouillierten – kurz, Pandesia brauchte sie. Auch andere waren an den Flammen stationiert - Wehrpflichtige, Sklaven und Verbrecher – doch die Männer ihres Vaters, die Hüter, waren die einzigen wirklichen Krieger hier und die einzigen die wussten, wie man die Flammen wartete.
Im Gegenzug erlaubte Pandesia Volis und den Männern dort viele kleine Freiheiten, wie dieses Trainingsgelände hier und echte Waffen – ein kleiner Geschmack der Freiheit, der ihnen immer noch das Gefühl gab, echte Krieger zu sein, selbst wenn es nur eine Illusion war. Sie waren nicht frei, und alles wussten es. Sie lebten in einer heiklen Balance zwischen Freiheit und Dienst, die keiner von ihnen ertragen konnte.
Doch zumindest hier, in Fighter’s Gate, waren diese Männer frei wie sie es einst gewesen waren, Krieger, die sich messen und trainieren und ihre Fähigkeiten verbessern konnten. Sie repräsentierten die Besten der Besten von Escalon, besser Krieger als Pandesia sie zu bieten hatte, und alle waren Veteranen, was die Flammen anging. Sie leisteten Schichten dort, etwa einen Tagesritt von hier entfernt. Kyra wollte so gerne eine von ihnen werden, sich beweisen, an den Flammen stationiert werden, um gegen echte Trolle zu kämpfen, wenn sie es hindurch schafften, und helfen das Königreich vor einer Invasion zu schützen.
Natürlich wusste sie, dass man ihr das niemals erlauben würde. Sie war zu jung – und sie war ein Mädchen. Es gab keine Frauen unter den Hütern, und selbst wenn es sie gäbe, würde es ihr Vater nie erlauben. Seine Männer hatte es amüsiert, als sie vor Jahren anfing, sie zu besuchen, sie hatten sich über die kleine Zuschauerin gefreut. Doch nachdem die Männer gegangen waren, war sie geblieben und hatte jeden Tag und jede Nacht mit ihren Waffen auf den leeren Feldern trainiert, mit ihren Waffen und ihren Zielen. Zuerst waren sie überrascht gewesen, wenn sie am nächsten Tag zurückgekommen waren und Pfeile in ihren Zielen gefunden hatten – mitten im Zentrum. Doch mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt.
Kyra hatte angefangen, sich ihren Respekt zu verdienen, besonders bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie ihr erlaubt hatten, sich ihnen anzuschließen. Doch jetzt, zwei Jahre später, wusste sie, dass sie Ziele treffen konnte, die für die meisten von ihnen zu schwierig waren – und die bloße Toleranz hatte sich zu etwas anderem gewandelt: Respekt. Natürlich hatte sie nie in einer Schlacht gekämpft wie diese Männer, hatte nie einen Mann getötet, bei den Flammen Wache gestanden, oder war einem Troll in einem Kampf begegnet. Sie konnte auch nicht mit einem Schwert, einer Kriegsaxt oder einer Hellebarde umgehen; sie konnte nicht Ringen wie diese Männer, denn sie besaß nicht annähernd ihre körperliche Stärke, was sie zutiefst bedauerte.
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