Im Gehen hängte Kyra den Bogen über ihre Schulter und blies sich dampfend in die kalten Hände. Sie ging über das weite, flache Plateau und sah sich um. Von diesem Aussichtspunkt konnte sie über das ganze Land sehen. Die sanften Hügel von Volis, sonst von sattem Grün, waren schneebedeckt. Volis war die Provinz in der die Festung ihres Vaters lag, im nordöstlichen Winkel des Königreichs Escalon gelegen. Von hier oben sah sie die Ereignisse im Fort ihres Vaters aus der Vogelperspektive, das Kommen und Gehen der Dorfbewohner und Krieger – ein weiterer Grund, warum sie so gerne hier oben war. Sie studierte gerne die alten steinernen Umrisse der Festung ihres Vaters, die Formen ihrer Zinnen und Türme, die sich eindrucksvoll über die Hügel erstreckten und sich bis zum Horizont auszubreiten schienen. Volis war die größte Anlage in der Gegend. Manche der Gebäude waren vier Stockwerke hoch und wurden von eindrucksvollen Wehrgängen eingerahmt. Die Festung wurde von einem kreisrunden Turm am anderen Ende, einer Kapelle für die Bürger, vervollständigt – doch sie kletterte gerne hinauf, um den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen und allein zu sein. Die gesamte Anlage wurde von einem Graben umgeben, der bei der Straße von einer steinernen Bogenbrücke überspannt wurde. Der Graben wiederum war von einer Reihe äußerer Befestigungsanlagen umgeben, Hügel, Senken, Mauern – ein Ort, wie er sich für den wichtigsten Krieger des Königs – ihren Vater – ziemte.
Auch wenn Volis, die letzte Festung vor den Flammen, ein paar Tagesritte von Andros, Escalons Hauptstadt entfernt war, war es immer noch die Heimat vieler berühmter Krieger des vorherigen Königs. Es war zu einem Leuchtfeuer geworden, einem Ort, innerhalb oder vor dessen Mauern hunderte von Dorfbewohnern und Bauern sicher lebten.
Kyra blickte hinab auf Dutzende von kleinen Lehmhütten, die sich an die Hügel außerhalb des Forts schmiegten. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, Farmer eilten hin und her und bereiteten sich auf den Winter vor – und auf die Festlichkeiten, die heute Nacht bevorstanden. Die Tatsache, dass sich die Dorfbewohner sicher genug fühlten, außerhalb der Mauern zu leben, war ein Zeichen großen Respekts vor der Macht ihres Vaters, das wusste Kyra – ein Anblick, den es sonst nirgendwo in Escalon gab. Doch schließlich waren sie alle nicht mehr als einen Ruf des Horns vom Schutz entfernt. Ertönte der Ruf, versammelten sich sofort alle Männer ihres Vaters.
Kyra blickte zur Zugbrücke hinunter, die immer voller Menschen war, Bauern, Schuhmacher, Schlachter, Schmiede und natürlich Krieger – die alle geschäftig zwischen der Festung und dem Dorf hin und her eilten. Denn das Innere des Forts war nicht nur ein Ort zu leben und zu trainieren, sondern die endlosen gepflasterten Höfe hatten sich auch zu einem bunten Markt für Händler aller Art entwickelt. Jeden Tag bauten sie ihre Stände auf, boten ihre Waren feil, tauschten, präsentierten den Jagd- oder Fangerfolg des Tages oder exotische Tücher oder Gewürze oder Spezereien aus fernen Ländern. Die Höfe des Forts waren immer von exotischen Düften erfüllt, von Tees, von Eintöpfen; sie konnte Stunden dort verbringen. Und auf der anderen Seite der Mauern, in der Ferne, lag Fighter’s Gate, die Trainingsanlage der Männer ihres Vaters, von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Bei ihrem Anblick schlug ihr Herz schneller und sie sah aufgeregt zu, wie die Männer auf ihren Pferden versuchten, Ziel mit ihren Lanzen zu treffen – Schilde, die von den Bäumen hingen. Sie sehnte sich danach, mit ihnen trainieren zu dürfen.
Plötzlich hörte Kyra einen Ruf aus Richtung des Torhauses kommen, und sie drehte sich sofort alarmiert um, denn sie kannte die Stimme. Die Menge war unruhig und sie sah, wie sich ihr jüngerer Bruder Aiden, angeführt von ihren beiden älteren Brüdern, Brandon und Braxton, den Weg auf die Hauptstraße bahnten, und Kyra verkrampfte sich. An der Stimme ihres kleinen Bruders konnte sie hören, dass ihre älteren Brüder nichts Gutes im Schilde führten.
Kyra kniff die Augen zusammen, als sie ihre älteren Brüder beobachtete, und eine nur zu bekannte Wut stieg in ihr auf, die sie unbewusst ihren Bogen fester packen ließ. Sie hatten Aiden, den sie fast eine Elle überragten, zwischen sich genommen und zerrten ihn an den Armen aus dem Fort hinaus aufs Land. Aiden, ein kleiner, dünner, sensibler Junge von kaum zehn Jahren, sah zwischen seinen Brüdern, ausgewachsenen Jungen von 17 und 18 Jahren, besonders verletzlich aus. Sie sahen sich alle ähnlich, hatten alle starke Kiefer, ein stolzes Kinn, dunkelbraune Augen und lockiges braunes Haar – auch wenn Brandon und Braxton ihre Haare kurz geschoren hatte, während Aidans Haar ihm immer noch ungebändigt in die Augen fiel. Sie sahen sich alle ähnlich – doch sie glich ihnen mit ihrem hellblonden Haar und den grauen Augen überhaupt nicht. Sie trug gewebte Hosen, ein wollenes Hemd und Mantel und war dünn und blass – viel zu blass, hatte man ihr gesagt, mit hoher Stirn und kleiner Nase, gesegnet mit einem hübschen Gesicht, das viele Männer zweimal hinsehen ließ. Besonders jetzt, wo sie 15 wurde, bemerkte sie die Blicke in zunehmendem Maße.
Sie fühlte sich unbehaglich dabei. Sie zog nicht gerne die Aufmerksamkeit anderer auf sich und fand sich auch nicht schön. Ihr Aussehen war ihr egal – alles was sie interessierte waren Training, Tapferkeit und Ehre. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie wie ihre Brüder ihrem Vater geähnelt hätte, einem Mann, den sie über alles liebte. Sie suchte im Spiegel immer wieder nach etwas von ihm in ihren Augen, doch so sehr sie auch suchte, sie fand es nicht.
„Ich habe gesagt, lasst mich in Ruhe!“, rief Aidan und seine Stimme hallte bis zu ihr hinauf. Als sie die Schreie ihres geliebten kleinen Bruders hörte, stand sie kerzengrade wie eine Löwin, die ihr Junges beobachtet. Auch Leo erstarrte und die Haare auf seinem Rücken stellten sich auf.
Nachdem ihre Mutter schon lange nicht mehr bei ihnen war, fühlte Kyra sich verantwortlich, über Aidan zu wachen, ihm die Mutter zu geben, die er niemals gehabt hatte.
Brandon und Braxton zerrten ihn grob die Straße entlang, weg vom Fort, auf eine einsame Landstraße, die zu einem einsamen Wald führte, und sie sah, dass sie ihn zwangen, einen Speer zu werfen, der viel zu groß für ihn war.
Aidan war ein leichtes Ziel für Braxtons und Brandons Gemeinheiten. Sie waren stark und mutig, wie Jungen in ihrem Alter eben sind, doch sie waren bessere Maulhelden als wirkliche Krieger, und sie brockten sich immer wieder Ärger ein, aus dem sie alleine nicht wieder herauskamen. Es machte sie wütend.
Kyra erkannte, was vor sich ging: Brandon und Braxton zerrten Aidan mit sich auf die Jagd. Sie sah die Weinschläuche in ihren Händen, und wusste, dass sie getrunken hatte. Sie kochte vor Wut. Nicht genug, dass sie sinnlos irgendein Tier töten würden, doch nun schleppten sie auch noch trotz seines Protests ihren kleinen Bruder mit sich.
Kyras Instinkte erwachten und sie rannte mit Leo an ihrer Seite den Hügel hinunter, um sie zu stellen.
„Du bist alt genug!“, sagte Brandon zu Aidan.
„Es ist höchste Zeit, dass du ein Mann wirst“, grunzte Braxton.
Kyra brauchte nicht lange, um sie einzuholen. Sie rannte hinaus auf die Straße und blieb schwer atmend vor ihnen stehen. Leo stand mit gesträubtem Fell neben ihr und die Brüder blieben stehen und sahen sie erschrocken an.
Sie konnte die Erleichterung in Aidans Miene sehen.
„Hast du dich verlaufen?“, höhnte Braxton.
„Du stehst im Weg“, sagte Brandon. „Geh zurück zu deinen Pfeilen und Stöcken.“
Die beiden lachten höhnisch, doch sie sah sie böse an und Leo begann zu knurren.
„Halt dein Biest von uns fern“, sagte Braxton, und versuchte mutig zu klingen, doch die Angst in seiner Stimme war offensichtlich als er seinen Speer fester in seinen Händen hielt.
„Und was denkt ihr, wo ihr Aidan hinbringt?“, fragte sie todernst und sah sie ungerührt an.
Sie hielten inne und ihre Gesichter wurden langsam härter.
„Wir bringen ihn hin, wo immer es uns passt“, knurrte Brandon.
„Er geht mit uns auf die Jagd, um zu lernen wie man ein Mann wird“, sagte Braxton und betonte das letzte Wort bewusst.
Doch sie ließ nicht locker.
„Er ist zu jung“, sagte sie mit fester Stimme.
Brandon verzog das Gesicht.
„Wer sagt das?“
„Ich sage das.“
„Bist du seine Mutter?“, fragte Braxton.
Lyra wurde rot vor Wut, und wünschte sich mehr denn je, dass ihre Mutter jetzt hier wäre.
„So sehr wie du sein Vater bist“, antwortete sie.
Sie standen in angespannter Stille da und Kyra sah Aidan an, der ihren Blick aus ängstlichen Augen erwiderte.
„Aidan“, fragte sie, „möchtest du mit ihnen auf die Jagd gehen?“
Aidan senkte beschämt den Blick. Er stand schweigend da und wich ihrem Blick aus. Kyra hatte Bedenken, ein Machtwort zu sprechen, da sie ihre Brüder nicht provozieren wollte.
„Na bitte, da hast du’s“, sagte Brandon. „Er hat nichts dagegen.“
Kyra stand brennend vor Frustration da, und wollte, das Aidan etwas sagte, doch konnte ihn nicht dazu zwingen.
„Es ist dumm, ihn auf die Jagd mitzunehmen“, sagte sie. „Ein Sturm braut sich zusammen, und es wird bald dunkel. Der Wald ist voller Gefahren. Wenn ihr ihm beibringen wollt, wie man jagt, nehmt ihn an einem anderen Tag mit, wenn er älter ist.
Sie sahen sie verärgert an.
„Was weißt du schon von der Jagd?“, fragte Braxton. „Was hast du schon gejagt außer deinen Bäumen?“
„Hat dich etwa einer davon gebissen?“, fügte Brandon hinzu.
Beide lachten. Kyra kochte und überlegte, was sie tun sollte. Ohne, dass Aidan etwas sagte, konnte sie nicht viel tun.
„Du machst dir zu viele Sorgen“, sagte Brandon schließlich. „Mit uns wird Aidan schon nichts passieren. Wir wollen nur, dass er zum Mann wird – wir bringen ihn schon nicht um. Glaubst du etwa, dass du die einzige bist, die sich um ihn sorgt?“
„Davon abgesehen – Vater beobachtet uns“, sagte Braxton. „Willst du ihn etwa enttäuschen?“
Kyra warf einen Blick über ihre Schultern, und hoch oben, im Turm, konnte sie ihren Vater sehen, der an einem der großen Fenster stand und sie beobachtete. Sie war zutiefst von ihm enttäuscht, dass er sie nicht aufhielt.
Sie versuchten, sich an Kyra vorbeizudrängen, doch Kyra blockierte den Weg. Sie sahen aus, als wollten sie sie beiseite schubsen, doch Leo trat knurrend zwischen sie und sie überlegten es sich anders.
„Aidan, es ist noch nicht zu spät“, sagte sie zu ihm. „Du musst das nicht tun. Möchtest du mit mir zum Fort zurückgehen?“
Sie sah ihn an und konnte die Tränen in seinen Augen sehen, doch sie spürte, dass er hin und hergerissen war. Langes Schweigen folgte, durch nichts unterbrochen außer dem Heulen des Windes und dem dichter werdenden Schnee.
Schließlich regte er sich.
„Ich will jagen gehen“, murmelte er halbherzig.
Sofort stürmten ihre Brüder an ihr vorbei, rempelten sie an der Schulter an und zerrten Aidan mit sich die Straße hinunter.
Kyra drehte sich um und sah ihnen zu, ein Ungutes Gefühl im Bauch.
Sie wandte sich zum Fort um und blickte zum Turm auf, doch ihr Vater war schon verschwunden.
Kyra sah zu, wie ihre drei Brüder aus im Schnee verschwanden. Im immer stärker werdenden Sturm gingen sie auf den Dornenwald zu, und sie konnte das Ungute Gefühl im Bauch nicht loswerden. Sie überlegte, ob sie sie einholen und Aidan zurückbringen sollte – doch sie wollte ihn nicht beschämen.
Sie wusste, dass sie es vergessen sollte – doch es gelang ihr nicht. Irgendetwas in ihr ließ es nicht zu. Sie spürte die Gefahr an diesem Vorabend des Wintermondes. Sie traute ihren älteren Brüdern nicht; sie wusste zwar, dass sie Aidan nichts antun würden, doch sie waren leichtsinnig und zu grob. Was noch viel schlimmer war: sie hatten viel zu großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten – und das war keine gute Kombination.
Kyra konnte es nicht länger ertragen. Wenn ihr Vater nichts tun würde, würde sie handeln. Sie war jetzt alt genug und musste niemandem mehr Rede und Antwort stehen außer sich selbst.
Sie rannte gefolgt von Leo los, die einsame Landstraße entlang, direkt auf den Dornenwald zu.
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