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5. Das Klassenzimmer

Als wir nach oben kamen, zog Karl Iwanowitsch seinen Schlafrock an, band den Gürtel um und setzte sich sehr nachdenklich auf seinen Platz. Wir gingen mit unserem Lesebuch zu ihm, er sah uns streng an und strich mit seinem starken Fingernagel die Stelle an, bis zu welcher wir auswendig lernen und ihm aufsagen sollten. Wolodja trieb nicht wie gewöhnlich Possen, sondern lernte ordentlich; ich dagegen war so zerstreut, daß ich entschieden nichts tun konnte. Ich starrte lange gedankenlos in das Buch, konnte aber vor Tränen nicht lesen. Und als ich Karl Iwanowitsch das Gelernte aufsagen sollte, konnte ich gerade an der Stelle, wo einer sagt: »Wo kommen Sie her?« und der andere antwortet: »Ich komme aus dem Kaffeehause« die Tränen nicht länger zurückhalten und vor Schluchzen die Worte: »Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?« nicht herausbringen, obgleich ich die ganze Seite sehr gut auswendig konnte. Als es ans Schönschreiben ging, machte ich infolge der Tränen, die auf das Heft fielen, solche Kleckse, als hätte ich mit Wasser auf Löschpapier geschrieben.

Karl Iwanowitsch wurde böse, ließ mich niederknien, sagte, das sei Eigensinn, eine Puppenkomödie (sein Lieblingsausdruck), drohte mit dem Lineal und verlangte, ich sollte um Verzeihung bitten, während ich vor Tränen kein Wort herausbringen konnte. Endlich sah er sein Unrecht wahrscheinlich ein, ging in Nikolas' Zimmer und schlug die Tür zu.

Als er fort war, setzte ich mich nieder und beruhigte mich etwas. Vom Klassenzimmer aus konnte man die Unterhaltung im Wärterzimmer hören.

»Hast du gehört, Nikolas, daß die Kinder nach Moskau fahren?« fragte Karl Iwanowitsch beim Eintritt ins Zimmer.

»Gewiß habe ich das gehört.«

Wahrscheinlich wollte Nikolas aufstehen, denn Karl Iwanowitsch sagte: »Bleib sitzen, Nikolas,« und dann wurde die Tür geschlossen, und man konnte nur noch hören, daß sie sprachen, ohne einzelne Worte zu verstehen. Ich stand auf und lief hin, um zu horchen. Wolodja drohte mir scherzend mit dem Finger.

Durch das Schlüsselloch sah ich Nikolas mit gesenktem Kopf am Fenster Stiefel nähen, während Karl Iwanowitsch mit der Tabaksdose in der Hand vor ihm stand und eifrig redete.

Er sprach Deutsch recht gut und einfach; im Russischen aber machte er bei jedem Wort einige Fehler und bildete sich dabei, glaube ich, ein, ein guter Redner zu sein. Er zog die Worte so auseinander und sprach mit so kläglicher Betonung, daß seine Rede, so lächerlich das klingen mag, für mich stets besonders rührend war. Er sprach wie ein Professor vom Katheder, oder wie man gefühlvolle Verse deklamiert, in einer Art traurigem einförmigen Singsang.

»Man mag den Leuten noch soviel Gutes tun und noch so anhänglich sein – auf Dankbarkeit darf man nicht rechnen, Nikolas. Ich lebe zwölf Jahre in diesem Hause und kann vor Gott beteuern, Nikolas« – fuhr Karl Iwanowitsch, die Augen und die Tabaksdose gegen die Decke richtend, fort – »daß ich die Jungens geliebt und mich mehr mit ihnen beschäftigt habe, als wenn es meine eigenen Kinder wären. Weißt du noch, Nikolas, als Wolodja Fieber hatte, wie ich da neun Tage lang, ohne ein Auge zuzutun, an seinem Bette saß? Ja, damals war ich der liebe, gute Karl Iwanowitsch; damals hatte man mich nötig, aber jetzt,« fügte er ironisch lächelnd hinzu, »jetzt müssen sie etwas Ordentliches lernen. Als ob sie hier nichts lernten …«

»Gewiß doch, freilich lernen sie,« meinte Nikolas, den Pfriem hinlegend und mit beiden Händen den Pechdraht ziehend.

»Ja, jetzt bin ich nicht mehr nötig; da jagt man mich wie einen Hund vom Hofe! Wo bleibt da Dankbarkeit, wo alle Versprechungen, vornehme Gesinnung? Natalie Nikolajewna habe ich stets geliebt und verehrt und werde das auch in Zukunft tun, Nikolas. Aber was hat sie zu sagen? … Ihr Wille bedeutet in diesem Hause soviel wie das da!« dabei warf er einen Lederschnitzel von der Fensterbank auf den Boden. »Ich weiß, wer mir das alles eingefädelt hat und warum ich überflüssig geworden bin: weil ich nicht zu allem ja sagen und schmeicheln kann, wie gewisse Leute! Ich sage stets nur jedermann die Wahrheit. Gott mit ihnen! Dadurch, daß ich nicht mehr da bin, werden sie nicht reicher, während ich, so Gott will, schon noch mein Stück Brot finde, nicht wahr, Nikolas?«

Nikolas hörte auf zu nähen und blickte ihn einen Moment voll Teilnahme an, sagte aber nichts.

Lange und viel sprach Karl Iwanowitsch in dem Sinne: wo er früher gelebt, wie man ihn dort besser gewürdigt (es tat mir weh, das zu hören), sprach von Sachsen, von seinen Eltern, seinem Freunde namens Schönheit usw.

Aus alledem begriff ich, daß er Maria Iwanowna haßte und sie für die Urheberin all seines Unglücks hielt, daß er Papa nicht gern hatte, Mama und uns aber sehr liebte und Nikolas überzeugen wollte (vielleicht auch sich selbst), daß, wie schwer ihm auch die Trennung von uns würde, er diesen Schicksalsschlag dennoch mit Ruhe und Würde zu tragen hoffe.

Ich fühlte ihm seinen Kummer nach, und es tat mir weh, daß zwei Personen, die ich fast gleich liebhatte, Papa und Karl Iwanowitsch, sich nicht verstanden. Ich kniete wieder in meiner Ecke nieder und grübelte, wie man zwischen beiden eine Einigung herbeiführen könnte.

Karl Iwanowitsch kehrte bald ins Klassenzimmer zurück, ließ mich aufstehen und das Diktatheft vornehmen. Als das geschehen war, ließ er sich auf seinem Platz nieder und begann mit einer Stimme, die irgendwo aus der Tiefe zu kommen schien, zu diktieren: »Von allen menschlichen Leidenschaften …« er wiederholte: »menschlichen Leidenschaften … ist die grausamste … Haben Sie geschrieben …?« Er machte eine Pause und nahm langsam eine Prise, »ist die grausamste,« wiederholte er, »die Undankbarkeit. Ein großes U.«

Nachdem ich das letzte Wort geschrieben, sah ich ihn in Erwartung des weiteren an. Er aber sagte mit unbeschreiblicher Majestät »Punktum!« und gab ein Zeichen, ihm die Hefte zu übergeben. Mehreremal las er laut, mit verschiedener Betonung, augenscheinlich mit größter Zufriedenheit diese Phrase, die seine innersten Gedanken ausdrückte, gab uns dann ein Pensum aus der Geschichte und blieb selbst am Fenster sitzen. Sein Gesicht war aber schon nicht mehr so verdrießlich wie vorher; es drückte die Zufriedenheit eines Mannes aus, der sich für eine ihm zugefügte Schmach würdig gerächt hat.

Ich lernte am offenen Fenster gerade über Papas Zimmer. Unten hörte man Papas und Mamas Stimmen, aber Wolodja sagte Karl Iwanowitsch, der mit geschlossenen Augen dasaß, so laut seine Lektion her, daß man nicht hören konnte, was sie sprachen.

Warum ist Mama zu ihm gegangen, und nicht er zu ihr? dachte ich. Sie hat ihn zu sich gerufen, was macht ihm das für Mühe; warum muß er sie beunruhigen?

Papa und Mama lebten sehr gut miteinander. Niemals während ihrer Ehe wurde von irgendeiner Seite gegen den anderen ein Vorwurf laut oder bestand der geringste Verdacht der Untreue oder des Betruges. Mama war ein so reines, liebendes und gläubiges Wesen, daß sie nichts argwöhnen, geschweige selbst Argwohn einflößen konnte.

Oft, wenn ich an ihr Verhältnis dachte, wollte ich mir das Gefühl vergegenwärtigen, das sie verband; aber entweder weil meine Erinnerungen mich im Stich ließen oder weil ich Enttäuschung fürchtete, brachte ich das nicht fertig. Bald war mir das Gefühl, das ich mir ausmalte, in der Erinnerung nicht gegenwärtig, bald brachte ich es nicht fertig, daran zu glauben. Fest überzeugt war ich, daß Papa seine Wange hinhielt und Mama ihn küßte, das heißt, er übte stets und in allen Dingen einen großen Einfluß auf sie aus.

Sie gehörte zu den weiblichen Wesen, deren Lebensaufgabe Selbstaufopferung und das Glück anderer bilden. Deswegen war Papa, obgleich er aufmerksam war und mit einer anderen Frau ein guter Mann gewesen wäre, mit Mama grob. Das konnte man daran merken, daß er sich bisweilen von ihr bedienen, sich ihre kleinen Vergnügen zum Opfer bringen ließ, ihr bisweilen das Wort abschnitt. Ja selbst bei den häuslichen Anordnungen war das zu sehen. Wer hatte im Hause die meisten Fenster? Aus wessen Fenster hatte man die schönste Aussicht? Wessen Dienerschaft war am besten untergebracht? Wer hatte den schönsten und bequemsten Eingang? Wer den Ausgang in den Garten? Auf wessen Hälfte war der Kamin? Wer empfing die gemeinsamen Gäste? Wem brachte der alte Gärtner die Kaktus Grandiflora und erklärte mit ruhiger Wichtigkeit, morgen stände sie in Blüte? Vor wessen Fenstern tanzten Bienen und versammelten sich das Hofgesinde und Kinder? Alle diese Vorteile waren auf Papas Seite.

Als Wolodja mit Aufsagen innehielt, drangen aus dem Arbeitszimmer deutlich einige Sätze an mein Ohr. Aus diesen Bemerkungen verstand ich den ganzen Inhalt der Unterhaltung. Papa sagte, die Einnahmen seien dieses Jahr so klein und die Ausgaben so groß, daß man nicht daran denken könnte, mit der ganzen Familie nach Moskau zu übersiedeln, daß aber die Kinder, besonders Wolodja, der bald dreizehn Jahre alt würde, endlich etwas anderes lernen müßten als Tiroler Lieder und Karl Iwanowitschs Dialoge, daß er sie im Sommer aufs Land bringen und im nächsten Winter, so Gott wolle, alle nach Moskau überführen würde.

»Ich weiß, Liebster, daß es zu ihrem Besten dient, es ist aber doch recht traurig,« erwiderte Mama und trat vom Fenster fort.

Es war dreiviertel ein Uhr; einstweilen schien aber Karl Iwanowitsch nicht die Absicht zu haben, den unerträglichen Unterricht zu schließen. Ich sah das Hofmädchen vorübergehen, um die Teller zu waschen, hörte wie im Eßzimmer am Büfett mit Geschirr geklappert, der Tisch ausgezogen und mit Stühlen geschurrt wurde.

Wahrscheinlich werden wir bald zum Essen gerufen; nur eins kann es noch verzögern – ich hatte gesehen, daß Mama mit Mimi, Ljubotschka und Katja (das war Mimis zwölfjährige Tochter) in den Garten gegangen, aber nicht zurückgekehrt waren.

Da schien es, als wenn ihre Schirme auftauchten. Nein, es war Mimi mit dem Mädchen … Ach, und da war auch »sie«. Wie sie langsam ging und wie traurig, das arme Mädchen! Warum fuhr sie nicht mit uns?

Ich wollte folgendes tun: Wenn »er« sagte, es sei Zeit zur Reise, würde ich zu ihr gehen, sie umarmen und sagen: ich will lieber sterben, aber ohne sie gehe ich nicht. Dann würde man mich sicher bei ihr lassen. Dann würden Mama, ich, Ljubotschka, Katja und Karl Iwanowitsch alle zusammen stets in Petrowskoie bleiben; ich würde zu Hause bei Karl Iwanowitsch lernen und dann, wenn ich groß geworden wäre, ihm ein kleines Haus schenken, da würde er immer wohnen; ich würde dann beim Militär eintreten, wenn ich es bis zum General gebracht, jemanden heiraten, vielleicht Katja, und Karl Iwanowitschs Verwandte aus Sachsen kommen lassen, oder nein, ihm lieber Geld geben, um selbst nach Sachsen zu fahren …

Ich träumte noch manches von Sachsen, vom Generalsrang und von Mama, die mich, weil ich General wäre und bei ihr bliebe, am meisten liebhaben würde; aber all diese Träume sind schwer wiederzugeben, nicht weil sie zu töricht, sondern weil sie zu schön waren.

Da lief schon der Haushofmeister Foka mit einer Serviette unterm Arm in den Garten, um zu melden, daß angerichtet sei. Wie war er komisch in seinem langen Rock und der weißen Weste, und wie glänzte seine kahle Platte im Sonnenschein.

Gott sei Dank, da kam jemand, um auch uns zu rufen; man hörte Schritte auf der Treppe. Ich kannte alle Hausbewohner am Gang und an dem Knarren der Stiefel; aber die Schritte, die sich jetzt näherten, waren mir unbekannt, weshalb ich neugierig auf die Tür blickte.

Die Tür öffnete sich und es erschien eine mir ganz fremde Gestalt.

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