Leider liegen die Tage, in denen unsere Geschichte spielt, schon so weit zurück, daß wir nicht mehr mit Sicherheit festzustellen vermögen, ob der Baron Taittinger recht hatte, als er der Meinung war, die Mizzi Schinagl sehe aus wie eine Zwillingsschwester der Gräfin W.
Er hatte, traurig und geradezu verzweifelt durch Sievering schlendernd, den lächerlichen Entschluß gefaßt, eine Tonpfeife zu kaufen. Und er trat in den Laden des Alois Schinagl ein. Er war darauf vorbereitet gewesen, einen älteren, würdigen Mann im Laden vorzufinden.
Die Tür hatte eine grelle Alarmglocke. Auch sie überraschte den Baron Taittinger nicht. Wohl aber überraschte, ja erschreckte es ihn, daß statt des alten Pfeifenhändlers, den er erwartet hatte, ein Wesen hinter dem Ladentisch erschien, das er bereits sehr wohl zu kennen glaubte: wenn es nicht die Gräfin W. persönlich war, so war es gewiß ihre Schwester. Er beschloß zuerst, längere Zeit die Pfeifen zu prüfen, von denen er allerdings gar nichts verstand.
Es waren lächerliche Pfeifen und lächerliche Preise. Während er vorgab, die Pfeifen zu prüfen, jede einzelne an den Mund führte, durch jede hindurchblies – so wie er es einmal gesehn zu haben glaubte, als er seinen gottseligen Herrn Papa, den alten Hofrat Taittinger, zum Pfeifenkaufen in Olmütz begleitet hatte –, beobachtete er verstohlen, aber inbrünstig das zarte Gesicht der Doppelgängerin. Ja, kein Zweifel, sie sah aus wie die Gräfin W.: das gleiche Veilchenauge mit dem Vergißmeinnichtblick; der gleiche Haaransatz über der niederen Stirn; der gleiche aschblonde Knoten im Nacken – man sah ihn, sooft sich das Mädchen umwandte, um nach neuen Pfeifen auf den Regalen an der Wand zu suchen; der gleiche Augenaufschlag und das gleiche süße und zugleich mokante Lächeln; die gleichen scharfen Eckzähne, die sich bei jedem Lächeln enthüllten; die gleichen Handbewegungen und die gleichen lieben Grübchen an den Armen, zu beiden Seiten der Ellenbogen.
Die goldenen Knöpfe der Rittmeister-Uniform verbreiteten einen immer stärkeren Glanz im Laden, je tiefer der Abend wurde. Man hätte noch ganz deutlich die Pfeifen sehen können, aber dem Mädchen, der Doppelgängerin der Gräfin W., wurde es unbehaglich, allein, wie sie war mit dem fremden Offizier, und sie entzündete den Rundbrenner über dem Pult, rechts vom Verkaufstisch. Das Licht flackerte und blakte zuerst. Taittinger kaufte fünfzehn nutzlose Tonpfeifen. Er fragte noch: »Was ist eigentlich Ihr Herr Vater, liebes Fräulein?«
»Der Ofensetzer Alois Schinagl!« sagte das Mädchen. »Pfeifen macht er auch, aber nur nebenbei. Aber die meiste Kundschaft sind halt die Leut’, die Öfen brauchen. Zu uns kommt selten einer ins Geschäft, Pfeifen haben die Leut’ alle eh schon.«
»Ich komme«, sagte der Baron Taittinger, »morgen noch einmal. Ich brauche viel Pfeifen.«
Er kam am nächsten Tag mit dem Diener, und er kaufte nicht weniger als sechzig Pfeifen.
Drei Tage später kam er wieder nach Sievering, er fand es »charmant«. Es war Samstag, drei Uhr nachmittags, und Mizzi begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, obwohl Taittinger diesmal in Zivil war. Es war warm und golden draußen. Mizzi schloß den Laden und stieg in den Fiaker und man fuhr zum Kronbauer.
Man fuhr zum Kronbauer und erzählte drei Stunden später dem fremden Herrn, daß man eigentlich schon so gut wie verlobt war. Verlobt war man mit Xandl Parrainer, Friseur und Perückenmacher. Jeden Sonntag ging man mit ihm aus.
Das waren Geschichten, die den Taittinger gar nicht kümmerten und die er auch nur halb verstand. Eigentlich glaubte er, dieses brave Mädchen wolle ihm einen guten Barbier empfehlen. »Schick ihn nur zu mir«, sagte er, »schick ihn nur! Herrengasse 1, erster Stock.«
Sehr bald fand Taittinger, daß ihn die Mizzi langweilte. Eines Tages teilte sie ihm mit, daß sie schwanger sei, und dieser Zustand war schlimmer als langweilig: nämlich fad.
Die Folge dieser Erkenntnis war, daß Taittinger zum Notar ging. Taittinger liebte weder die Gräfin W. mehr noch die Schinagl, die ihr ähnlich sah. Er liebte nur noch, wie gewöhnlich, sich selbst.
Wie es in jenen Tagen die Sitte befahl, riet der Notar zu einer Pfaidlerei. Alle Herren, deren Geschäfte er verwaltete, hätten Pfaidlereien eingerichtet. Alle Damen befänden sich noch heute wohl dabei. Der Baron nahm also einen Urlaub von zwei Monaten und reiste in die Bacska, zu einem Onkel seiner Mutter, wo ihn keine Post erreichen konnte.
Es erreichte ihn auch kein einziger der heftigen Liebesbriefe, die Mizzi Schinagl unentwegt schrieb. Sie schrieb diese Liebesbriefe an die einzige Adresse Taittingers, die sie kannte; an die Herrengasse 1. Der Doktor Maurer, der Sekretär Taittingers, der die Schriften auseinanderzuhalten wußte, zerriß die Briefe, ohne sie gelesen zu haben.
Als der Baron Taittinger aus der Bacska zurückkehrte, war die Pfaidlerei der Mizzi Schinagl in der Porzellangasse bereits eingerichtet und im Gange. Mizzi Schinagl war im neunten Monat.
Sie gebar einen Sohn, und sie nannte ihn Alois Franz Alexander. Alois Franz hieß der natürliche Vater; Xandl hieß der Bräutigam, der Friseur.
Die Pfaidlerei ging gut, der Friseur war immer noch bereit, Mizzi zu heiraten. Auch hatte sie selbst durchaus Verlangen nach einem ruhigen und ehrlichen Dasein. Allein, es ging in ihr, dieweil sie derlei vernünftige Pläne überlegte, auch die Liebe durch das Herz und durch den Kopf, und es war die Liebe zu Taittinger. Ihr Kind schien ihr großartig geraten. Nicht einen Augenblick vermochte sie die Hoffnung aufzugeben, daß der Baron Taittinger kommen würde, um die Frucht seiner Lenden zu sehen. Aber der Taittinger kam nicht.
Als Xandl drei Jahre alt war, lernte Mizzi Schinagl auf einer Bank im Schönbornpark, durch Zufall sozusagen, eine geschwätzige und gefällige Frau kennen, die ihr sagte, es gäbe da ein Haus auf der Wieden, da wäre man gut aufgehoben – und noble Menschen verkehrten dort – und was wäre schon eine Pfaidlerei – und was wäre das überhaupt schon für ein Leben so, mit einem Kind und unverheiratet und mit einer Pfaidlerei. Was war das für ein Leben? Mizzi Schinagl hatte es schon oft selber gedacht, wörtlich das gleiche.
»Was sind das für noble Menschen, die dort verkehren?« fragte Mizzi Schinagl.
»Die nobelsten«, erwiderte die fremde Frau. »Namen kann ich Ihnen auch sagen. Ich muß nur die Liste holen.«
Sie eilte dahin und brachte die Liste.
Die Mizzi wußte selbst nicht, weshalb sie zur Frau Matzner am nächsten Tage ging. Was kümmerte sie die Frau Matzner? Was hatte sie jemals von der Frau Matzner gehört? Es war Sommer, Spätsommer. Es war auch sehr heiß. Verspätete, immer noch leichtsinnige Amseln flöteten auf dem immer noch grünen Rasen, zwischen dem Kopfsteinpflaster. Es schlug sechs Uhr, als sie vor dem Hause der Josephine Matzner stand. »Josephine Matzner, Masseurin, IIter Stock, dreimal läuten« war unten gedruckt. Sie läutete dreimal.
Ein geradezu niederschmetternder Duft von Maiglöckchen, von Flieder, von Veilchen, von Verbenen, von Reseda schlug Mizzi entgegen. Noch eh’ sie wußte, was mit ihr geschah, stand sie in dem sogenannten rosa Salon: aus rosa Seide waren die Vorhänge vor den Fenstern; aus rosa Seide die Vorhänge vor der Tür; aus rosa Rosen bestand die Tapete; in eine Rosenknospe aus Porzellan ging selbst der Knopf der Türklinke aus.
Eines Tages, eines Abends vielmehr, kommt er, der geliebte Taittinger. Seit vielen Jahren ist er im Haus der Josephine Matzner heimisch.
Als er die Mizzi Schinagl in diesem Hause erblickte, war er durchaus nicht erstaunt, wie es wahrscheinlich viele andere Männer an seiner Stelle gewesen wären, sondern er strengte sich an, eine den Umständen angemessene Frage zu finden. Er erinnerte sich nicht mehr, auf welche Weise sein Notar die Mizzi Schinagl abgefunden hatte, ob durch eine Wäscherei, Näherei oder Pfaidlerei. Dagegen glaubte er sich genau erinnern zu können, daß Fräulein Schinagl ein Kind weiblichen Geschlechts von ihm bekommen hatte, und eine höfliche Frage nach dem Befinden dieser Kleinen hielt er wohl für angebracht. »Grüß Gott!« sagte er also. »Was macht unsere Kleine?«
»Wir haben einen Buben!« sagte die Mizzi, und sie errötete zum erstenmal wieder nach langen Jahren, als hätte sie nicht etwa die pure Wahrheit gesagt, sondern eine Lüge.
»Ach ja, es ist ein Bub!« sagte der Baron. »Entschuldige!«
Eine Weile später bestellte er Champagner, um mit Mizzi auf das Wohl dieses Buben, seines Buben, zu trinken. Er hörte nicht mehr alles, was die Mizzi vom Buben erzählte. Er hörte nicht, daß er gut untergebracht war bei Frau Schyschka, einer Frau, die zwar aus Bielitz-Biala stammte, aber dennoch durchaus zuverlässig war. Sie verwaltete auch die Pfaidlerei, die ganz gut ging. Insoweit war Mizzi Schinagl zufrieden. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, weißes Seidenkleid, und von Zeit zu Zeit nestelte sie an ihrem rechten Strumpfband, offenbar um sich zu überzeugen, daß ihr Geld, ein Zehnguldenschein, den sie heute erworben hatte, noch vorhanden war. Obwohl sie wußte, daß der Baron nur aus Gewohnheit zu der Josephine Matzner gekommen war, begann sie sich nach zwei Gläsern Champagner einzureden, er sei ihretwegen allein gekommen. Alsbald schien es auch dem Rittmeister so, daß er der Mizzi wegen heute den Weg hierher genommen hatte. Der Baron hatte ein kleines Herz, aber es war ebenso schnell gerührt wie vergeßlich. Er mochte die Mizzi noch sehr gerne, und er fragte sich, warum er sie eigentlich verlassen habe. Er begehrte sie sogar, aber es gab nun ein gewaltiges Hindernis: es schien ihm einfach unschicklich, eine Frau zu kaufen, die man umsonst gehabt hatte, sozusagen umsonst, abgesehen von der Pfaidlerei. Es war ebenso unschicklich, wenn nicht noch unschicklicher, eines der anderen Mädchen zu nehmen, sozusagen vor den Augen der Mizzi. In der Hoffnung, daß er dadurch allen peinlichen Überlegungen entgehen könnte, gab er der Mizzi zuerst ein Geldstück, ein goldenes Fünfguldenstück. Sie nahm es in die Hand, spuckte darauf und sagte: »Gehn wir hinauf, zu mir, ich hab’ ein nettes Kabinett!«
Der Baron ging ins Kabinett und blieb dort bis Mitternacht, in Erinnerungen versunken. Er versprach, oft wiederzukommen, und er hielt auch sein Versprechen. Er wußte nicht, ob ihn ein Fluch trieb oder ein Segen; ob er eigentlich die Gräfin liebte oder die Mizzi; ja ob er überhaupt liebte; ob er überhaupt noch der alte Taittinger war. Es fehlte nur noch wenig, und er wäre imstande gewesen, sich selbst in die dritte und letzte Kategorie der Menschen einzureihen: in die Kategorie der »Langweiligen«.
О проекте
О подписке