„Wie die Damoklesschwerter wären seit Menschengedenken die ‘Flugbeile’, die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren – über Böhmens sämtlichen gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer Krankheit zeigen wollten.“ – war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien, dass mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolz Thaddäus Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.
Das Junggesellenleben des Herrn kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.
Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und schließlich hatte sich darin sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der „böhmischen Liesel“ – natürlich, als diese noch schön und begehrenswert gewesen – eine nicht unwesentliche Rolle spielten.
Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.
Jedes Frühjahr, genau am 1. Juni, pflegte der Herr kaiserliche Leibarzt zur Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu benützen.
Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten, rotbewesteten Kutschers gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem Karlitschek, das wackre Ross, gelaunt war, fortgesetzt – in Karlsbad angelangt, konnte sich’s dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen, bis es einer rosabschimmernden Wurst auf vier dünnen Stelzbeinen glich, derweilen der Herr Leibarzt sich selbst Bewegung per pedes[3] verordnete. Das Erscheinen der roten Datumsziffer 1. Mai auf dem Abreißkalender über dem Bette gab sonst immer das Zeichen, dass es höchste Zeit sei, die Koffer zu packen, aber diesmal würdigte der Herr kaiserliche Leibarzt den Block keines Blickes, ließ den 30. April, der den schauerlichen Unterdrück „Walpurgisnacht"[4] trug, unberührt hängen, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm einen ungeheuren schweinsledernen, mit Messingecken verzierten Folianten vor, der schon von seinem Urgroßvater an jedem männlichen Flugbeil als Diarium gedient hatte, und begann unter den Aufzeichnungen seiner Jugendjahre nachzublättern, ob sich nicht vielleicht auf diesem Wege feststellen lasse, ob, wann und wo er dem unheimlichen Zrcadlo schon früher begegnet sei – denn der Gedanke, dass dies der Fall sein müsse, quälte ihn unablässig. —
Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahre und von dem Datum angefangen, als sein Vater gestorben war, hatte er pünktlich jeden Morgen seine Erlebnisse – genau – wie einst seine seligen Vorfahren eingetragen und jeden Tag mit fortlaufenden Zahlen versehen. – Der heutige trug bereits die Ziffer 16.177. —
Da er nicht hatte wissen können, dass er Junggeselle bleiben und daher keine Familie hinterlassen werde, hatte er – ebenfalls nach dem Vorbilde seiner Ahnen – von Anfang an alles, was Liebesangelegenheiten betraf, durch Geheimschrift und Zeichen, die nur er allein enträtseln konnte, für unberufene Augen unlesbar gemacht.
Solcher Stellen gab es in diesem Buche rühmenswerterweise nur wenige; sie verhielten sich hinsichtlich Häufigkeit des Vorkommens zur Zahl der ebenfalls sorgfältig gebuchten, im Gasthaus „zum Schnell" verzehrten Gulasch etwa wie 1 zu 300.
Trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der das Diarium geführt war, konnte der Herr Leibarzt keine Stelle finden, die auf den Schlafwandler irgendwelchen Bezug gehabt hätte, und enttäuscht klappte er das Buch endlich zu.
Schon beim Blättern hatte ihn ein unbehagliches Gefühl beschlichen: Während des Durchlesens der einzelnen Notizen waren ihm – zum ersten Mal – unwillkürlich zu Bewusstsein gekommen, wie unsäglich eintönig, im Grunde genommen, seine Jahre dahingeflossen waren.
Zu anderen Zeiten hätte er es wie Stolz empfunden, sich eines Lebens, so regelmäßig und abgezirkelt wie das kaum eines der exklusivsten Hradschiner Adelskreise rühmen zu können, und dass auch seinem Blute – trotzdem es nicht blau und nur bürgerlich war – jegliche Hast und jegliche plebejische Fortschrittsgier seit Generationen abhanden gekommen sei – mit einem Mal kam es ihm aber jetzt unter dem noch frischen Eindruck des nächtlichen Geschehnisses im Hause Elsenwanger vor, als wäre ein Trieb ihn ihm erwacht, für den er nur hässliche Namen finden konnte. Namen wie: Abenteuersucht, Unbefriedigtsein oder Neugierde, unerklärlichen Vorgängen nachforschen zu wollen und dergleichen mehr.
Befremdet sah er sich in der Stube um. Die schmucklosen, weißgekalkten Wände störten ihn. Früher hatten sie ihn doch nie gestört! – Warum plötzlich jetzt?
Er ärgerte sich über sich selbst.
Die drei Zimmer, die er bewohnte, lagen im südlichen Flügel der königlichen Burg, die ihm die k. k. Schlosshauptmannschaft, als er pensioniert worden war, angewiesen hatte. Von einer vorgebauten Brüstung aus, in der ein mächtiges Fernrohr stand, konnte er hinab in die „Welt“ – nach Prag – sehen und dahinter, am Horizont, noch die Wälder und sanft gewellten grünen Flächen einer Hügellandschaft unterscheiden, während ein anderes Fenster den oberen Flusslauf der Moldau[5] – ein silberig glitzerndes Band, das sich in dunstiger Ferne verlor – als Aussicht bot.
Um seine wildgewordenen Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen, trat er an das Teleskop und richtete es auf die Stadt, wobei er sich, wie es seine Gewohnheit war, vom Zufall die Hand führen ließ.
Das Instrument vergrößerte in außerordentlichem Maße und hatte infolgedessen nur ein winziges Gesichtsfeld, so dass dem Beschauer die Gegenstände, auf die es gerichtet wurde, so dicht ans Auge gerückt erschienen, als stünden sie in seiner unmittelbaren Nähe.
Der Herr kaiserliche Leibarzt beugte sich zur Linse nieder mit dem unwillkürlichen, kaum gedachten, heimlichen Wunsche, einen Schornsteinfeger auf einem Dache oder sonst irgendein glückverheißendes Omen zu erblicken, fuhr aber gleich darauf mit einem Ausdruck des Schreckens zurück.
Das Gesicht der „böhmischen Liesel“ hatte ihn nämlich lebensgroß, hämisch verzerrt und mit den wimperlosen Lidern blinzelnd, als sehe und erkenne sie ihn gar wohl, angegrinst!
So schreckhaft und ungeheuerlich war der Eindruck gewesen, dass der Herr Leibarzt an allen Gliedern zitterte und eine Weile bestürzt an dem Fernrohr vorbei in den sonnendurchflimmerten Luftraum starrte, jede Sekunde gewärtig, die alte Vettel leibhaftig und womöglich auf einem Besen reitend als Gespenst vor sich auftauchen zu sehen.
Als er sich schließlich aufraffte – zwar voll Staunens darüber, wie seltsam der Zufall gespielt hatte, aber immerhin froh, sich die Sache ganz natürlich erklären zu können – und wieder durch das Instrument blickte, war wohl die Alte verschwunden, und nur noch fremde, ihm gleichgültige Gesichter zogen an dem Sehfeld vorbei, aber es wollte ihm scheinen, als läge in ihren Mienen eine seltsame Aufregung – eine Spannung, die sich auf ihn übertrug.
Er erkannte aus der Hast, mit der sie einander verdrängten, aus den Gestikulationen der Hände, den eilfertig schwätzenden Lippen, aus den zeitweilig weit aufgerissenen Mündern, die Schreie auszustoßen schienen, dass ein Volksauflauf entstanden sein müsse, dessen Ursache sich jedoch wegen der großen Entfernung nicht feststellen ließ. Ein kleiner Ruck, den er dem Fernrohr gab, machte das Bild im Nu verschwinden, und an seine Stelle trat – zuerst in verschwommenen Umrissen – ein viereckiges dunkles Etwas, das allmählich beim Näherschrauben der Linse zu einem offenen Giebelfenster mit zerbrochenen, mit Zeitungspapier verklebten Scheiben gerann.
Ein junges, in Lumpen gehülltes Weib, das Gesicht leichenhaft eingefallen und verhärmt, die Augen tief in den Höhlen, saß in dem Rahmen und hielt den Blick mit stumpfer vertierter Gleichgültigkeit unbeweglich auf ein skelettartig abgemagertes kleines Kind gerichtet, das vor ihr lag und offenbar in ihren Armen gestorben war. —
Das grelle Sonnenlicht, das die beiden umfing, ließ jede Einzelheit mit grausamer Schärfe erkennen und vertiefte mit seinem jubelvollen Frühlingsglanz den furchtbaren Missklang zwischen Jammer und Freude bis zur Unerträglichkeit.
„Der Krieg. Ja, der Krieg“, seufzte der Pinguin und versetzte dem Rohre einen Stoß, um sich durch den grässlichen Anblick nicht unnötigerweise den Appetit für sein Gabelfrühstück zu verderben.
„Der rückwärtige Eingang eines Theaters oder so etwas Ähnliches muss das sein“, murmelte er sinnend, als sich gleich drauf eine neue Szene vor ihm abrollte: Zwei Arbeiter trugen, begafft von zahlreichen Gassenjungen und knicksenden alten Weibern in Kopftüchern, aus einem gähnenden Tor ein Kolossalgemälde, worauf ein Greis mit langem weißem Bart zu sehen war, auf rosa wolken gebettet, in den Augen den Ausdruck unsäglicher Milde und die Rechte segnend ausgestreckt, während die Linke fürsorglich einen Globus umspannt hielt.
Wenig befriedigt und von widerstreitenden Gefühlen gequält, zog sich der kaiserliche Leibarzt ins Zimmer zurück, nahm die Botschaft seiner Köchin, „der Wenzel warte unten“, wortlos entgegen, ergriff Zylinder, Handschuhe und Elfenbeinstock und verfügte sich knarrenden Fußes die kühle Steintreppe hinab in den Schlosshof, wo der Kutscher bereits mit dem Abbau des Droschkendaches beschäftigt war, um die hohe Gestalt seines Herrn ohne Anstoß im Inneren des Wagens verstauen zu können.
Die Karosse war so ziemlich den größten Teil der steilen Straßen hinabgerasselt, als dem Pinguin plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, der ihn veranlasste, so lange an die klapprigen Fensterscheiben zu klopfen, bis Karlitschek sich endlich bequemte, durch Steifmachen seiner isabellfarbigen Vorderstelzen der Fahrt ein jähes Ende zu bereiten, und Wenzel vom Bock sprang und mit gezogenem Hut an den Schlag trat.
Wie aus dem Boden gewachsen umdrängte sofort eine Schar Schulbuben den Wagen und vollführte, als sie den Pinguin darin erblickte, seines Spitznamens eingedenk, eine Art lautlosen Polarvogeltanz, wobei sie sich mit gekrümmten Armen unbeholfene Flugbewegungen nachahmten und wie mit spitzen Schnäbeln nacheinander hackten.
Der Herr kaiserliche Leibarzt würdigte die Spötter keinen Blickes und flüsterte dem Kutscher etwas zu, das diesen einen Augenblick lang buchstäblich erstarren ließ.
„Exlenz, gnä’ Herr, wos, in die Totengasse wollen sich Exlenz fahren?“ stieß der Mann endlich halblaut hervor. „Zu die – zu die – zu die Menscher? – Und jetzen in der Früh schon?“
„Aber die ‘böhmische Liesel’ wohnt sich doch gar nicht in der Totengassen“ – fuhr er erleichtert fort, als ihm der Pinguin sein Vorhaben genauer auseinandergesetzt hatte. „Die ‘bähmische Liesel’ wohnt sich doch in der ‘Neien Welt’. Gott sei Dank.“
„In der – Welt? Unten?“ fragte der kaiserliche Leibarzt zurück und warf einen missgelaunten Blick aus dem Fenster auf das zu seinen Füßen liegende Prag.
„In der ‘Neien Welt’“, beruhigte ihn der Kutscher, „in der Gassen, was sich um den Hirschgraben rundumadum ziecht.“ Dabei deutete er mit dem Daumen zum Firmament empor und beschrieb dann behende mit dem Arm eine Schlinge in der Luft, als wohne die alte Dame in beinahe unzugänglichen Gefilden – sozusagen im Astralreich, zwischen Himmel und Erde. —
Einige Minuten später klomm Karlitschek wieder – mit dem gemessen langsamen Bewegungen eines schwindelfreien kaukasischen Gebirgsmaultieres – die abschüssige Spornergasse bergan. —
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt war eingefallen, dass er vor kaum einer halben Stunde die „böhmische Liesel“ durch das Fernrohr in den Straßen Prags gesehen hatte und dass daher die Gelegenheit, den Schauspieler Zrcadlo, der bei ihr wohnte, unter vier Augen zu sprechen, selten günstig sei. Und so hatte er beschlossen, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen und lieber auf das Gabelfrühstück beim „Schnell“ zu verzichten.
Die Gasse, genannt die „Neue Welt“, bestand, wie der Herr kaiserliche Leibarzt eine Weile später – die Droschke musste zurückbleiben, um peinliches Aufsehen zu vermeiden – Gelegenheit fand, sich zu überzeugen, aus etwa sieben getrennt voneinander stehenden Häuschen und dicht gegenüber einer halbkreisförmigen Mauer, deren oberer Rand mit einem fortlaufenden Fries aus mit Kreide zwar primitiv von Knabenhand gezeichneten, nichtsdestoweniger aber äußerst drastischen Anspielungen auf das Geschlechtsleben verziert war. Von ein paar Kindern abgesehen, die fröhlich kreischend in der knöcheltief mit weißem Kalkstaub bedeckten Gasse Kreisel drehten, war weit und breit kein menschliches Gesicht zu erblicken.
Von dem Hirschgraben, dessen Hänge mit blühenden Bäumen und Sträuchern übersät waren, wehte ein duftgetränkter Hauch von Jasmin und Flieder herauf, und in der Ferne träumte das Lustschloss der Kaiserin Anna, von dem silberweißen Gischt der sprühenden Fontänen umgeben, mit seinem gebauchten, grünkupfernen Patinadach im Mittagslicht wie ein riesiger, glänzender Käfer.
Dem kaiserlichen Leibarzt schlug mit einem Mal das Herz seltsam laut in der Brust. Die weiche erschlaffende Frühlingsluft, der betäubende Geruch der Blumen, die spielenden Kinder, das dunstig helleuchtende Bild der Stadt zu seinen Füßen und der ragende Dom mit den in Scharen über ihren Nestern kreischenden Dohlen, alles erweckte in ihm wieder das dumpfe vorwurfsvolle Gefühl von heute Morgen, er habe seine Seele um ein ganzes langes Leben betrogen.
Er sah eine Weile zu, wie sie die kleinen, grau-roten, kegelförmigen Kreisel unter den Schlägen der Peitschen drehten und Staubwölkchen emporwirbelten; er konnte sich nicht entsinnen, jemals als Kind dieses lustige Spiel getrieben zu haben – jetzt kam es ihm vor, als hätte er ein langes Dasein voll Glück dadurch versäumt.
Die offenen Flure der kleinen Häuser, in die er spähte, um die Wohnung des Schauspielers Zrcadlo zu erkunden, waren wie ausgestorben.
In dem einen stand ein leerer Bretterverschlag mit Glasfenstern, hinter denen wahrscheinlich in Friedenszeiten mit blauen Mohnkörnern bestreute Semmeln verkauft worden waren oder – wie ein ausgetrocknetes hölzernes Fässchen verriet – saurer Gurkensaft gemäß der Landessitte: einen in diese Flüssigkeit hängenden Lederriemen gegen Entgelt von einem Heller zweimal durch den Mund ziehen zu dürfen.
Vor einem andern Eingang hing ein schwarz-gelbes Blechschild mit einem zerkratzten Doppeladler darauf und den Fragmenten einer Inschrift, die besagte, es dürfe hier straflos Salz an Reflektanten abgegeben werden.
Aber alles das machte den betrüblichen Eindruck, als sei es längst nicht mehr wahr.
Auch ein Zettel mit großen, einst schwarzen Buchstaben: „Zde se mandluje“, was soviel heißen sollte wie: „Hier dürfen Dienstmädchen gegen Vorausbezahlung von zwölf Kreuzern eine Stunde lang Wäsche mangen“, war halb zerrissen und ließ deutlich ahnen, dass der Gründer dieses Unternehmens jegliches Vertrauen auf seine Erwerbsquelle eingebüßt haben musste.
Allüberall hatte die erbarmungslose Faust der Kriegsfurie die Spuren ihrer zerstörenden Tätigkeit hinterlassen.
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