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Zweites Stueck Den 5. Mai 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail, ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater gehen duerfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Grossmut und Ermahnungen bestuermet und bis in das Innerste erschuettert worden, laesst er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Grosses sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht wuerde Voltaire auch diese Vermutung unterdrueckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas haette geschehen muessen.

Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so duerfte die erste Tragoedie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stueck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.—Ist ein solches Stueck aber auch wohl moeglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveraenderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Zuege sind, mit dem ganzen Geschaefte der Tragoedie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glueckseligkeit nach diesem Leben der Uneigennuetzigkeit, mit welcher wir alle grosse und gute Handlungen auf der Buehne unternommen und vollzogen zu sehen wuenschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu uebersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, waere also mein Rat:—man liesse alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgefuehret. Dieser Rat, welcher aus den Beduerfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmaessige Stuecke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwaechern Gemuetern zustatten koemmt, die, ich weiss nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Staette gefasst machen, im Theater zu hoeren bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoss geben; und ich wuenschte, dass es auch allem genommenen Anstosse vorbeugen koennte und wollte.

Cronegk hatte sein Stueck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uebrige hat eine Feder in Wien dazugefueget; eine Feder —denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergaenzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod loeset alle Verwirrungen am besten; darum laesst er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennuetzigsten Grossmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"—"Woran? am fuenften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fuenfte Akt ist eine garstige boese Staupe, die manchen hinreisst, dem die ersten vier Akte ein weit laengeres Leben versprachen.—

Doch ich will mich in die Kritik des Stueckes nicht tiefer einlassen. So mittelmaessig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der aeusseren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuenste, deren Hilfe dazu noetig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die Kuenstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muss mit der Vorstellung eines Stueckes zufrieden sein, wenn unter vier, fuenf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaenger oder sonst ein Notnagel so sehr beleidiget, dass er ueber das Ganze die Nase ruempft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer fuer den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle uebrige Rollen von ihm sehen zu koennen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprueche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiss, dass das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Wuerde, das Frostigste Feuer und Leben erhaelt.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem "Kodrus" und hier, so manche in einer so schoenen nachdruecklichen Kuerze ausgedrueckt, dass viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oefters gefaerbtes Glas fuer Ede1steine, und witzige Antithesen fuer gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,

"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere,

"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boesewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrueckt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaenzlich ausbrechen laesst. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buehne koennte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates wuerde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoessig diese vermeinten Maximen waeren, und ich wuenschte sehr, dass die Missbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil moege gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Poebel das sittliche Gefuehl so fein, so zaertlich war, dass einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestuermet zu werden! Ich weiss wohl, die Gesinnungen muessen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie aeussert, entsprechen; sie koennen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muessen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen koennen. Aber auch diese poetische Wahrheit muss sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naehern, und der Dichter muss nie so unphilosophisch denken, dass er annimmt, ein Mensch koenne das Boese, um des Boesen wegen, wollen, er koenne nach lasterhaften Grundsaetzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so graesslich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden fuer die hoechste Schoenheit des Trauerspieles haelt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, dass von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, dass ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein muessen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Boesewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemissbraucht haetten.

Wenn die Buehne so unbesonnene Urteile ueber die Priester ueberhaupt ertoenen laesst, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstrasse zur Hoelle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stueckes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen.

Drittes Stueck Den 8. Mai 1767

Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), dass wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hoeren? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muss aus der Fuelle des Herzens kommen, von der der Mund uebergehet; man muss ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen.

Es verstehst sich also von selbst, dass die moralischen Stellen vorzueglich wohl gelernet sein wollen. Sie muessen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoss, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, dass sie keine muehsame Auskramungen des Gedaechtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwaertigen Lage der Sachen scheinen.

Ebenso ausgemacht ist es, dass kein falscher Akzent uns muss argwoehnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muss uns durch den richtigsten, sichersten Ton ueberzeugen, dass er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefasst, die man sich einmal ins Gedaechtnis gepraeget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschaeftiget; aber alsdann ist keine Empfindung moeglich. Die Seele muss ganz gegenwaertig sein; sie muss ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann—

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist ueberhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen aeussern Merkmalen urteilen koennen. Nun ist es moeglich, dass gewisse Dinge in dem Baue des Koerpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwaechen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faehigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwaertig aeussern und ausdruecken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegenteils kann ein anderer so gluecklich gebauet sein; er kann so entscheidende Zuege besitzen; alle seine Muskeln koennen ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfaeltige Abaenderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglueckt sein, dass er uns in denjenigen Rollen, die er nicht urspruenglich, sondern nach irgendeinem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische Nachaeffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgueltigkeit und Kaelte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaeffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfaengt, und durch deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, dass eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veraenderungen des Koerpers hervorbringen, hinwiederum durch diese koerperliche Veraenderungen bewirket werden) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kraeftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veraenderungen des Koerpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefuehl zuverlaessig schliessen zu koennen glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die aeusserste Wut des Zornes ausdruecken; ich nehme an, dass er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, dass er die Gruende dieses Zornes weder hinlaenglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergroebsten Aeusserungen des Zornes einem Akteur von urspruenglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiss—den hastigen Gang, den stampfenden Fuss, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zaehne usw.—wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefuehl von Zorn befallen, welches wiederum in den Koerper zurueckwirkt, und da auch diejenigen Veraenderungen hervorbringt, die nicht bloss von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird gluehen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.

Nach diesen Grundsaetzen von der Empfindung ueberhaupt habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche aeusserliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so dass sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich duenkt folgendes.

Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will also mit Gelassenheit und einer gewissen Kaelte gesagt sein.

Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindruecken, welche individuelle Umstaende auf die handelnden Personen machen; er ist kein blosser symbolischer Schluss; er ist eine generalisierte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sein.

Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kaelte?—

Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht.

Ist die Situation ruhig, so muss sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muss ueber ihr Glueck oder ihre Pflichten bloss darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu geniessen, diese desto williger und mutiger zu beobachten.

Ist die Situation hingegen heftig, so muss sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zurueckholen; sie muss ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stuermischen Ausbruechen den Schein vorbedaechtlicher Entschliessungen geben zu wollen scheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen gemaessigten und feierlichen. Denn dort muss das Raisonnement in Affekt entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskuehlen.

Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stuermisch heraus, als das uebrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als das uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, dass sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und dass wir sie in jenen ebenso unnatuerlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie ueberlegten nie, dass die Stickerei von dem Grunde abstechen muss, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.

Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was fuer welche. Sie machen gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen ueberlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natuerlich, dass sie allen Bewegungen des Koerpers, die von ihrem blossen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruecken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuss fest auf, die Arme sinken, der ganze Koerper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause—und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen Stille, als ob er sich nicht stoeren wollte, sich selbst zu hoeren. Die Reflexion ist aus,—wieder eine Pause—und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu maessigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmaehlich das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, waehrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urploetzlich in unserer Gewalt, als Fuss und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrueckenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande des ganzen uebrigen Koerpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaelte, mit welcher ich glaube, dass die Moral in heftigen Situationen gesprochen sein will.

Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, dass der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaeltere, und welcher dort der kaeltere war, hier der feurige sein muss. Naemlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen hoehern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Koerpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Haende werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uebrige Koerper gern herausarbeiten moechte.

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