„Dann gehe ich davon aus, dass Sie Ihre Nachbarin noch nicht kennengelernt haben“ meinte Ivan. „Sie ist eine sehr nette Dame. Exzentrisch. Sie hat einen Collie, der ihre Schafe hütet.“
„Ihre Schafe kenne ich schon“, erzählte Lacey. „Die kommen nämlich in meinen Garten rüber.“
„Oh, dann ist da wohl ein Loch im Zaun. Ich repariere das. Aber Ihre Nachbarin trinkt bestimmt gerne einmal einen Tee mit Ihnen. Oder ein Bier“, sagte Ivan mit dem für ihn typischen väterlichen Zwinkern, das sie immer an ihren Vater erinnerte.
„Ist das wahr? Wird sie sich nicht eher gestört fühlen, wenn da plötzlich irgendeine dahergelaufene Amerikanerin vor ihrer Tür steht?“
„Gina doch nicht! Sie wird begeistert sein! Gehen Sie ruhig rüber und klopfen an ihre Tür. Ich verspreche Ihnen, dass sie es nicht bereuen werden.“
Dann machte sich Ivan auf den Heimweg und Lacey tat wie er ihr geheißen hatte und ging zum Haus ihrer Nachbarin hinüber. Wobei das Wort „Nachbarin“ nur im weiteren Sinne zutraf, denn besagtes Nachbarhaus lag einen mindestens fünf Minuten langen Fußweg von Laceys Haus entfernt.
Schließlich stand sie vor dem Landhaus, das einmal davon abgesehen, dass es nur es nur eine Ebene hatte, dem ihren ähnelte und klopfte an dessen Tür. Gleich danach hörte sie von der anderen Seite derselben Geräusche, die zum einen vom Herumwuseln eines Hundes und zum anderen von einer Frau kamen, die versuchte, diesen zu beruhigen.
Dann wurde die Tür einen breiten Spalt weit geöffnet. Aus diesem Spalt sah ihr eine Frau mit langem, grauem, gewelltem Haar entgegen, die trotz ihres Alters von wohl über sechzig Jahren eher aussah wie ein Kind. Sie trug eine lachsfarbene Wolljacke und einen bodenlangen, mit Blumen bedruckten Rock. Zu ihren Füßen konnte Lacey die Schnauze eines schwarzweißen Border Collies sehen, der mit aller Macht versuchte, sich an der Frau vorbei zu drängen.
„Aus dem Weg, Boudicca“, rief die Frau.
„Boudicca?“, fragte Lacey. „Was für ein interessanter Name für einen Hund.“
„Sie ist nach der rachsüchtigen, heidnischen, Kriegerkönigin benannt, die sich gegen die Römer aufgelehnt und London niedergebrannt hat. Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?“
Lacey konnte die Frau auf Anhieb gut leiden. „Mein Name ist Lacey. Ich wohne nebenan und wollte mich Ihnen jetzt, wo ich wahrscheinlich länger hierbleiben werde, kurz vorstellen.“
„Sie wohnen nebenan? Im Crag Cottage?“
„Das stimmt.“
Die Frau begann übers ganze Gesicht zu strahlen, riss ihre Tür ganz auf und öffnete gleichzeitig ihre Arme, um Lacey zu umarmen. Dies stachelte Boudicca an, weiter wild herumzuspringen und zu bellen. „Ich heiße Georgina Vickers. Meine Familie nennt mich George, aber für meine Freunde bin ich Gina.”
„Und wie nennen Sie Ihre Nachbarn?“ fragte Lacey scherzhaft, als sie die Frau endlich aus ihrer innigen Umarmung entließ.
„Sagen Sie Gina zu mir, wenn‘s recht ist.“ Die Frau nahm Laceys bei der Hand und zog an dieser. „Und jetzt rein mit Ihnen. Kommen Sie rein! Kommen Sie rein! Ich setze Wasser auf.“
Ohne eine Chance, der Frau zu widersprechen, wurde Lacey ins Innere des Häuschens hineingezogen.
Und obwohl sie dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, würde sie den Satz „Ich setze Wasser auf“, noch sehr oft zu hören bekommen.
„Ist das denn zu glauben, Boo – wir haben endlich wieder einen Nachbarn!“, sagte die Frau während sie ihren Flur, der eine ziemlich niedrige Decke hatte, entlangging.
Lacey folgte der Frau in deren Küche. Diese war etwa halb so groß wie ihre und mit dunkelroten Fliesen ausgelegt. In der Mitte der Küche stand eine Kochinsel, die so groß war, dass sie einen Großteil derselben einnahm. Die Wand, an der die Spüle stand, verfügte über ein großes Fenster, das auf einen mit vielen Blumen bestandenen Garten hinausging, hinter dem man auch das Meer sehen konnte.
„Gärtnern Sie?“ fragte Lacey.
„Sogar sehr gerne und mit großem Stolz. Ich ziehe auch viele Blumen und Kräuter, aus denen ich Mittelchen mache, bin also sozusagen eine echte Kräuterhexe.“ Über diese Selbsteinschätzung kichernd fragte Gina: „Möchten Sie eines davon probieren?“ Dabei zeigte sie auf eine Menge bernsteinfarbiger Glasflaschen, die auf einem behelfsmäßig zusammengezimmerten, wackeligen Holzregal aufgereiht waren. „Ich habe etwas gegen Kopfschmerzen, Krämpfe, Zahnschmerzen, Rheuma….“
„Uh…Ich glaube da nehme ich doch lieber einen Tee“; antwortete Lacey.
„Ach ja, der Tee!“, entfuhr es der exzentrischen Frau. Sie stapfte zur anderen Seite der Küche hinüber, wo sie zwei Becher aus einem Schrank holte. „Was für einen möchten Sie? English Breakfast? Assam? Earl Grey? Lady Grey?“
Lacey hatte gar nicht gewusst, dass es so viele verschiedene Sorten Tee gab. Sie fragte sich, welche Sorte sie bei ihrem „Date“ mit Tom getrunken hatte, denn die war köstlich gewesen. Die Gedanken, die sie sich gerade über Teesorten machte, hatten ihr doch tatsächlich die Erinnerung an diese Begegnung zurückgebracht.
„Welcher davon ist denn der typischste, der den man zu Scones trinkt?“
„Das ist der English Breakfast“, sagte Gina und nickte zur Bestätigung. Sie kramte so lange in ihrem Schrank bis sie eine Dose gefunden hatte und entnahm dieser zwei Teebeutel, die sie auf die beiden nicht zusammenpassenden Humpen verteilte. Sie füllte den Kessel mit Wasser, stellte ihn an, drehte sich dann mit vor unverhohlener Negier sprühenden Augen zu Lacey um und fragte diese: „Und wie gefällt es Ihnen hier in Wilfordshire?“.
„Ich war schon einmal hier“, erklärte Lacey. „Damals war ich noch ein Kind und habe hier einen so schönen Urlaub verbracht, dass ich die gute Zeit, die ich damals hatte, gerne wieder ins Hier und Heute zurückholen wollte.“
„Und hat es geklappt?“
Lacey dachte an Tom. An ihren Laden. An das Crag Cottage, An die ganzen Erinnerungen an ihren Vater, die hier vor Ort wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins gekommen waren – und das nach mehr als zwanzig Jahren, in denen diese wie verschüttet gewesen waren. All diese Gedanken zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Und wie es geklappt hat.“
„Und wie sind Sie im Crag Cottage gelandet?“, fragte Gina.
Lacey wollte gerade anfangen zu erzählen, wie sie im Coach House zufällig mit Ivan bekanntgeworden war, als der Wasserkessel zu kochen begann und dabei so laut blubberte, dass dieses Geräusch ihre Stimme übertönte. Gina streckte einen Finger in die Luft um ihr zu bedeuten, dass sich merken solle, was sie gerade sagen wollte und ging zu dem Kessel hinüber, wobei ihr der Border Collie Boudicca ständig um die Beine herumstrich.
Gina goss heißes Wasser in die Teebecher. „Nehmen Sie Milch?“, fragte sie über ihre Schulter hinweg mit angelaufenen Brillengläsern.
Lacey erinnerte sich daran, dass Tom ihr einen Schuss Milch in den Tee getan hatte und sagte deshalb: Ja, bitte.“
„Und Zucker?“
„Wenn man das hier so macht, dann gerne.“
Gina zuckte die Schultern. „Das kommt darauf an, wie man seinen Tee mag. Ich nehme Zucker, aber vielleicht sind Sie auch so schon süß genug?“
Lacey kicherte. „Wenn Sie Zucker nehmen, denn nehme ich auch welchen.“
„Okay“, sagte Gina. „Ein oder zwei Stück?“
Laceys Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Ich habe gar nicht gewusst, dass es so kompliziert sein kann, eine Tasse Tee zuzubereiten!“
Gina kicherte wie eine Hexe. „Tee zuzubereiten ist eine eigene Kunstform, meine Liebe! Ein Stück Zucker ist angemessen, während zwei Stücke schon als deutlich weniger vornehm gelten. Und drei? Einen Tee mit drei Stück Zucker nennen wir hier einen „Bauarbeitertee.“ Sie zog ein Gesicht und kicherte erneut.
„Ein ,Bauarbeitertee‘. Das muss ich mir merken“, antwortete Lacey.
Scheinbar war der Tee fertig, denn Gina legte die beiden ausgedrückten Teebeutel auf einen Berg weiterer ausgedrückter Teebeutel, der sich auf einer Untertasse neben dem Wasserkessel stapelte und brachte die Tassen dann zu dem wackeligen Küchentisch hinüber. Sie setzte sich, warf ein Stück Zucker in Laceys Tasse, rührte diesen um und schob die Tasse dann zu Lacey hinüber.
Lacey nahm das Gebräu dankbar entgegen und nippte daran. Es schmeckte ganz ähnlich wie der Tee, den Tom ihr gekocht hatte, zwar ein wenig stärker und würziger als dieser, aber doch ähnlich genug, dass Lacey wieder an Tom und seinen Tee zurückdenken musste.
Boudicca legte sich zu Ginas Füßen hin und wedelte glücklich mit dem Schwanz.
„Sie wollten mir gerade erzählen, wie Sie hier in Wilfordshire gelandet sind“, sagte Gina und knüpfte damit das Gespräch dort wieder an, wo es vorhin so plötzlich von dem kochenden Wasserkessel unterbrochen worden war.
„Durch meine Scheidung“, sagte Lacey, die sich dachte, es wäre wohl das Beste, die auf diese Bemerkungen so gut wie unvermeidlichen Mitleidsbekundungen gleich hinter sich zu bringen.
„Oh mein Schatz“, sagte Gina und tätschelte dabei sanft Laceys Hand. „Ich bin auch geschieden. Das war eine schreckliche Zeit damals. Aber denken Sie sich nichts, das war schon in den 1990iger Jahren, weshalb ich inzwischen genug Zeit hatte, um darüber weg zu kommen.“
„Und Sie haben nicht noch einmal geheiratet?“, fragte Lacey, der der Gedanke, sie könne – oder müsse – in Ginas Fußstapfen treten und die nächsten dreißig Jahre ebenfalls allein bleiben, etwas Angst einflößte.
„Gott bewahre! Ich war damals so erleichtert, Schätzchen“, sagte Gina. „Mein Mann war wie alle anderen Männer auch: ein unreifer kleiner Junge, den man in einen Anzug gesteckt hatte. Wenn Sie mich fragen, sind Sie ohne weitaus besser dran! Wenn ich nur daran denke, wie oft er mich belogen und betrogen hat – und das für nichts und wieder nichts.“
Lacey musste lächeln. „Hatten Sie Kinder?“
„Nur eines, einen Sohn“, sagte Gina mit einem tiefen Seufzer. „Er ist zum Militär gegangen und leider in Ausübung seines Dienstes tödlich verunglückt.“
Lacey rang nach Luft. „Oh, das tut mir sehr leid.“
Gina lächelte traurig. „Er war ein toller Kerl.“ Doch dann verflog ihre Traurigkeit wieder . „Aber genug davon. Wie schmeckt Ihnen Ihr Tee? Das ist wahrscheinlich nicht das, was man üblicherweise in den USA trinkt?“
„Er ist köstlich“, sagte Lacey und nahm einen weiteren Schluck davon. „Beruhigend. Ich denke aber, ich bin nicht besonders vornehm.“ Damit gab sie ein zweites Stück Zucker in ihren Tee.
„Jetzt schmeckt er noch besser.“
Denn jetzt schmeckte er genauso wie der Tee, den Tom für sie gekocht hatte. Lacey lächelte in sich hinein und fragte sich, wann sie Tom wohl wiedersehen würde.
„Und wie lange wollen Sie in Ivans Cottage wohnen bleiben?“, fragte Gina.
„Zurzeit weiß ich das selbst noch nicht“, antwortete Lacey. „Ich bin gerade dabei, in der Stadt einen Laden aufzumachen. Ich möchte dort Antiquitäten verkaufen.“
„Wirklich?“, rief Gina. Ihr anscheinend echtes Interesse an dieser seltsamen Amerikanerin, die bei ihr aufgetaucht war, um sich ihr vorzustellen, machte sie Lacey ungeheuer sympathisch.
Lacey nickte. „Davon habe ich schon lange geträumt. Schon mein Vater hatte früher, als ich noch ein Kind war, einen Antiquitätenladen. Und bei mir hat sich das jetzt eben auch so ergeben.“
„Da hatte bestimmt das Universum seine Hände im Spiel“, sagte Gina. „Denn das sorgt schon dafür, dass alles ins Lot kommt. Und dafür, dass Sie jetzt da sind, wo Sie hingehören.“
Lacey lächelte, denn diese Idee gefiel ihr.
„Wissen Sie schon, wo Sie Ihre Ware herbekommen werden?“, fragte Gina.
Ich hatte bisher beruflich mit dem Einrichten von Wohnungen und damit auch mit Antiquitäten zu tun“, erklärte Lacey. „Deshalb habe ich eine ellenlange Liste von Läden und viele Kontakte zu Leuten, die hier in Großbritannien mit Antiquitäten handeln. Das einzige, was mir noch fehlt, ist ein Auto, mit dem ich diese Kontakte abklappern und schauen kann, auf welche Art von Antiquitäten ich mich spezialisieren möchte. Ich werde aber bestimmt in Richtung Möbel und Inneneinrichtung gehen, denn damit kenne ich mich, wie gesagt, ganz gut aus.“
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