Aber während Herr Goljadkin dies alles sagte, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. Seine grauen Augen bekamen einen sonderbaren Glanz; seine Lippen fingen an zu zittern; alle Muskeln und Züge seines Gesichts bewegten und verschoben sich. Er selbst zitterte am ganzen Leibe. Nachdem er seinem ersten Impulse gefolgt war und dem Arzte den Arm festgehalten hatte, stand Herr Goljadkin jetzt unbeweglich da, wie wenn er kein Selbstvertrauen besäße und für seine weiteren Handlungen auf eine Eingebung wartete.
Nun spielte sich ein recht seltsamer Auftritt ab.
Etwas betroffen, schien Krestjan Iwanowitsch einen Augenblick an seinem Lehnstuhl angewachsen zu sein und blickte starr mit weit geöffneten Augen Herrn Goljadkin an, der ihn in gleicher Weise anschaute. Endlich stand Krestjan Iwanowitsch auf, wobei er sich ein wenig an dem Aufschlage von Herrn Goljadkins Uniform festhielt. Einige Sekunden lang standen sie so einander unbeweglich gegenüber, ohne die Augen voneinander abzuwenden. Dann aber erfolgte in höchst seltsamer Weise eine zweite Bewegung Herrn Goljadkins. Seine Lippen fingen an zu zucken, das Kinn begann zu hüpfen, und unser Held brach ganz unerwartet in Tränen aus. Schluchzend, mit dem Kopfe nickend, mit der rechten Hand sich gegen die Brust schlagend und mit der linken ebenfalls den Aufschlag von Krestjan Iwanowitschs Hausrock anfassend, wollte er etwas sagen, unverzüglich eine Erklärung geben, vermochte aber kein Wort herauszubringen. Endlich kam Krestjan Iwanowitsch von seinem Erstaunen wieder zu sich.
„Hören Sie auf, beruhigen Sie sich, setzen Sie sich!“ sagte er, indem er sich bemühte, Herrn Goljadkin dahin zu bringen, daß er auf einem Lehnstuhl Platz nahm.
„Ich habe Feinde, Krestjan Iwanowitsch, ich habe Feinde, ich habe boshafte Feinde, die geschworen haben, mich zugrunde zu richten …“ antwortete Herr Goljadkin ängstlich flüsternd.
„Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ach was, Feinde! An Feinde darf man nicht denken! Das darf man durchaus nicht! Setzen Sie sich, setzen Sie sich!“ fuhr Krestjan Iwanowitsch fort und erreichte es schließlich, daß Herr Goljadkin sich auf den Lehnstuhl setzte.
Als Herr Goljadkin endlich zum Sitzen gekommen war, verwandte er kein Auge von Krestjan Iwanowitsch. Dieser begann mit höchst unzufriedener Miene von einer Ecke seines Arbeitszimmers nach der andern zu gehen. Es folgte ein langes Stillschweigen.
„Ich bin Ihnen dankbar, Krestjan Iwanowitsch, sehr dankbar und empfinde tief alles, was Sie jetzt für mich getan haben. Bis zum Grabe werde ich Ihre Freundlichkeit nicht vergessen, Krestjan Iwanowitsch,“ sagte Herr Goljadkin endlich und stand mit gramvoller Miene vom Stuhle auf.
„Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ich sage Ihnen: lassen Sie es gut sein!“ erwiderte Krestjan Iwanowitsch ziemlich streng auf Herrn Goljadkins exaltierte Worte und brachte ihn noch einmal dazu, sich hinzusetzen.
„Also, was haben Sie eigentlich? Erzählen Sie mir, was Sie jetzt für eine Unannehmlichkeit haben, und von was für Feinden Sie sprechen,“ fuhr Krestjan Iwanowitsch fort. „Was ist Ihnen denn begegnet?“
„Nein, Krestjan Iwanowitsch, wir wollen das jetzt lieber lassen,“ versetzte Herr Goljadkin und schlug die Augen nieder. „Wir wollen das alles lieber auf eine andere Zeit verschieben, Krestjan Iwanowitsch, auf eine günstigere Zeit, wenn alles an den Tag kommen und die Maske manchen Leuten vom Gesichte fallen und dies und das an den Tag kommen wird. Jetzt aber, vorläufig selbstverständlich, nach allem, was zwischen uns geschehen ist … Da werden Sie selbst sagen müssen, Krestjan Iwanowitsch … Erlauben Sie mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, Krestjan Iwanowitsch,“ sagte Herr Goljadkin, erhob sich diesmal mit ernster Entschlossenheit von seinem Platze und griff nach seinem Hute.
„Nun … wie Sie wollen … hm …“ (Es folgte ein Stillschweigen, das wohl eine Minute dauerte.) „Ich meinerseits bin, wie Sie wissen, bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht … und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.“
„Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie; ich verstehe Sie jetzt vollkommen … In jedem Falle bitte ich Sie zu entschuldigen, daß ich Sie gestört habe, Krestjan Iwanowitsch.“
„Hm … nein, ich hatte es anders gemeint. Aber wie es Ihnen beliebt. Mit der Medizin fahren Sie fort, wie bisher …“
„Mit der Medizin werde ich nach Ihrer Weisung fortfahren, Krestjan Iwanowitsch; ich werde damit fortfahren und sie aus derselben Apotheke entnehmen … Heutzutage ist auch der Apothekerberuf etwas sehr Hohes und Großes, Krestjan Iwanowitsch …“
„Wieso? In welchem Sinne meinen Sie das?“
„Im ganz gewöhnlichen Sinne, Krestjan Iwanowitsch. Ich will sagen, daß sich heutzutage die Verhältnisse so gestaltet haben …“
„Hm …“
„Und daß jeder dumme Junge, auch ohne Apotheker zu sein, jetzt vor ordentlichen Leuten die Nase hoch trägt.“
„Hm! Wie ist denn das zu verstehen?“
„Ich rede von einem gewissen Menschen, Krestjan Iwanowitsch … von einem gemeinsamen Bekannten von uns, sagen wir mal z. B. von Wladimir Semjonowitsch …“
„Ach so! …“
„Ja, Krestjan Iwanowitsch; und ich kenne gewisse Leute, Krestjan Iwanowitsch, die auf die öffentliche Meinung nicht so viel Wert legen, daß sie auch manchmal die Wahrheit sagen sollten.“
„Ach so … Wie denn das?“
„Nun, ganz einfach so (übrigens gehört das nicht zur Sache): sie verstehen es, manchmal ein Ei mit Sauce zu servieren.“
„Was? Was zu servieren?“
„Ein Ei mit Sauce, Krestjan Iwanowitsch; das ist eine russische Redensart. Sie verstehen es z. B. manchmal, jemandem zur rechten Zeit zu gratulieren. Solche Leute gibt es, Krestjan Iwanowitsch.“
„Zu gratulieren?“
„Jawohl, zu gratulieren, Krestjan Iwanowitsch; wie es neulich einer meiner nächsten Bekannten gemacht hat! …“
„Einer Ihrer nächsten Bekannten … ach so! Wie ist denn das zugegangen?“ fragte Krestjan Iwanowitsch, der Herrn Goljadkin aufmerksam anblickte.
„Ja, einer meiner nächsten Bekannten gratulierte einem andern sehr nahen Bekannten von mir, der sogar mein Freund, ja, wie man sich ausdrückt, mein Busenfreund ist, zum Avancement, zur Erlangung des Assessorgrades. Das kam ihm gerade sehr gelegen. ‚Ich freue mich von ganzem Herzen über die Gelegenheit,‘ sagte er, ‚Ihnen meinen Glückwunsch darbringen zu können, Wladimir Semjonowitsch, meinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihrem Avancement. Und ich freue mich um so mehr, da heutzutage, wie jedermann weiß, die alten Hexen, die einem Übles anwünschen konnten, ausgerottet sind.‘“ Hier nickte Herr Goljadkin schlau mit dem Kopfe und blickte, die Augen zusammenkneifend, Krestjan Iwanowitsch an …
„Hm! Also das hat er gesagt …“
„Das hat er gesagt, Krestjan Iwanowitsch, das hat er gesagt, und dabei blickte er Andrei Filippowitsch, den Onkel unseres teuren Wladimir Semjonowitsch, an. Aber was kümmert mich das, daß er Assessor geworden ist, Krestjan Iwanowitsch? Was kümmert das mich? Er will heiraten, obwohl ihm, mit Erlaubnis zu sagen, die Milch noch nicht auf den Lippen getrocknet ist. Das habe ich denn auch gesagt. ‚So ist das,‘ habe ich gesagt, ‚Wladimir Semjonowitsch!‘ Nun habe ich aber alles gesagt; gestatten Sie mir, mich zu entfernen.“
„Hm …“
„Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich sage, gestatten Sie mir jetzt, mich zu entfernen. Aber um zwei Sperlinge mit einem Stein tot zu werfen, wandte ich mich, nachdem ich den jungen Mann mit seinen alten Hexen abgeführt hatte, an Klara Olsufjewna (die Geschichte spielte vorgestern bei Olsufi Iwanowitsch, und sie hatte soeben ein gefühlvolles Lied gesungen) und sagte: ‚Sie haben ein gefühlvolles Lied gesungen; aber Ihre Zuhörer haben kein reines Herz.‘ Das war eine deutliche Anspielung, verstehen Sie wohl, Krestjan Iwanowitsch; damit spielte ich deutlich darauf an, daß man es jetzt nicht auf sie absieht, sondern weiterliegende Ziele verfolgt …“
„Aha! Nun, und was tat er darauf?“ „Er machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, Krestjan Iwanowitsch, wie man zu sagen pflegt.“
„Hm …“
„Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. Ich sprach auch mit dem Alten selbst. ‚Olsufi Iwanowitsch,‘ sagte ich, ‚ich weiß, wie sehr ich Ihnen verpflichtet bin; ich verstehe vollkommen die Wohltaten zu schätzen, mit denen Sie mich fast seit meiner Kindheit überhäuft haben. Aber machen Sie die Augen auf,‘ sagte ich, ‚Olsufi Iwanowitsch! Passen Sie auf! Ich selbst handle ehrenhaft und offen, Olsufi Iwanowitsch.‘“
„Sehen Sie mal an!“
„Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. So ist das!“
„Und was sagte er darauf?“
„Ja, was sagte er, Krestjan Iwanowitsch! Er kaute so etwas zurecht; dies und das, und ‚ich kenne dich,‘ und daß Seine Exzellenz seine Freude daran habe, jemandem Gutes zu erweisen, – und nun kam er ins Salbaldern hinein … Was ist da auch zu erwarten? Er ist vor Alter ja schon ganz wacklig geworden, wie man zu sagen pflegt.“
„Aha! Also so steht das jetzt!“
„Ja, Krestjan Iwanowitsch; so steht es mit uns allen! Er ist ein schnurriger alter Mann: er sieht schon in seinen Sarg hinein und riecht nach Weihrauch, wie man zu sagen pflegt; aber wenn irgendein Weibergewäsch aufkommt, dann hört er darauf hin; da ist er mit Notwendigkeit dabei …“
„Weibergewäsch sagten Sie?“
„Ja, Krestjan Iwanowitsch, sie haben ein Weibergewäsch aufgebracht. Auch unser Bär und sein Neffe, unser teurer Freund, haben ihre Hände dabei im Spiele gehabt; sie haben mit den Weibern unter einer Decke gesteckt und die Sache zusammengebraut. Was glauben Sie: sie haben geplant, einen Menschen zu ermorden! …“
„Einen Menschen zu ermorden?“
„Jawohl, Krestjan Iwanowitsch, einen Menschen zu ermorden, im geistigen Sinne einen Menschen zu ermorden. Sie sprengten aus … ich rede immer von einem nahen Bekannten von mir …“
Krestjan Iwanowitsch nickte mit dem Kopfe.
„Sie sprengten über ihn ein Gerücht aus … Ich gestehe Ihnen, Krestjan Iwanowitsch, ich schäme mich ordentlich, davon zu reden.“
„Hm! …“
„Sie sprengten ein Gerücht aus, er habe bereits ein schriftliches Heiratsversprechen gegeben und sei bereits der Bräutigam einer anderen … Und was meinen Sie, Krestjan Iwanowitsch, wessen Bräutigam?“
„Ich bin gespannt.“
„Der Bräutigam einer Speisewirtin, einer unwürdigen Deutschen, bei der er zu Mittag aß; statt der Bezahlung seiner Schulden habe er ihr seine Hand angeboten.“
„Das sagen sie?“
„Sollten Sie es glauben, Krestjan Iwanowitsch? Eine Deutsche, eine gemeine, widerwärtige, schamlose Deutsche, Karolina Iwanowna, wenn Sie sie kennen …“
„Ich muß gestehen, ich für meine Person …“
„Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie und habe meinerseits die gleiche Empfindung …“
„Sagen Sie mir, bitte, wo wohnen Sie jetzt?“
„Wo ich jetzt wohne, Krestjan Iwanowitsch?“
„Ja … ich möchte … Sie wohnten ja wohl früher …“
„Ja freilich, ich wohnte, Krestjan Iwanowitsch, ich wohnte, ich wohnte auch früher! Wie soll ich denn nicht gewohnt haben!“ antwortete Herr Goljadkin und begleitete seine Worte mit einem kurzen Lachen; er verblüffte Krestjan Iwanowitsch ein wenig durch seine Antwort.
„Nein, das haben Sie falsch aufgefaßt; ich wollte meinerseits …“
„Ich wollte ebenfalls meinerseits, Krestjan Iwanowitsch, ich wollte ebenfalls,“ fuhr Herr Goljadkin lachend fort. „Aber ich habe bei Ihnen schon viel zu lange gesessen, Krestjan Iwanowitsch. Ich hoffe, Sie erlauben mir jetzt, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen …“
„Hm! …“
„Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie, ich verstehe Sie jetzt völlig,“ sagte unser Held und nahm vor Krestjan Iwanowitsch eine etwas theatralische Stellung an. „Also erlauben Sie, daß ich Ihnen einen guten Morgen wünsche …“
Hier machte unser Held einen Scharrfuß und verließ das Zimmer, in welchem Krestjan Iwanowitsch höchlichst erstaunt zurückblieb. Während Herr Goljadkin die Treppe des Arztes hinabstieg, lächelte er und rieb sich vergnügt die Hände. Als er vor der Haustür die frische Luft einatmete und sich in Freiheit fühlte, war er wirklich nahe daran, sich für den glücklichsten aller Sterblichen zu halten und sich nun geradeswegs nach seinem Bureau zu begeben – da fuhr auf einmal rasselnd eine Kutsche vor: er sah sie an, und alles fiel ihm wieder ein. Petruschka öffnete schon den Schlag. Ein sonderbares und außerordentlich unangenehmes Gefühl bemächtigte sich Herrn Goljadkins völlig. Er errötete sogar für einen Augenblick. Es war ihm, als ob er einen Stich bekäme. Er wollte schon seinen Fuß auf den Wagentritt setzen, als er sich auf einmal umdrehte und nach Krestjan Iwanowitschs Fenstern blickte. Richtig! Krestjan Iwanowitsch stand am Fenster, strich sich mit der rechten Hand den Backenbart glatt und schaute sehr neugierig auf unsern Helden herab.
„Dieser Doktor ist dumm,“ dachte Herr Goljadkin, sich in seinem Wagen verbergend, „schrecklich dumm. Er mag vielleicht seine Kranken gut kurieren können; aber trotzdem ist er dumm wie ein Stück Holz.“ Herr Goljadkin setzte sich hin, Petruschka rief: „Vorwärts!“ und der Wagen rollte wieder nach dem Newski-Prospekt hin.
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