Читать книгу «Жизнь взаймы / Der Himmel kennt keine Günstlinge» онлайн полностью📖 — Эрих Марии Ремарк — MyBook.

3

Als Clerfayt erwachte, sah er einen bewölkten Himmel und hörte den Wind.

»Föhn«, sagte der Kellner. »Der warme Wind, der müde macht. Man fühlt ihn immer schon vorher in den Knochen. Die Bruchstellen[16] schmerzen.«

»Sind Sie Skiläufer?«

»Nein«, sagte der Kellner. »Ich habe nur noch einen Fuß. Aber Sie glauben nicht, wie der, der mir fehlt, bei diesem Wetter weh tut.«

Clerfayt beschloß, das Skilaufen zu verschieben. Er war ohnehin noch müde.Er hatte auch Kopfschmerzen. Der Kognak gestern nacht, dachte er. Warum hatte er weitergetrunken, nachdem er das sonderbare Mädchen mit seiner Mischung aus Weltschmerz und Lebensgier zum Sanatorium gebracht hatte? Merkwürdige Menschen hier oben. Ich war auch einmal so ähnlich, dachte er. Vor tausend Jahren. Habe mich gründlich geändert. Und was kam noch? Wie lange konnte er noch Rennen fahren? Was erwartete ihn noch?

Der Weltschmerz steckt an, dachte er und stand auf. Mitte des Lebens, ohne Ziel und ohne Halt. Er zog seinen Mantel an und entdeckte darin einen schwarzen Samthandschuh. Er hatte ihn gestern auf dem Tisch gefunden, als er allein in die Bar zurückgekommen war. Lillian Dunkerque mußte ihn vergessen haben. Er steckte ihn in die Tasche, um ihn später im Sanatorium abzugeben.

Er war eine Stunde durch den Schnee gegangen, als er, ein kleines Gebäude entdeckte. Er blieb stehen. »Was ist denn das da?« fragte er einen jungen Jungen, der vor einem Laden Schnee wegschaufelte. »Das Krematorium, mein Herr.«

Clerfayt hatte sich also nicht geirrt.

»Hier?« sagte er. »Wozu habt ihr denn hier ein Krematorium?«

»Für die Hospitäler natürlich. Die Toten.«

»Dazu brauchen sie ein Krematorium? Sterben denn so viele?«

»Jetzt nicht mehr so viele, mein Herr. Aber früher gab es hier viele Tote. Wir haben hier lange Winter. Ein Krematorium ist da viel praktischer. Wir haben unseres hier schon fast dreißig Jahre.«

»Es ist auch billiger. Die Leute wollen jetzt nicht mehr so viel Geld ausgeben für den Leichentransport. Früher war das anders.«

»Das glaube ich.«

»Mein Vater war ein Leichenbegleiter«, sagte der Bursche.

»Und dann kam das Krematorium. Anfangs war es nur für

Leute ohne Religion, aber jetzt ist es sehr modern geworden.«

»Das ist es«, bestätigte Clerfayt. »Nicht nur hier.«

Der Bursche nickte. »Die Leute haben keinen Respekt mehr vor dem Tode, sagte mein Vater. Die beiden Weltkriege haben das verursacht; es sind zu viele Menschen umgekommen. Immer gleich Millionen. Das hat seinen Beruf ruiniert, sagt mein Vater.«

»Was macht Ihr Vater jetzt?«

»Jetzt haben wir das Blumengeschäft hier.« Der Bursche zeigte auf den Laden, vor dem sie standen. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, mein Herr, wir sind billiger als die Räuber im Dorf. Und wir haben manchmal herrliche Sachen. Gerade heute morgen ist eine frische Sendung gekommen. Brauchen Sie nichts?«

Clerfayt dachte nach. Blumen? Warum nicht? Er trat in den Laden.

Clerfayt sah eine Vase mit weißem Flieder und einen langen Zweig flacher, weißer Orchideen. »Sehr frisch!« sagte der kleine Mann. »Heute erst angekommen. Hält sich mindestens drei Wochen. Es ist eine seltene Art.«

»Sind Sie Orchideenkenner?«

»Ja, mein Herr. Ich habe viele Sorten gesehen. Auch im Ausland.«

»Packen Sie es ein«, sagte er und zog den schwarzen Samthandschuh Lillians aus der Tasche. »Legen Sie dies dazu. Haben Sie einen Briefumschlag und eine Karte?«

Er ging zurück zum Dorf.

Er trat in eine Kneipe. »Einen doppelten Kirsch.«

»Nehmen Sie einen Pflümli«, sagte der Wirt. »Wir haben einen ganz hervorragenden.«

»Gut. Geben Sie mir einen doppelten.«

Der Wirt schenkte das Glas bis zum Rande voll. Clerfayt trank es leer.

»Geben Sie mir noch einen«

Er ging zur Garage, um nach Giuseppe zu sehen. Der Wagen stand in dem großen, dämmerigen Raum ziemlich weit hinten, mit dem Kühler zur Wand.

Clerfayt blieb am Eingang stehen. Er sah im Halbdunkel jemand am Steuer sitzen. »Spielen Ihre Lehrlinge hier Rennfahrer?« fragte er den Besitzer der Garage, der mit ihm gekommen war.

»Das ist kein Lehrling. Er sagt, er wäre ein Freund von Ihnen.« Clerfayt sah schärfer hin und erkannte Hollmann.

»Stimmt das nicht?« fragte der Besitzer.

»Doch, es stimmt. Wie lange ist er schon hier?«

»Noch nicht lange. Fünf Minuten.«

»Ist er das erste Mal hier?«

»Nein; er war heute morgen schon einmal da – aber nur für einen Augenblick.«

Hollmann saß mit dem Rücken zu Clerfayt am Steuer Giuseppes. Es war ohne Zweifel, daß er in seiner Phantasie ein Rennen fuhr. Clerfayt überlegte einen Augenblick, dann ging er hinaus.

»Verraten Sie nicht, daß ich ihn gesehen habe«, sagte er.

Der Mann nickte ohne Neugier.

»Lassen Sie ihn mit dem Wagen machen, was er will. Hier –« Clerfayt zog den Autoschlüssel aus der Tasche. »Geben sie ihm den Schlüssel, wenn er danach fragt. Wenn er nicht fragt, stecken Sie ihn in die Zündung, wenn er fortgegangen ist. Für das nächste Mal. Natürlich, ohne die Zündung einzuschalten. Sie verstehen?«

»Ich soll ihn machen lassen, was er will? Auch mit dem Schlüssel?« »Auch mit dem Wagen«, sagte Clerfayt.

Er traf Hollmann beim Mittagessen im Sanatorium. Hollmann sah müde aus. »Föhn«, sagte er. »Jeder fühlt sich bei dem Wetter schlecht. Und du?«

»Normaler Katzenjammer. Zuviel getrunken.« [17]

»Mit Lillian?«

»Nachher. Hier oben merkt man es nicht, während man trinkt – dafür aber am nächsten Morgen.«

Clerfayt sah sich im Speisesaal um. Es waren nicht viele Leute da. Die Südamerikaner saßen in ihrer Ecke. Lillian fehlte. »Bei diesem Wetter bleiben die meisten im Bett«, sagte Hollmann.

»Warst du schon draußen?«

»Nein. Hast du von Ferrer gehört?«

»Er ist tot.«

Sie schwiegen eine Weile.»Was machst du heute nachmittag?« fragte Hollmann.

»Schlafen und herumlaufen. Kümmere dich nicht um mich. Ich bin froh, an einem Platz zu sein, wo es außer Giuseppe fast kein Auto gibt.« Die Tür öffnete sich. Boris Wolkow sah herein. Er kam nicht in das Zimmer, sondern schloß die Tür sofort wieder. »Er sucht Lillian«, sagte Hollmann.

Clerfayt stand auf. »Ich gehe schlafen. Die Luft hier macht müde, du hast recht. Kannst du heute abend aufbleiben? Hier, zum Essen?«

»Natürlich. Ich habe heute kein Fieber.«

»Also bis acht.«

»Heute abend ist Budenzauber hier bei einer Italienerin, Maria Savini. Heimlich natürlich.«

»Gehst du hin?«

Hollmann sagte »Ich habe keine Lust. Diese Art von Budenzauber wird immer gemacht, wenn einer gestorben ist. Man trinkt und redet sich dann neue Courage an.«

»Also eine Art von Leichenschmaus?« [18]

»Ja, so ähnlich. Bis heute abend, Clerfayt.«

Der Husten hatte aufgehört. Lillian Dunkerque legte sich erschöpft zurück. Die wöchentliche Röntgendurchleuchtung war obligatorisch.

Sie hasste die Intimität des Röntgenraumes. Sie hasste es, mit nacktem Oberkörper dazustehen. Es irritierte sie nicht so sehr, daß sie nackt war; es irritierte sie, daß sie mehr als nackt war, wenn sie an den Schirm trat. Sie war dann nackt unter der Haut, nackt bis auf die Knochen.

Die Schwester kam. »Wer ist vor mir?« fragte Lillian.

»Fräulein Savini.«

Lillian folgte der Schwester zum Aufzug. Sie sah durch das Fenster den grauen Tag. »Ist es kalt?« fragte sie.

»Nein. Vier Grad.«

Der Frühling wird bald da sein, dachte sie. Der kranke Wind, der Föhn, das nasse Wetter, die schwere Luft. Maria Savini kam aus dem Röntgenkabinett. Sie schüttelte ihr schwarzes Haar zurecht. »Wie war es?« fragte Lillian.

»Er sagt nichts. Ist schlechter Laune.Kommst du heute abend zu mir rüber?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Fräulein Dunkerque, der Professor wartet«, mahnte die Schwester aus der Tür.

»Komm!« sagte Maria. »Die andern kommen auch! Ich habe neue Platten aus Amerika. Phantastisch!«

Lillian trat in das halbdunkle Kabinett. »Endlich!« sagte der Dalai

Lama.

Die Schwester reicht ihm die Fieberkarte. Er studierte sie und flüsterte mit dem Assistenzarzt. »Licht aus!« sagte der Dalai Lama schließlich. »Bitte nach rechts – nach links – noch einmal –«

Die Untersuchung dauerte länger als gewöhnlich. »Zeigen Sie mir noch einmal das Krankenblatt«, sagte der Dalai Lama.

Die Schwester machte das Licht an. Lillian stand neben dem Schirm und wartete. »Sie hatten zwei Rippenfellentzündungen?« fragte der Dalai Lama.

Lillian antwortete nicht sofort. Wozu fragte er? Es stand ja im Krankenblatt. »Stimmt es, Fräulein Dunkerque?« wiederholte der Professor.

»Ja.«

»Sie können ins Zimmer nebenan gehen.«

Lillian folgte der Schwester. »Was ist es?« flüsterte sie. »Flüssigkeit?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Vielleicht die Temperaturschwankungen«

»Aber das hat doch nichts mit meinen Lungen zu tun! Es ist nur die Aufregung! Miss Somervilles Abreise! Der Föhn! Ich bin doch negativ! Ich bin doch nicht positiv! Oder doch?«

»Nein, nein. Kommen Sie, legen Sie sich hin! Sie müssen fertig sein, wenn der Professor kommt.«

Die Schwester rückte die Maschine heran. Es nützt nichts, dachte Lillian. Für Wochen habe ich nun alles getan, was sie wollten, und anstatt besser ist es sicher wieder schlechter geworden. Daß ich gestern ausgerissen bin, kann nicht der Grund sein. Was will er jetzt mit mir machen? Der Professor kam herein. »Ich habe kein Fieber«, sagte Lillian. »Es ist nur etwas Aufregung. Schon seit einer Woche habe ich kein Fieber mehr, und vorher hatte ich es auch nur, wenn ich aufgeregt war.«

Der Dalai Lama setzte sich neben sie und fühlte nach einem Punkt für die Spritze. »Bleiben Sie für die nächsten Tage im Zimmer.«

»Ich kann nicht immer im Bett bleiben.Es macht mich verrückt.«

»Sie brauchen nur im Zimmer zu bleiben. Heute im Bett.«

In ihrem Zimmer holte Lillian die Flasche Wodka und goß ein Glas ein.

Die Schwester mußte jeden Augenblick mit ihrem Abendessen kommen, und sie wollte heute nicht beim Trinken erwischt werden.

Ich bin noch nicht zu dünn, dachte sie und stellte sich vor den Spiegel. Ich habe ein halbes Pfund zugenommen. Eine große Leistung. Sie trank sich ironisch zu und versteckte die Flasche wieder. Von draußen hörte sie jetzt den Wagen mit ihrem Essen. Sie griff nach einem Kleid.

»Ziehen Sie sich an?« fragte die Schwester. »Sie dürfen doch nicht hinaus.«

»Ich ziehe mich an, weil ich mich dann besser fühle.« Die Schwester schüttelte den Kopf.

»Hier ist ein Paket für Sie. Es sieht aus wie Blumen.«

Boris, dachte Lillian und nahm den weißen Karton.

»Wollen Sie es nicht aufmachen?« fragte die Schwester neugierig.

»Später.«

Die Schwester ging endlich. Lillian öffnete den weißen Karton mit der blauen Seidenschleife.

Sie schlug das Seidenpapier auseinander und ließ den Karton im gleichen Augenblick fallen.

Sie starrte auf die Orchideen am Boden. Sie kannte die Blumen. Sie hatte sie aus Zürich kommen lassen. Es war kein Zweifel mehr möglich – die Blumen, die auf dem Teppich vor ihr lagen, waren dieselben, die sie auf den Sarg Agnes Somervilles gelegt hatte.

Rasch öffnete sie die Tür zu ihrem Balkon und warf die Blumen über den Balkon nach draußen. Sie sah den Handschuh auf dem Boden. Sie erkannte ihn jetzt und erinnerte sich, ihn getragen zu haben, als sie mit Clerfayt in der Palace Bar gewesen war. Clerfayt, dachte sie, was hatte er damit zu tun? Sie mußte es erfahren! Sofort!

Es dauerte eine Weile, bevor er zum Telefon kam.

»Haben Sie mir meinen Handschuh zurückgeschickt?« fragte sie.

»Ja. Sie hatten ihn in der Bar vergessen.«

»Sind die Blumen auch von Ihnen? Die Orchideen?«

»Ja. Haben sie meine Karte nicht bekommen?«

»Ihre Karte?«

»Haben Sie sie nicht gefunden?«

»Nein!« Lillian schluckte. »Noch nicht. Woher haben Sie die Blumen?«

»Aus einem Blumengeschäft«, erwiderte Clerfayt erstaunt. »Warum?«

»Hier im Dorf?«

»Ja, aber warum? Sind sie gestohlen?«

»Nein. Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht«

Lillian schwieg.

»Soll ich hinaufkommen?« fragte Clerfayt.

»Ja.«

»Wann?«

»In einer Stunde; dann ist es hier still.«

»Gut, in einer Stunde. Am Dienstboteneingang?«

»Ja.«

Lillian legte den Hörer zurück. Gott sei Dank, dachte sie, da war jemand, dem man nichts zu erklären brauchte.

Clerfayt stand an der Seitentür. »Können Sie keine Orchideen leiden?« fragte er und zeigte auf den Schnee.

Die Blumen und der Karton lagen noch da. »Woher haben Sie sie?« fragte Lillian.

»Aus einem kleinen Blumengeschäft unten – etwas außerhalb des Dorfes. Warum? Sind sie verhext?«

»Diese Blumen – dieselben Blumen«, sagte Lillian mit Mühe, »habe ich gestern auf den Sarg meiner Freundin gelegt. Alles ist zum Krematorium geschickt worden. Ich weiß nicht, wie…«

»Zum Krematorium?« fragte Clerfayt.

»Ja.«

»Guter Gott! Das Geschäft, in dem ich die Blumen gekauft habe, liegt nicht weit vom Krematorium. Es ist ein kleiner Laden, und ich habe mich schon gewundert, woher die Blumen kamen. Das erklärt es!«

»Was?«

»Ein Angestellter des Krematoriums muß sie, anstatt sie mit zu verbrennen, weggenommen und an den Laden verkauft haben.«

Sie starrte ihn an. »Ist so etwas denn möglich?«

»Warum nicht? Blumen sind Blumen.«

Clerfayt nahm Lillians Arm. »Was wollen wir tun? Einen Schock bekommen oder über den Geschäftsgeist der Menschheit lachen? Ich schlage vor, wir lachen.«

Lillian sah auf die Blumen. »Ekelhaft«, flüsterte sie. »Von einer Toten zu stehlen.«

»Nicht mehr und nicht weniger ekelhaft als vieles andere«, erwiderte Clerfayt. »Ich hätte auch nie gedacht, daß ich einmal Leichen nach Zigaretten und Brot durchsuchen würde und habe es doch getan. Im Kriege. Es ist anfangs scheußlich; aber man gewöhnt sich daran, besonders wenn man sehr hungrig ist und lange nicht geraucht hat. Kommen Sie, wir gehen etwas trinken.«

Sie blickte immer noch auf die Blumen. »Sollen sie da liegen bleiben?«

»Natürlich. Sie haben nichts mehr mit Ihnen, nichts mit der Toten und nichts mit mir zu tun. Ich schicke Ihnen morgen neue. Aus einem anderen Geschäft.«

Der Schlitten hielt. Vor dem Eingang zum Hotel lagen Bretter über dem feuchten Schnee. Lillian stieg aus.

Er folgte ihr. Worin lasse ich mich da ein? dachte er. Und mit wem? Immerhin, es war etwas anderes, als Lydia Morelli, mit der er vor einer Stunde ein Telefongespräch aus Rom gehabt hatte. Lydia Morelli, die jeden Trick kannte und keinen vergaß.

Er holte Lillian an der Tür ein. »Heute abend«, sagte er, »wollen wir einmal über nichts anderes reden als über die oberflächlichsten[19] Dinge der Welt.« Eine Stunde später war die Bar gepackt voll. Lillian blickte zur Tür.

»Da kommt Boris«, sagte sie. »Ich hätte es mir denken sollen.«

Clerfayt hatte den Russen bereits gesehen. Er ignorierte Clerfayt. »Dein Schlitten wartet draußen, Lillian«, sagte er.

»Schick den Schlitten weg, Boris«, erwiderte sie. »Ich brauche ihn nicht. Das ist Herr Clerfayt. Du bist ihm schon einmal begegnet.«

»Wirklich?« sagte Wolkow. »Oh, in der Tat! Bitte, verzeihen Sie.« Er sah knapp an Clerfayt vorbei. »In dem Sportwagen, der die Pferde scheu machte, nicht wahr?«

Clerfayt spürte den versteckten Hohn[20]. Er antwortete nicht und blieb stehen. »Du hast wahrscheinlich vergessen, daß morgen noch einmal Röntgenaufnahmen gemacht werden sollen«, sagte Wolkow zu Lillian.

»Ich habe es nicht vergessen, Boris.«

»Du mußt ausgeruht sein und geschlafen haben.«

»Ich weiß das. Ich habe noch Zeit dazu.«

Sie sprach langsam, wie man zu einem Kind spricht, das einen nicht versteht.

»Ich muß noch auf jemand warten«, sagte er zu Lillian. »Wenn du inzwischen den Schlitten –«

»Nein, Boris! Ich will noch bleiben.«

Clerfayt hatte jetzt genug. »Ich habe Miss Dunkerque hierher begleitet«, sagte er ruhig. »Und ich glaube fähig zu sein, sie wieder zurückzubringen.«

Wolkow sah ihn rasch an. Sein Gesicht veränderte sich. Dann faßte er sich und ging zur Bar.

Clerfayt setzte sich. Er war nicht mit sich zufrieden. Was tue ich da? dachte er. Ich bin doch nicht mehr zwanzig Jahre alt! »Warum gehen Sie nicht zurück mit ihm?« fragte er mißmutig.

»Wollen Sie mich loswerden?«

Er sah sie an. Sie schien hilflos zu sein, aber er wußte, daß Hilflosigkeit das Gefährlichste war, was es bei einer Frau gab – denn keine Frau war wirklich hilflos.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Bleiben wir also!«

Sie blickte zur Bar hinüber. »Er geht nicht«, flüsterte sie. »Er bewacht mich. Er glaubt, daß ich nachgeben werde.«

Clerfayt nahm die Flasche und füllte die Gläser. »Gut. Lassen wir es also darauf ankommen, wer zuerst müde wird.«

»Sie verstehen ihn nicht«, erwiderte Lillian scharf.

»Er ist nicht eifersüchtig.«

»Nein?«

»Nein. Er ist unglücklich und krank und sorgt sich um mich. Es ist leicht, überlegen zu sein, wenn man gesund ist.«

Clerfayt stellte die Flasche zurück. Diese loyale, kleine Bestie! »Möglich«, sagte er gleichmütig. »Aber ist es ein Verbrechen, gesund zu sein?« Sie wandte sich ihm zu. »Natürlich nicht«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, was ich rede. Es ist besser, ich gehe.«

Sie griff nach ihrer Tasche, aber sie stand nicht auf.

* * *

Clerfayt hatte von ihr genug, aber er hätte sie um nichts in der Welt gehen lassen, solange Wolkow noch an der Bar stand und auf sie wartete »Sie brauchen mit mir nicht besonders vorsichtig zu sein«, sagte er. »Ich bin nicht sehr empfindlich.«

»Hier ist jeder empfindlich.«

»Ich bin nicht von hier.«

»Ja.« Lillian lächelte plötzlich. »Das ist es wohl!«

»Was?«

»Das, was uns irritiert. Verstehen Sie das nicht? Sogar Hollmann, Ihren Freund.«

»Das ist möglich«, erwiderte Clerfayt überrascht.

»Ich hätte wahrscheinlich nicht kommen sollen. Irritiere ich Wolkow auch?«

»Haben Sie das nicht bemerkt?«

»Möglich. Warum gibt er sich aber dann soviel Mühe, es mich merken zu lassen?«

»Er geht«, sagte Lillian.

Clerfayt sah es. »Und Sie?« fragte er. »Sollten Sie nicht auch besser im Sanatorium sein?«

»Wer weiß das? Der Dalai Lama? Ich? Das Krokodil? Gott?«

Sie nahm ihr Glas. »Und wer ist verantwortlich? Wer? Ich? Gott? Und wer für wen? Kommen Sie, wir wollen tanzen?«

Clerfayt blieb sitzen. Sie starrte ihn an. »Haben Sie auch Angst für mich? Meinen Sie auch, ich sollte –«

»Ich meine gar nichts«, erwiderte Clerfayt. »Ich kann nur nicht tanzen; aber wenn Sie wollen, können wir es versuchen.«

Sie gingen zur Tanzfläche.